Die Zeit des Schweigens ist vorbei |
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Thomas Schmid, 14.01.2011
In Tunesien entlädt sich der Zorn nicht mehr nur auf der Straße.
Und auch Journalisten entdecken ihren Mut
TUNIS. Dicker Qualm steigt noch immer aus der ausgebrannten Apotheke. Links davon ein Café, rechts ein Laden, der Sanitäranlagen verkauft - oder man muss wohl sagen: verkauft hat. Dann die Konditorei, ein Kiosk, ein Café. Alles zerschlagen und geplündert. Trotz der Ausgangssperre, die die Regierung am Mittwochabend verhängt hat. In Ettadhamin, einem riesigen Vorort am westlichen Stadtrand von Tunis, stehen Tausende auf der Hauptstraße, die hier draußen einfach Route Nationale 130 heißt. Sie schauen sich die Folgen der vergangenen Nacht an, in der in der tunesischen Hauptstadt das erste Todesopfer der Unruhen zu beklagen ist. Einem Mann wurde in den Kopf geschossen. Bislang gab es Tote nur in der Provinz. Tunesien wird nie mehr
sein, was es einmal war. Man hört es in Tunis immer wieder. Niemand
weiß, wie es weitergeht. Zwar ziehen am Donnerstagabend nach
Inkrafttreten der Ausgangssperre Tausende von Anhängern des Präsidenten
Ben Ali johlend, singend und Parolen schreiend von der Polizei völlig
unbehelligt über die Avenue Habib Bourguiba, den Prachtboulevard von
Tunis; zeitgleich verspricht Ben Ali in einer Fernsehansprache eine
Reihe von Zugeständnissen; er deutet an, eventuell auf eine weitere
Amtszeit zu verzichten, und er räumt ein, dass es ungerechtfertigte
Gewalt der Polizei gegeben hat. Aber ein Zurück wird es trotzdem wohl
nicht mehr geben nach all dem, was passiert ist in diesen Tagen. Das
Wichtigste: Die Menschen haben die Angst verloren. "Früher", sagt Alya,
die in einem Telefonladen arbeitet, "tuschelten wir im Straßencafé,
sobald sich jemand an den Nebentisch setzte, heute reden wir einfach
weiter." Früher drucksten die Menschen herum und liefen nach ein paar
freundlichen Sätzen einfach weg, wenn man sie nach ihrer Meinung fragte.
Auf der Route Nationale 130 in Ettadhamin kann man sich heute kaum
retten vor Frauen und Männern, die ihre Geschichte loswerden wollen. "Die
Polizisten sind am Mittwochnachmittag einfach abgezogen", berichtet
Ahmed neben einem zertrümmerten Kiosk, vor dem Hunderte Lotto- und
Toto-Zettel verstreut auf dem Pflaster liegen. "Sie hatten Angst. Wir
waren viel mehr, sie hatten keine Chance." Trotziger Stolz schwingt in
seiner Stimme mit. Ahmed ist Diplomarchitekt, 24 Jahre alt und
arbeitslos. Ob er in der Nacht zum Donnerstag auch geplündert hat, will
er nicht sagen. Ein Siegeslächeln ersetzt jede Antwort. "Es waren
Diebe, Clochards, Ganoven", meint Sana, die alles ganz schlimm findet,
"aber die Polizei hat hier noch viel schlimmere Sachen gemacht; die
Polizei darf hier ungestraft einfach alles. Und hat nicht die Regierung
als Strafe für den Aufstand die Preise für Joghurt, Eier und Mehl
drastisch erhöht?" Trotzdem, was hier passiert ist, kann die junge Frau
nicht gutheißen: "Wie kann man bloß die Läden kleiner Leute vernichten?"
Sana arbeitet als Bankangestellte am anderen Ende der Stadt. Aber wie
so viele macht sie heute einfach frei. Es fahren kaum Busse und Bahnen,
die meisten Läden sind geschlossen, die Leute bleiben in diesen Tagen zu
Hause. Im Straßencafé neben der ausgebrannten Apotheke sitzen
zwei Dutzend Männer, alle in abgetragenen Hosen und Jacken, keine
einzige Frau. "Setzen Sie sich", sagt Ridha und lädt mit freundlichem
Gestus zur Noisette, einer Haselnuss ein, womit hier ein starker Kaffee,
mit ein wenig Sahne versetzt, gemeint ist. "Die zerstörten Läden",
behauptet der 55-jährige Händler, "gehörten fast alle dem früheren
Bürgermeister Sadek Jaraya. Er hat sie Strohmännern überlassen und sahnt
bis heute ab. Das wissen alle. Hier direkt an der Hochspannungsleitung
durfte ja niemand bauen - jedenfalls niemand ohne seine Erlaubnis." Die
Männer nicken. Bis 2004 hatte Ridha seinen eigenen Laden. Er
verkaufte Autoersatzteile. Jeden Monat kam ein Mann vorbei, der fürs
Ministerium arbeitete, und Ridha musste ein hübsches Sümmchen abdrücken,
das bald immer schneller erhöht wurde. Eines Tages konnte er nicht mehr
bezahlen, und die Polizei schloss seinen Laden. Sein Schicksal
erinnert an jenes von Mohamed Bouazizi. Der arbeitslose diplomierte
Informatiker hatte sich am 17. Dezember in Sidi Bouzid, einer Stadt im
Zentrum des Landes, öffentlich angezündet. Die Polizei hatte zuvor sein
Gemüse beschlagnahmt, das er auf der Straße verkaufte - ohne Lizenz,
weil er das Schmiergeld nicht mehr zahlen konnte. Sein tragischer
Protest war der Funke für die tunesische Revolte, die bis heute
andauert. Der Protest, der von Städten im Landesinneren ausging,
wo Dutzende von Demonstranten erschossen wurden, hat längst die
Hauptstadt erreicht. Getragen wurde er anfangs vor allem von einer gut
ausgebildeten Jugend, der der Zugang zum Arbeitsmarkt immer mehr
verschlossen bleibt, und die auch - anders als die Generation ihrer
Väter - nicht auswandern kann. Doch die Unruhe hat längst breite
Gesellschaftsschichten erfasst, und sie richtet sich inzwischen vor
allem gegen die hochkorrupte Mafia, die die politische Macht innehat.
"Diebe von Karthago, haut ab", heißt es an zahlreichen Mauern. In der
Nähe der Ruinen der antiken Handelsstadt residiert Präsident Ben Ali,
der Tunesien seit mehr als 23 Jahren mit eiserner Hand regiert, nachdem
er als Innenminister und Geheimdienstchef 1987 seinen Vorgänger Habib
Bourguiba, den ersten Präsidenten des unabhängigen Tunesiens,
amtsärztlich für senil erklärt und unter Hausarrest gestellt hatte. Noch
mehr als gegen Ben Ali selbst richtet sich die Volkswut gegen seine
Entourage - allen voran gegen seine Frau Leila Trabelsi, die als
besonders raffgierig gilt. Sie richtet sich gegen deren Bruder Belhassen
und gegen seinen Schwiegersohn Sakhr el Matri. Belhassen Trabelsi hat
sich die Banque de Tunisie unter den Nagel gerissen. Matri hat mit
staatlicher Hilfe die Bank Zitouna aufgebaut und sich die Lizenzen für
den Import einer Reihe von Automarken - Volkswagen, Audi, Porsche, Seat
und Kia - gesichert. Auch die Telefongesellschaften werden vom
Clan des Präsidenten kontrolliert. Imed Trabelsi, ein Neffe der First
Lady, dessen Auslieferung Frankreich wegen des Diebstahls einer Jacht
verlangt, wurde Bürgermeister von La Goulette, einer Vorstadt von Tunis,
in der ein neuer, gewiss einträglicher Frachthafen gebaut wird. All
dies ist in Tunesien kein Geheimnis. Nur verlieren die Medien darüber
kein Wort. Noch nicht. In anderen Bereichen aber wird das Schweigen
inzwischen gebrochen. In relativ nüchternen Worten wird über die
Ereignisse dieser Tage berichtet. Titel aus der Tageszeitung Le Temps
von gestern: "Auseinandersetzungen und neuer Selbstmordversuch in Sidi
Bouzid". "Mehrere Banken in Nabeul niedergebrannt". "Zwei Tote und acht
Verletzte in Douz". "Plünderung in Kebili, ein Polizeikommissar
angegriffen". "Souk Lahad: Gymnasium angezündet". "Ein Toter und sieben
Verletzte in Tozeur". "Deguech: Drei Tote, mehrere öffentliche Gebäude
in Brand gesetzt". "Ein Toter in Thala, die Armee kontrolliert die
Situation". Es scheint, dass auch die Zeitungsleute die Angst
verlieren. Jahrzehntelang haben sie brav Regierungskommuniqués
nachgeplappert. In der vergangenen Woche aber forderten hundert
Journalisten Pressefreiheit, und gestern setzte Le Temps zwei
bemerkenswerte Zitate auf die erste Seite. Die Theaterdirektorin Raja
Ben Ammar, die am Dienstag bei Protesten von Polizisten
zusammengeschlagen wurde, warnt: "Dieses Blutvergießen muss aufhören,
unser Volk ist kultiviert und verdient Besseres." Die bekannte
Schauspielerin Jalila Baccar greift in der Zeitung sogar die Journaille
direkt an: "Ich habe gegenüber den tunesischen Journalisten keine
Erklärungen abzugeben, aber ihr solltet euch schämen." Das sind völlig
neue Töne, und man darf gespannt sein, ob sich die Redakteure vom Regime
zurückpfeifen lassen. Auch Ben Ali schlägt neue Töne an. Die
Arroganz der Macht scheint wie weggeblasen zu sein. Jetzt wird Süßholz
geraspelt. Er verstehe die jungen Tunesier, die Arbeit wollten, sagt er
in einer TV-Ansprache, er fühle ihr Leiden, er drückte sein "Beileid mit
allen Opfern, die bei den jüngsten Ereignissen gefallen sind" aus und
forderte die verantwortlichen Stellen auf, das Recht auf friedliche
Demonstrationen zu garantieren und den Bürgern gegenüber keine Gewalt
anzuwenden. Das war am Mittwoch. Aber während am
Donnerstagnachmittag dieser Artikel in einem Hotel in der Innenstadt von
Tunis geschrieben wird, sind von draußen Schüsse zu hören. Die Straße
ist in Wolken von Tränengas gehüllt. Polizisten kurven zu zweit auf
Motorrädern - der Mann auf dem Sozius mit Schlagstock. In
Ettadhamin, dem aufrührerischen Vorort von Tunis, macht ein böser
Verdacht die Runde. Hat sich die Polizei wirklich bloß aus Angst
zurückgezogen? Oder ließ man mit Absicht zu, dass Läden in Brand gesetzt
und geplündert wurden? Einige vermuten sogar, Spitzel der Polizei - sie
sind in Tunis allgegenwärtig - hätten kräftig mitgezündelt, um im Land
Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung zu mobilisieren. "Wenn ihr zurückkommt,
kommen wir wieder", hat jemand auf die Mauer eines ruinierten Geschäftes
gesprüht. Wer ist "ihr", wer ist"wir"? Und was passiert, wenn die, die
zurückkommen, auf die, die wiederkommen, stoßen? Zwischen den
geplünderten Geschäften trottet ein Hirte mit einem Dutzend Schafen über
den Gehsteig. Er wirkt wie eine Gestalt aus einer andern Welt. Was geht
ihn dieser ganze Aufruhr an?! All die Leute, die gekommen sind, die
Folgen der vergangenen Nacht zu besichtigen, scheinen ihn nicht zu
interessieren. Sana, die Bankangestellte, die alles ganz furchtbar
findet, bekennt, sie habe an diesem Morgen geweint. "Trotzdem", sagt
sie, "es bleibt mein Tunesien, es tut mir leid, dass ich Ihnen kein
schöneres Land präsentieren kann." |