Ein Land im Ausnahmezustand |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.01.2011 TUNIS. Präsident Zine el Abidine Ben Ali ist weg, vielleicht auf dem Weg nach Paris. Nur vorübgergehend sei er weg, heißt es amtlich. Keiner glaubt, dass Ben Ali wiederkommt. Leila Trabelsi, seine als raffgierig und korrupt verschriene Frau soll sich schon seit mindestens einer Woche in Dubai aufhalten. Sakhr El Matri, der Schwiegersohn des Präsidenten, der sich die Filetstücke der tunesischen Wirtschaft unter den Nagel gerissen hat, weilt bereits in Kanada. Hat die Armee den Flughafen gesperrt, damit nicht noch weitere Mitglieder des verhassten Clans das Weite suchen? Tunis läuft über von Gerüchten. Es herrscht Ausnahmezustand. Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi hat vorübergehend die Nachfolge Ben Alis angetreten. Der Präsident sei derzeit nicht in der Lage, sein Amt auszuüben, sagt er. Der Ausnahmezustand
herrscht offiziell seit dem späten Freitagnachmittag. Was das genau
heißt, weiß niemand so recht. Wird die Armee polizeiliche Funktionen
übernehmen? Vielen Tunesiern wäre es wohl gar nicht so unrecht. Die
Polizei ist weithin verhasst, weil sie korrupt und weil sie brutal ist.
Die Armee hingegen, die in Tunesien anders als in Algerien nie als ein
wesentlicher Machtfaktor galt, war an den Repressionen der vergangenen
vier Wochen nicht beteiligt. Sie wurde allenfalls zum Schutz
öffentlicher Gebäude eingesetzt. Freude und Gewalt Der
Freitag hatte gut begonnen. Es schien ein historischer Tag. Die
Menschen versicherten es sich immer wieder gegenseitig, als ob sie es
selbst nicht glauben könnten. Der starke Mann des Landes hatte
nachgegeben. Auf dem Boulevard wurde immer wieder die Nationalhymne
gesungen. Fremde Leute fielen sich um den Hals, und manch einer wischte
sich verschämt eine Träne aus dem Gesicht. Ein Sarg mit einem jungen
Mann, der gestern in Tunis Polizeischüssen zum Opfer gefallen war, wurde
durch die Straßen getragen. Es waren sehr emotionale Szenen. Tausende
Handys wurden in die Höhe gereckt, um über die Köpfe hinweg Fotos zu
schießen. Man will es den Kindern und Enkeln eines Tages beweisen: Ich
war dabei. Dann aber kam völlig unerwartet, alles wie gehabt: In
fünf bis zehn Minuten räumte die Polizei mit Schlagstock und Tränengas
den etwa ein Kilometer langen Boulevard frei. Anlass war möglicherweise,
dass Demonstranten versuchten, ins Innenministerium zu gelangen. Oder
waren es Provokateure, die zum Fenster hochkletterten? Niemand weiß
Genaues. Nur unüberprüfbare Gerüchte machten die Runde. Von den Balkons
ihrer Hotelzimmer aus beobachteten Journalisten zahlreiche
Zivilpersonen, die mit langen Holzstangen, Brettern oder Eisenrohren
gemeinsam mit Polizisten patrouillierten und Passanten verprügelten. Am
Abend war der Boulevard dann menschenleer. Ab und zu waren Schreie zu
hören. Auch waren einzelne scharfe Schüsse im Zentrum zu vernehmen,
deutlich unterscheidbar von den dumpfen Schüssen, mit denen die
Tränengasgranaten abgefeuert werden. Am Donnerstagabend noch
hatten auf demselben Boulevard - zehn Minuten nach Inkrafttreten der
Ausgangssperre, aber von der Polizei völlig unbehelligt - rund tausend
Anhänger des Präsidenten Fähnchen mit dessen Konterfei geschwenkt und
den Mann hochleben lassen, der im Polizeistaat Tunesien die Politik seit
1987 diktiert. Damals hatte Ben Ali als Innenminister und
Geheimdienstchef seinen Vorgänger Habib Bourguiba amtsärztlich für senil
erklärt und unter Hausarrest gestellt. Die Jubel-Tunesier waren in
Bussen des öffentlichen Verkehrs herangekarrt worden. Würde das Regime
nun auf breiter Ebene zur Gegenmobilisierung blasen? Das Schlimmste war
zu befürchten. Doch am Freitagmorgen waren die zahlreichen
Polizeispitzel vor den Hotels an der Avenue Habib Bourguiba, wo die
meisten ausländischen Journalisten untergekommen sind, bereits
abgezogen. Vor der Zentrale des gewerkschaftlichen Dachverbandes, der zu
einem zweistündigen Generalstreik aufgerufen hatte, versammelten sich
schon ab neun Uhr Demonstranten, die Parolen gegen Ben Ali schrien. Als
sie auf den nahen Boulevard zu strömen versuchten, wurden sie zunächst
von einem Polizeikordon aufgehalten. Zwei Busse fuhren heran und luden
vor den Demonstranten einige Dutzend Zivilpolizisten aus. Die Situation
war zum Zerreißen gespannt. Doch die Polizei zog ab und die
Demonstranten stürmten vor das Innenministerium. Dort verlangten
sie über Stunden hinweg immer wieder in Sprechchören den Rücktritt Ben
Alis und ließen die "Märtyrer" hochleben, also die Dutzenden Toten, die
die vier Wochen Unruhen gekostet hatten. Erst am Tag zuvor waren
noch einmal 13 Jugendliche unter den Kugeln der Polizei gestorben,
allein in Tunis vier. Die letzten drei von ihnen wurden im Zentrum der
Hauptstadt erschossen, wenige Stunde, bevor der Präsident die politische
Öffnung bekannt gab. "Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen",
begann Ben Ali, "liebes tunesisches Volk, ich wende mich heute an euch,
an alle Tunesier im In- oder im Ausland. Ich wende mich an euch in der
Sprache der Tunesierinnen und Tunesier, weil die Lage einen
tiefgreifenden und umfassenden Wandel erfordert." Der Präsident, der
sonst in der Öffentlichkeit hocharabisch spricht, redete überraschend im
tunesischen Dialekt. Neben der Gewährung von Pressefreiheit und
einem freien Zugang zum Internet versprach Ben Ali auch, "die Demokratie
zu stärken und den Pluralismus zu fördern". Er meinte, dass "im Bereich
der Demokratie und der Freiheiten gewisse Sachen nicht so gelaufen
sind, wie ich wollte" und gab seinen Beratern die Schuld: "Gewisse Leute
haben mich zu Fehlern verleitet, in dem sie mir die Tatsachen
verschwiegen haben." Und mit noch mehr Chuzpe behauptete er: "Ich habe
an keinem einzigen Tag akzeptiert und ich werde nie akzeptieren, dass
auch nur ein Tropfen tunesisches Blut fließt." Unter den
Demonstranten vor dem Innenministerium fragte man, wie es nun
weitergehen soll. Ben Ali hat es geschafft, die politische Landschaft zu
zerstören. Er hatte einige linientreue Parteien zugelassen, die selbst
im vergangenen Wahlkampf ums Präsidentenamt ihren Konkurrenten Ben Ali
hochleben ließen. Andere Parteien wurden marginalisiert, in dem man
ihnen jede öffentliche Kundgebung, jede Versammlung verbot und führende
Mitglieder immer wieder verhaftete. So wurden allein in der letzten
Woche sieben Repräsentanten der sozialdemokratischen PDP festgenommen,
ebenso der Chef der kleinen kommunistischen POCT, nachdem Polizisten im
Morgengrauen die Tür seiner Wohnung eingetreten hatten. "Lasst
uns nicht allein" Bei der großen Siegesfeier vor dem
Innenministerium wurden die Auslandsjournalisten regelrecht belagert.
Immer wieder wurden sie mit Dank überschüttet. Die Leute sind froh, dass
die Welt erfährt, was in ihrem Land vorgeht. Die tunesischen
Journalisten haben nie über die wirklichen Probleme des Landes geredet,
nie über den Terror im Polizeistaat. Seit gestern herrscht nun
Pressefreiheit.
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