In der Wüste |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.04.2011
Im Osten Libyens ziehen junge Rebellen in den Krieg gegen
Gaddafis Armee. Sie haben nicht einmal Funkgeräte
BENGASI. Brega, immer wieder Brega. "Wir fahren nach Brega", sagen die Chabab, die jungen libyschen Rebellen, die auf die Ladefläche eines Kleinlasters steigen. Schon mehrmals zog die Front über die Stadt mit dem wichtigen Ölhafen hinweg: Zuerst im März, als die Aufständischen westwärts fast bis Sirte vorstießen. Dann beim Gegenangriff der Regierungstruppen, der im Osten erst vor den Toren von Bengasi, der Hauptstadt des "freien Libyen", haltmachte. Das war, als französische und US-Kampfflieger die Truppen von Muammar al-Gaddafi zum Rückzug zwangen und es den Rebellen erlaubten, Brega für kurze Zeit zurückzuerobern. Und nun stehen - alle Siegesverlautbarungen in Bengasi Lügen strafend - abermals Gaddafis Soldaten in der Stadt. Seit einer Woche wird um Brega erbittert gekämpft. Jeden Tag fahren in
Bengasi etwa hundert Journalisten los, um zu sehen, wie es um Brega
steht. Der Weg führt an zerschossenen Panzern und weidenden Kamelen
vorbei. Am letzten Kontrollpunkt der Rebellen, zehn Kilometer vor dem
Stadtrand, wird man gewarnt, aber an der Weiterfahrt nicht gehindert.
Niemand weiß, was vorne, hinter der nächsten Anhöhe, los ist. Also
fragt man den Ersten, der von dort kommt. "Fahren Sie ruhig weiter",
sagt der junge Mann, der sein Autofenster heruntergekurbelt hat, "ganz
Brega wird von den Rebellen kontrolliert. Die Armee des Affen ist
abgezogen." Wen er mit dem Affen meint, weiß hier jeder: Gaddafi wird in
zahlreichen Karikaturen als Affe verhöhnt. Im nächsten Auto kommt eine
siebenköpfige Familie an. "Ich weiß nicht, ob noch jemand in Brega
lebt", sagt der Alte am Lenkrad, "wir sind vielleicht die letzten, die
gegangen sind. Überall Gaddafis Soldaten und viele Heckenschützen.
Fahren Sie bloß nicht hin!" Wem trauen? Gewehrsalven und dumpfe
Einschläge von Artilleriegranaten erleichtern die Antwort. "Die Kämpfe
finden zwei Kilometer von hier statt", sagt Mahmut. Er sitzt auf einem
Autoreifen, die Sonnenbrille auf das gegelte Haar hochgeschobene, und
hält seine Kalaschnikow wie ein Baby im Arm. Die Angst der Journalisten
amüsiert ihn. 18 Jahre alt ist er, zwei ältere Brüder hat er an der
Front verloren. Er ist in ihre Fußstapfen getreten. Hat er keine Angst?
"Gaddafi muss weg, wir wollen ein freies Libyen", antwortet er. Weshalb
auch sollte er hier über seine Gefühle sprechen - vor all seinen
Kameraden? Was er studieren, will, soll Mahmut sagen. "Darüber reden
wir, wenn Gaddafi weg ist." Es herrscht eine gespenstische
Atmosphäre hier in der Wüste. Am Straßenrand warten Krankenwagen auf
Verletzte. Schüsse ertönen, sie scheinen näherzukommen. Aber noch immer
verteilt ein Mann in aller Herrgottsruhe Cola-Dosen und Kekse an die
Rebellen. Ein Älterer, die Trikolore des libyschen Königreichs zu einem
Turban gewickelt, läuft mit einem Lautsprecher umher und schreit wie
besessen: "Allahu akbar!" Einige Jugendliche geben den Ruf murmelnd
zurück: "Gott ist groß." Mahmuts Kumpel Fahti ist enttäuscht. Seit
zehn Tagen schon ist er hier, und noch immer kam er nicht richtig zum
Einsatz. Er wollte in vorderster Linie kämpfen. Aber die Soldaten der
Rebellenarmee haben ihn zurückgeschickt. Zu viele Jugendliche sind in
den ersten Wochen des Krieges gestorben. Ohne Kommando, ohne
Schlachtplan hatten sie sich mit Todesmut und leichten Waffen Gaddafis
Soldaten entgegengestellt. Nun sollen desertierte Soldaten die Schlacht
schlagen, unterstützt von in aller Eile rudimentär ausgebildeten
Rebellen. Mehr als hundert bewaffnete Jugendliche lagern in
Grüppchen an der Straße. Wer hat das Kommando? Haben sie überhaupt
jemanden, der befiehlt? "Wir sind Revolutionäre", sagt Fahti, "wir
unterstützen die Armee. Die Kommandanten sind an der Front." Dann bricht
ein kleiner Trupp der Chabab zu Fuß auf und verschwindet in der Wüste.
Hat sie jemand gerufen? Ein Funkgerät hat hier keiner. Mit dem Fernglas
kann man erkennen, wie sie sich in dieser Landschaft von Stein und Sand,
die kaum einen natürlichen Schutz bietet, verteilen. Ein Spiel
mit dem Tod Kleinlaster mit Minenwerfern auf der Ladefläche fahren
vorbei, dann ein Tieflader mit einer imposanten Stalinorgel. Mit großen
wehenden Fahnen fahren sie Richtung Brega. Es hat etwas
Mittelalterliches an sich. Auf den Gefährten sitzen Männer, die meisten
haben sich aus Versatzstücken Uniformen gebastelt. Einige tragen
T-Shirts und leichte Turnschuhe, andere dicke Wollpullover und schwere
Stiefel. Kein einziger hat einen Helm. Und mit schusssicheren Westen
laufen hier nur Journalisten herum. Plötzlich ein lauter Knall,
300Meter entfernt wirbelt eine Sand- und Staubwolke hoch. Ein Geschoss
ist eingeschlagen. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen flüchten sich
Rebellen und Journalisten in ihre Gefährte und rasen los - weg von der
Front. Einige Grünschnäbel haben ihren Wagen nicht in Fluchtrichtung
geparkt und müssen erst wenden. Sie lösen ein Chaos aus, während die
Gewehrsalven immer lauter werden. Nach etwa drei Kilometern halten die
meisten an. Die Schüsse sind leiser geworden. Einige fahren schon bald
wieder Richtung Front zurück. Es scheint ein Spiel mit dem Tod zu sein. Auf
dem "Freiheitsplatz" im Zentrum von Bengasi herrscht wie jeden Abend
Feierstimmung. Wie jeden Abend wird demonstriert. Aus dem Lautsprecher
dröhnt ein Revolutionslied von Abdusalem al-Mashatti. Dann fahren drei
Kleinlaster mit wehenden Fahnen vor. Sie kommen von der Front und kurven
mehrere Male über den Platz. Auf der Ladefläche des mittleren Wagens
liegt ein Sarg. Sechs Männer schultern ihn. Der Tote heißt Ibrahim Ali
Atuhami. Er ist an der Front von Brega gestorben. Seine Kameraden feuern
einige Gewehrsalven in die Luft. Ein letzter Salut. |