Kommission für die Müllabfuhr |
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Thomas Schmid, 13.04.2011
AL-BAIDA. Ganz Libyen ist eine Wüste. Ganz Libyen? Nein, in einem kleinen Zipfel im Osten des Landes gibt es die Grünen Berge, hier wachsen Zitrusfrüchte und Oliven, ja sogar Eukalyptusbäume, berüchtigt für ihren Wasserverbrauch. Und im Zentrum dieser friedlichen Landschaft liegt Al-Baida, 650 Meter über dem Meeresspiegel, eine Stadt mit 120000 Einwohnern. In den heißen Monaten ist es relativ kühl. Auch Idris, der einzige König, den Libyen je hatte, und der 1969 von Muammar al-Gaddafi gestürzt wurde, wusste das zu schätzen. Er hatte hier seine Sommerresidenz, ein recht bescheidenes Anwesen - jedenfalls im Vergleich zur Luxusanlage, die sich sein Nachfolger gönnte. "Welcome in
Free Libya!" Die Menschen in Al-Baida sind stolz auf ihre Revolution:
Willkommen im Freien Libyen. Der Fremde tut sich hier schwer, Geld
auszugeben. Bestellt man einen Cappuccino, ist er bereits bezahlt. Wer
nach einer Taxifahrt zum Geldbeutel greift, riskiert einen Streit. Die
Großzügigkeit wird oft so begründet: "Wir sind in einer Revolution."
Männer in Zivil spielen mit ihren Kalaschnikows, Transparente schmücken
den Hauptplatz, der nun "Tahrir" heißt, Platz der Freiheit. Und überall
weht die neue Fahne, es ist die alte des Königs. In den Grünen
Bergen Und dennoch, bei allem Stolz herrscht auch eine spürbare
Unsicherheit. Die Leute wissen nicht, was im anderen Teil des Landes
passiert, der noch nicht frei ist. Kommt die Front näher? Stimmt das
Gerücht, dass der Diktator im Koma liegt? Angst und Hoffnung liegen nah
beieinander. Viele haben im fernen Tripolis Verwandte. Aber anrufen
können sie nicht und auch nicht angerufen werden. Es gibt in Libyen zwei
Telefongesellschaften, Madar und Libiana. Madar hat ihren Sitz in
Tripolis, Libiana in Bengasi, der Hauptstadt der Aufständischen. Die
Nummern von Madar beginnen mit 091, die von Libiana mit 092. Nummern mit
der Vorwahl der anderen Seite sind nicht zu erreichen. Und Anrufe ins
Ausland sind auch nicht möglich. In Al-Baida sorgt man sich sehr
um das Bild, das man sich im Ausland von der Revolution macht. "Alle
sollen wissen, dass die libyschen Aufständischen nicht Al Kaida
angehören, wir haben uns für die Freiheit geopfert", verkündet das
größte Spruchband auf dem Tahrir-Platz - auf Französisch, einer Sprache,
die hier so gut wie keiner versteht. Aber man will sich Präsident
Nicolas Sarkozy erkenntlich zeigen, der in Tunesien dem Diktator lange
ergeben war, in Libyen aber mit Kampfflugzeugen eingriff, um Bengasi vor
der Rückeroberung durch Gaddafis Soldaten zu retten. Die Leute hier
sind überzeugt, dass man im Westen glaubt, hinter dem Aufstand stecke Al
Kaida, und so erklären sie sich auch den Widerwillen Europas und der
USA, die Opposition mit den so dringend benötigten modernen Waffen zu
versorgen. In der Tat gab es in den Grünen Bergen bei Al-Baida
einst militante Islamisten. Es waren Dschihadisten, Anhänger eines
Heiligen Krieges, die aus Afghanistan zurückkamen und Mitte der
Neunzigerjahre die Kämpfende Islamische Libysche Gruppe bildeten.
Gaddafi räumte brutal mit ihnen auf. Nach einem Aufstand im Gefängnis
Busalim bei Tripolis wurden 1996 insgesamt 1270 Häftlinge erschossen,
die meisten von ihnen waren Islamisten. Danach herrschte Ruhe,
Friedhofsruhe. Aber mit der politischen Öffnung, die die Rebellen im
Osten Libyens vor zwei Monaten erzwangen, meldete sich auch der
politische Islam zurück. Die Kämpfende Gruppe, die einem Bericht des
Forschungsdienstes des US-Kongresses zufolge Verbindungen zu Al Kaida
hatte, ist zur Libyschen Islamischen Bewegung geworden. Der große
Kinderspielplatz nahe der Hauptmoschee von Al-Baida ist umzäunt. Am Tor
werden - abgesehen vom Redner, dem Moderator und dem Tontechniker -
ausschließlich Frauen eingelassen. Mohamed Busedra, einer der
bekanntesten Islamisten des Landes, wird eine Rede halten. "Ein
gemischtes Publikum ist in unserer Kultur nicht üblich", wird er später
sagen. Es kommen etwa 300 Frauen, keine einzige trägt ihr Haar offen,
aber auch nur wenige sind völlig verschleiert. Busedra trägt eine weiße
Dschellaba, ein arabisches Männergewand, und die weiße Kappe, die ihn
als Prediger ausweist. Sein Bart ist zwar ergraut, doch die Stimme fest.
Die 21 Jahre, die er im Gefängnis verbrachte, scheint er unbeschadet
überstanden zu haben. Busedra, der Mandela Libyens, wie ihn seine
Anhänger nennen, ist 54 Jahre alt. Er redet frei, eine Dreiviertelstunde
lang. Er schreit nicht, hetzt nicht, er scheint kein Eiferer zu sein,
eher ein sanftmütiger Mensch, der seine Worte abwägt und ab und zu die
Leute zum Lachen bringt. Er spricht vom Wert der Freiheit, von Würde,
Demut und Liebe, wie man das als Prediger so tut. Das Wort Allah kommt
sehr selten vor. Als er geendet hat, nähern sich ihm einige Frauen,
berühren sein Gewand, als ob es Baraka ausströmen würde, göttliche,
heilbringende Kraft und Schutz vor dem bösen Blick. "Ich zog einst
aus, um im britischen Cardiff Chemie zu studieren", sagt Busedra, "und
ich kam als Imam zurück." In Libyen brachten ihn seine Überzeugungen
bald ins Gefängnis, 1986 für sechs Monate, 1987 für drei Monate. Im
Januar 1989 verschwand er erneut hinter Gittern und kam erst Ende 2009
wieder frei. Seine Frau wurde zur Scheidung gezwungen und musste
unterschreiben, dass sie ihren Ex-Mann nie wieder heiraten werde. Eine
Woche vor seiner Entlassung sah er sie zum ersten Mal wieder. Weshalb
er verschont wurde beim Massaker im Busalim-Gefängnis, wo auch er seine
Strafe verbüßte, weiß Busedra nicht. Und wie hat er all das psychisch
überstanden? Die Todesängste, die Schüsse, mit denen in wenigen Stunden
über tausend Menschen getötet wurden, die Folter? "Ich habe einen festen
Glauben, ich war überzeugt, das Richtige zu tun, und ich dachte daran,
wie ich den anderen helfen könnte." Mohamed Busedra spricht die Worte
ohne jede Emphase. Und wie hält es der Prediger mit der
Demokratie? "Wir brauchen Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz. Und
wir wollen die Trennung von Religion und Staat", antwortet Busedra, der
nach Ausbruch der Revolte sagte, wer diese nicht unterstütze, mache sich
einer Sünde schuldig. Wo bleibt da der Islamist? Welche Bedeutung hat
der Islam im künftigen demokratischen Staat? "Wir Libyer sind alle
Muslime, und der Staat muss den Islam schützen", sagtder Imam. Müsste er
nicht auch die anderen Religionen schützen? "Ja, natürlich", sagt der
Imam und dann bricht es etwas unvermittelt und vorwurfsvoll aus ihm
heraus: "Ihr in Europa habt immer Angst vor den Bärtigen, den
islamischen Predigern. Und die Bärte der orthodoxen Juden?" Im Übrigen,
sagt Busedra, sei es das Beste, sich wieder auf die alte Verfassung zu
besinnen, die unter König Idris in Kraft war. "Gewiss, einige Paragrafen
müssten geändert werden. Wir brauchen keinen König mehr." Doch
anders als in Tunesien oder Ägypten scheint hier jede Verfassungsdebatte
Zukunftsmusik zu sein. In Al-Baida geht es zunächst einmal darum, das
Allernötigste zu regeln. Nach der Flucht der Spezialeinheiten Gaddafis
löste sich die zivile Spitze des Regimes, das lokale Volkskomitee, auf.
"Sechs ältere Männer, die in der Stadt einen guten Ruf haben und denen
die Leute vertrauen, nahmen den Aufbau einer neuen Verwaltung in die
Hände", sagt Mohamed Mabrouk, Sprecher der Lokalregierung, die sich
inzwischen aus 22 Leuten zusammensetzt. Keine einzige Frau ist unter
ihnen. "Der Rat tagt eben meistens spätabends", erklärt der Lehrer
diesen Umstand, "und die Frauen gehen nachts nicht aus dem Haus." Die
Frauen waren am Aufstand jedenfalls weniger beteiligt als in Tunesien
oder Ägypten, wahrscheinlich auch, weil die Rebellion sehr schnell in
bewaffnete Auseinandersetzungen mündete. Im Übrigen befand auch Gaddafi
in seinem Grünen Buch, zu dessen Ehren in jeder libyschen Stadt ein
Denkmal steht, dass Frauen an den Herd gehören. Die libysche
Gesellschaft ist sehr konservativ, in überkommenen Traditionen
verhaftet. Im Osten des Landes noch mehr als im Westen. Noch
halten freiwillige Helfer die Straßen sauber, noch trifft man in der
Stadt überall auf junge Männer mit Schubkarren und Besen. Aber die neue
Stadtregierung hat etliche Kommissionen eingerichtet, die die Dinge
künftig regeln sollen - eine für die Müllabfuhr, eine andere für die
Versorgung Bedürftiger mit Grundnahrungsmitteln. Sie bringt auch den
Rebellen und Soldaten, die an den Straßen überall Checkpoints errichtet
haben, Sandwiches und Kaffee. Es gibt eine Kommission für Medien, eine
für Wasser und Elektrizität, eine fürs Gesundheitswesen und natürlich
auch eine für die Polizei. Gerade haben ältere Einwohner auf dem
Tahrir-Platz, wo jeden Tag irgendjemand demonstriert, bei einer
Kundgebung mehr Polizei gefordert. Die alte Verwaltung hatte die
Gefängnistore geöffnet und über 300 Häftlinge freigelassen, bevor sie
abdankte. Vor allem unter älteren Leuten geht die Angst vor
Gewaltkriminalität um. "Wir haben die Polizisten aufgefordert, in den
Dienst zurückzukehren", sagt Mabrouk, "etwa ein Drittel ist dem Appell
gefolgt." Einige Vertreter des alten Regimes habe man unter Hausarrest
gestellt, auch zu ihrem eigenen Schutz. "Aber wer Blut an den Händen
hat, ist uns entwischt." Hier in Al-Baida, das weiter von der
Front entfernt liegt als Bengasi, wurde auch der nationale Übergangsrat
des Freien Libyens gebildet. Es ist die provisorische Regierung der
Opposition. Angeführt wird sie von Mustafa Abdel Dschalil, der erst vier
Tage nach Beginn der Unruhen als Justizminister zurücktrat und flugs
die Seiten wechselte. "Dschalil wird respektiert", sagt der 70-jährige
Salah Ibrahim, Professor für Geophysik an der städtischen Universität,
"erstens weil er aus Al-Baida stammt, und zweitens, weil er als
Justizminister - leider vergeblich - versucht hat, politische Gefangene
auf freien Fuß zu setzen." Dschalil selber habe zweimal seine Entlassung
beantragt, die jedoch von Gaddafi abgelehnt worden sei. Der
eigentlich starke Mann der Opposition ist aber vermutlich gar nicht er,
sondern Abdul Fattah Junis. Drei Jahre war er Gaddafis Innenminister,
bis auch er vier Tage nach Beginn der Revolution das Kabinett verließ.
Junis, der nun Armeechef der Opposition ist und bei Pressekonferenzen in
Uniform auftaucht, kennt den Diktator in Tripolis besser als jeder
andere. Zusammen mit ihm hat er gegen König Idris geputscht. 41 Jahre
lang stand Junis treu an Gaddafis Seite. Vom Thron geputscht Niemand
weiß, wie lange sich die Jugendlichen, die Kopf und Kragen riskiert
haben, um den Osten Libyens von der Diktatur zu befreien, damit abfinden
werden, dass nun Überläufer die Revolution anführen. Man scheint auf
die Konvertiten angewiesen zu sein, da Gaddafi die Herausbildung einer
politischen Opposition und einer alternativen Elite mit aller Macht zu
verhindern wusste. Dschalil versteht es, sich auf dem diplomatischen
Parkett zu bewegen. Junis hat einst die Spezialeinheiten Gaddafis
angeführt. Die Jugendlichen hingegen haben naturgemäß keinerlei
Erfahrung in Verwaltung und Militärführung. Im Zelt am
Tahrir-Platz von Al-Baida hängen die Porträts jener 64 jungen Männer der
Stadt, die bei den Märzkämpfen ihr Leben gelassen haben. Dort sind aber
auch Porträts von Omar Mukhtar zu sehen, der einst im nahe gelegenen
Wadi Al-Kuf den Widerstand gegen die italienischen Kolonialherren
angeführt hatte, und von König Idris. Salah Ibrahim, der alte
Professor, sah als Student den König durch die Straßen von Al-Baida
spazieren. Man konnte ihm zum Greifen nahe kommen. Mukhtar wurde von
Mussolinis Soldaten gehenkt, Idris vom Thron geputscht. Beide werden
hier verehrt, aber beide verkörpern die Vergangenheit. Führer, die für
die Zukunft Libyens stehen, hat die Revolte nicht hervorgebracht. |