Unter Plastik, neben Trümmern |
![]() |
![]() |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 25.11.2010
Zehn Monate nach dem Erdbeben in Haiti haben sich die Menschen
mit dem kargen Leben in Zelten arrangiert - von Wiederaufbau gibt es
keine Spur
PORT-AU-PRINCE. Der blütenweiße Nationalpalast liegt da wie ein zerquetschtes riesiges Insekt. Die Straßen im Zentrum scheinen gerade einen Bombenangriff hinter sich zu haben. Der Schutt ist erst zu einem geringen Teil abgeräumt. Magere Ziegen und fette schwarze karibische Schweine schnüffeln im kniehohen Müll, der die staubigen Straßen säumt und unter der tropischen Hitze dahinfault. Männer hämmern an Eisen und flicken Gummireifen, Frauen verkaufen gebratene Bananen und schwarzen Reis, bieten Zwiebeln an und Mangos, Avocados, Papayas. Und überall wird Wasser verkauft, sauberes Trinkwasser, in Zeiten der Cholera abgepackt in kleine Plastiktüten. Zehn Monate nach dem Erdbeben in Haiti, das eine Viertelmillion Tote hinterließ, haben sich die Menschen in Port-au-Prince mit Schutt, Staub und Dreck längst arrangiert. Am
12. Januar dieses Jahres spätnachmittags stürzte auch das Haus von
Carline Brunach ein. Jetzt sitzt sie in ihrem Zelt auf dem Champ de
Mars, dem großen Platz vor dem Nationalpalast, dem einstigen Sitz des
Präsidenten. 484 Familien, vielleicht 3000 Personen, haben sich hier
niedergelassen. Sie teilen sich 50 Toiletten. Hilfsorganisationen
versorgen das Camp mit Trinkwasser, Chlor und Seife. Die Angst vor der
Cholera ist allgegenwärtig. "Es ist eng hier", sagt Carline, "aber das
war es in der alten Wohnung auch." In einem Raum des Zeltes schläft sie
mit ihrem Mann und den vier Kindern, im anderen, dem kleineren, steht
ein blank geputztes rotes Motorrad. Es wird gehütet wie ein Augapfel. Es
ist die einzige Einkommensquelle der Familie. Carlines Mann ist
Mototaxi-Chauffeur. Schon vor dem großen Beben waren die mit tiefen
Löchern übersäten Straßen der Hauptstadt verstopft. Seit sie an vielen
Stellen durch den Schutt der zerstörten Häuser noch schmaler geworden
sind, kommt der Autoverkehr noch öfter zum Erliegen. Da steigen viele
auf das wendigere Mototaxi um. "Am Anfang war die spontane
Solidarität riesig, jeder half jedem", berichtet Carline, "aber
inzwischen hat sich alles normalisiert." Zur Normalität gehören
Diebstahl, Prostitution und Gewalt. "Im Lager sind schon viele Mädchen
vergewaltigt worden", sagt sie, "von bewaffneten Jugendbanden." -
"Weshalb zeigen Sie sie nicht bei der Polizei an?" Die Frage nötigt ihr
nur ein gequältes Lächeln ab. Der Polizei traut hier niemand, und der
Justiz erst recht nicht. Wahrscheinlich hat Carline auch Angst vor
Repressalien der Banden. Und wie sieht sie ihre Zukunft? "Wir bleiben
wohl hier", sagt sie, "wohin sollen wir denn?" Einige sind gegangen - in
andere Lager, zu Familien auf dem Land. Seither ist ein reger Handel
mit den Zelten entstanden, die Hilfsorganisationen geschenkt haben.
Umgerechnet 30 Euro kostet eines , für viele das Einkommen eines Monats. Neue
Slums Nach offiziellen Angaben leben etwa 1,6Millionen Menschen
unter Plastik, die allermeisten im Großraum Port-au-Prince. In der
Hauptstadt begegnet man den Zelten buchstäblich auf Schritt und Tritt.
Sie wurden in Gärten, Hinterhöfen, Ruinen, manchmal auch auf den Dächern
oder auf dem Bürgersteig aufgeschlagen - im Zentrum wie in den
Außenvierteln, in den Slums wie in den reicheren Wohngegenden. Drei
Viertel aber wohnen in einem der 460 Zeltlager, wo sich einige schon
ihre Hütte mit Wellblech und Holz gezimmert haben. "Hier entstehen
neue Slums, die bleiben werden, wenn nichts geschieht", prophezeit
Arnold Antonin. Der 68-jährige Filmregisseur und Bürgerrechtler rief
noch am Tag des Bebens sein Team zusammen und begann sofort mit der
Arbeit. Im kleinen Vorführraum seines Büros in Pétion-Ville oberhalb von
Port-au-Prince schiebt er eine DVD in den Recorder. "Chronik einer
angekündigten Katastrophe" heißt das Dokument mit herzzerreißenden und
anklagenden Szenen. Ein Jahr vor der Tragödie hatte Antonin öffentlich
vor den Konsequenzen eines Erdbebens gewarnt. Einen Monat vor der
Katastrophe war eine Schule eingestürzt und hatte hundert Schüler und
Lehrer unter sich begraben. Kurz danach krachte eine Kirche in sich
zusammen. Die Regierung tat nichts, traf keine Vorsorge. Sie tat
auch nach der großen Katastrophe nichts. Während die Überlebenden die
Verschütteten zu bergen versuchten, sich gegenseitig mit Nahrung, Decken
und Wasser aushalfen, jammerte Präsident Préval, dessen Residenz
eingestürzt war, er wisse nicht, wo er die nächste Nacht verbringen
solle. Ja, so ging es anderthalb Millionen Haitianern! Einen Monat hat
es gedauert, bis René Préval seine erste Ansprache an die Nation hielt.
"Hätte er noch am Tag des Erdbebens wie Churchill nach der Bombardierung
Londons beherzt die Leute mobilisiert und zur Zusammenarbeit bei der
Bewältigung einer großen nationalen Aufgabe aufgerufen, hätte er vieles
bewirken können", sagt Antonin, "aber er hat diese Chance verpasst." Von
Wiederaufbau ist zehn Monate nach dem Beben nichts zu sehen und nichts
zu spüren. Dafür wird Préval bei den Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen am Sonntag seine Quittung erhalten. Sein Kandidat, Jude
Célestin, den die Regierungspartei in letzter Minute aus dem Hut
gezaubert hat - eine Wiederwahl Prévals lässt die Verfassung nicht zu -,
wird wohl durchfallen. Die besten Chancen hat die
Oppositionspolitikerin Mirlande Manigat, Ehefrau von Leslie Manigat, der
1988 zum Präsidenten gewählt, aber kurz nach Amtsantritt von den
Militärs gestürzt wurde. Eigeninitiative unerwünscht Acht
Milliarden Euro stellten die Geberländer im März auf ihrer Konferenz in
New York Haiti für die nächsten fünf Jahre in Aussicht, die Hälfte davon
soll bis Ende 2011 fließen. "Aber es gibt keinen Masterplan für den
Wiederaufbau", klagt Antonin, der ein Jahr vor dem Erdbeben eine
"Bewegung für ein schönes Haiti" gründete. Die Initiative, der 120
Komitees, Vereine und Organisationen angehören, schrieb Préval sowie
Bill Clinton und dem haitianischen Ministerpräsidenten Jean-Max
Bellerive einen offenen Brief. Clinton und Bellerive sind Ko-Präsidenten
des Interimskomitees für den Wiederaufbau Haitis, das über die
Verwendung der Hilfsgelder entscheidet. In ihrem Schreiben skizzierte
die Initiative ihre Vorstellungen für den Wiederaufbau: Nicht die
repräsentativen Prachtbauten in der Hauptstadt müssten vorrangig
wiederaufgebaut werden; vor allem müsste viel Wohnraum in den zerstörten
Städten der Provinzen geschaffen werden. Wenn dort gleichzeitig an
wichtigen landwirtschaftlichen, industriellen oder touristischen Orten
gezielt Arbeitsplätze geschaffen würden, könnte dies einen Sog auslösen,
der viele Menschen bewegen würde, in die Provinz zu ziehen, wodurch
dort weitere Arbeitsplätze geschaffen würden. So könnte eine
Dezentralisierung eingeleitet werden, wie sie alle Entwicklungsexperten
und auch die Regierung selbst für notwendig erachten. Weder Préval noch
Clinton noch Bellerive antworteten. "Zivilgesellschaftliche
Initiative ist offenbar nicht erwünscht", stellt die argentinische
Architektin Beatriz Corbanese fest, die seit mehr als 20 Jahren im Land
lebt und sich ein autonomes Institut für den Wiederaufbau wünscht, in
dem Stadtforscher, Ingenieure, Geologen, Soziologen und Architekten
einen Masterplan erarbeiten. Stattdessen Stückwerk. Jedes Ministerium
formuliert Projekte und holt sich Gelder. Frankreichs Präsident Nicolas
Sarkozy sorgt sich um den Wiederaufbau des Nationalpalastes. Mit der
Ausarbeitung eines Plans für die Rekonstruktion des historischen
Zentrums der Stadt wurde die britische Prinz-Charles-Stiftung
beauftragt. Als ob Haiti selbst keine Fachkräfte hätte. Zum
Beispiel Karin Jadotte Bouchereau. "Bevor wir aufbauen, sollten wir erst
mal räumen", sagt die Architektin und Stadtforscherin, "aber es ist ja
noch nicht mal geklärt, wohin der Schutt soll. Und inzwischen reißen die
Menschen das Eisen aus den eingestürzten Mauern, mixen aus dem Schutt
neuen Zement und bauen aus schlechtem Material neue Häuser, die beim
nächsten Erdbeben noch schneller einstürzen. Der helle Wahn." Es
werde sehr schwer, die Menschen aus ihren Zelten zu holen, sagt Jadotte.
Zwei Drittel der Lagerbewohner hätten früher zur Miete gewohnt, für das
Zelt zahlten sie jedoch nichts. Zudem: Wer sich auf dem Champ de Mars
niedergelassen hat, kann auf den Märkten und in den Läden der
unmittelbaren Umgebung eher Gelegenheitsarbeiten finden als im
Außenviertel und erspart sich auch noch die Kosten für die Anreise ins
Zentrum. Und was den Komfort betrifft: Auch in den eingestürzten
Vierteln gab es in der Regel keine Toiletten, nur Gemeinschaftslatrinen -
wie im Zeltlager auch. "Viele, die sich auf dem Champ de Mars
niedergelassen haben", vermutet Jadotte, "spekulieren darauf, dass man
ihnen schon bald eine Wohnung anbieten wird, um den Park im Zentrum der
Stadt zeltfrei zu kriegen." Oft würden Familien auseinanderziehen und
sich auf mehrere Lager verteilen, um die Chancen auf eine eigene Wohnung
zu erhöhen. Einer hat schon die Bremse gezogen und nimmt in
seinem Lager keine neue Obdachlosen mehr auf. Es ist der Hollywood-Star
Sean Penn. Noch am Tag des Erdbebens stürmten Obdachlose die
allerfeinste Adresse der Hauptstadt: den Golfplatz des Club
Pétion-Ville, der dem US-Bürger Bill Evans gehört. Hier dinierten,
parlierten und golften zu besseren Zeiten Diplomaten, Minister und
Geschäftsleute. Es ist ein wunderschöner, von Zitronenbäumen gesäumter
Ort, weit oberhalb der brodelnden Hauptstadt mit ihrer stickigen, Luft.
Hier herrscht ein frischeres Klima. 55000 Menschen haben sich auf dem
Golfplatz niedergelassen. Es ist das größte Zeltlager Haitis. Hier
tauchte schon eine Woche nach dem Erdbeben Sean Penn auf, der
Schauspieler, Regisseur und Ex-Man von Madonna. Er lebte sechs Monate in
einem Zelt, bevor er in der Nähe eine Wohnung bezog. Sean Penn
kommt im blitzblanken schwarzen Jeep angerollt. Vor der Cholera-Station,
wo fünf ausgemergelte Patienten am Tropf hängen, steigt er aus:
Cargohose, bis zum Bauchnabel offenes Hemd, Zigarette hinter dem Ohr.
Doch ein Gespräch ist nicht möglich. Penn wird sofort von rabiaten
Mitgliedern seiner Hilfsorganisation abgeschirmt. Der Schauspieler
schaut noch immer regelmäßig hier vorbei. Verschiedene Organisationen
sind im Camp tätig. Verwaltet und überwacht aber wird das Lager von
Penns Truppe. Ihre Mitglieder tragen alle ein schwarzes T-Shirt mit der
Aufschrift J/P - Human Relief Organization. Das P steht für Penn, das J
für Diana Jenkins, eine Bosnierin, die 1992 aus dem belagerten Sarajevo
floh, später einen reichen britischen Finanzier heiratete, einen
Fotoband über Hollywood-Stars herausgab und eine Million Dollar ins Camp
investierte. Penn und Jenkins rekrutierten schon wenige Tage nach dem
Erdbeben medizinisches Personal, orderten Wasserfilter und Medikamente
und charterten ein Frachtflugzeug. Sean Penn gegen Wyclef Jean Auf
dem Neun-Loch-Golfplatz ist eine Zeltstadt mit Eigenleben entstanden,
mit Märkten und einem Lebensmittelladen, Internet-Point und
Kinoleinwand, mit Barbieren und Friseuren, mit einer Apotheke, einer
Schule und einer Theaterbühne. Penn hat sich mit seinem Engagement auch
Feinde eingebrockt, die ihm vorwerfen, es gehe ihm um die Vermarktung
seiner Person. "Sterbt qualvoll an Enddarmkrebs!", beschied er in seiner
gewohnt ruppigen Art den Kritikern in einem Fernseh-Interview. Es hat
sich herumgesprochen im Camp. "Penn ist ein guter Kerl", sagt Jonas, der
mit einer Machete Zuckerrohr schält, ein Stück absäbelt und zum Kauen
reicht, "aber Wyclef ist besser." Jonas ist 20Jahre alt und trägt
Dreadlocks. In seinem früheren Leben war er Musiker, bis der Gitarrist
seiner Band unter den Trümmern beerdigt wurde. Die Geschichte des
Streits zwischen Penn und Wyclef kennen die Jungen hier alle. Wyclef
Jean wollte sich am Sonntag zum Präsidenten wählen lassen. Der in Haiti
geborene amerikanische Hip-Hopper ist bei der haitianischen Jugend
äußerst populär. Schon vor dem Erdbeben hatte er "Yéle Haiti", eine
humanitäre Organisation, gegründet und war vom Präsidenten zum
Botschafter des guten Willens seines Landes ernannt worden. Wyclef habe
er in Haiti gar nie gesehen, geiferte Sean Penn. Der Rapper konterte
musikalisch. In seinen Song "Wenn ich Präsident wäre" flocht er den Satz
ein: "Ich habe eine Botschaft für Sean Penn. Wahrscheinlich hat er mich
nicht gesehen, weil er zu beschäftigt damit war, Kokain zu schnupfen."
Penn schlug zurück und behauptete, der Rapper habe 400000 Dollar
Spendengelder unterschlagen. Mag sein. Da die haitianische Gesellschaft
eine sehr junge ist, hätte Wyclef als Außenseiter bei den Wahlen
trotzdem gute Chancen gehabt. Doch wurde seine Kandidatur - formell
korrekt - nicht zugelassen, weil er in den letzten fünf Jahren nicht in
Haiti wohnte. Ob der 38-jährige Hip-Hopper wirklich der richtige
Präsident für Haiti wäre? Jonas schüttelt seine Dreadlocks und sagt:
"Jedenfalls nicht schlechter als die andern." Er wird nun die
oppositionelle Mirlande Manigat wählen, nur, um der Regierung eins
auszuwischen. "Die tut nichts, wirklich nichts. Seit zehn Monaten leben
wir im Zelt. Und nichts tut sich." |