Viel Provinz und wenig Geld |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.05.2011
Die griechische Depression hat sich längst von Athen aus bis in
den letzten Winkel des Landes ausgebreitet. In Kozani schließen die
Zechen, in Naoussa hoffen sie auf Alexander den Großen
KOZANI/NAOUSSA. Die Kundschaft wurde weniger. Eines Tages konnte Dimitris die Miete nicht mehr zahlen. Schließlich räumte er seinen Jeans-Laden, nach nur zwei Jahren. "Wäre ich bloß in Deutschland geblieben", ärgert sich der Grieche, der in Gelsenkirchen Früchte und Gemüse verkaufte, "wir lebten nicht schlecht, aber meine Frau wollte zurück." Nun verbringt er seine Tage auf dem Hauptplatz von Kozani und schlürft kalten Kaffee. Wie Kostas, mit dem Dimitris einst die Schulbank gedrückt hat. Der hat sein Restaurant vor einer Woche dichtgemacht: "Meine Stammgäste aßen immer häufiger selbst am Sonntag lieber zu Hause." Und Orestis, der zwanzig Jahre als Typograf in einer Klitsche arbeitete, die zu Jahresbeginn Insolvenz anmeldete, sagt nur: "Mein Leben ist zu Ende. Mit 45 kriege ich doch nirgends mehr einen Job. Was aus den drei Kindern einmal werden soll, weiß ich nicht. Wahrscheinlich werden sie auswandern." Alle klagen, alle jammern, alle stöhnen.
Das Bild vom fröhlichen Volk der Griechen war schon immer trügerisch,
doch jetzt ist es zerbrochen. In Kozani, einer Kleinstadt in
Nordgriechenland, herrscht Depression, und kein Licht erscheint am
Horizont. Angestellte im öffentlichen Dienst verdienen über zwanzig
Prozent weniger als noch vor einem Jahr - und dies bei steigenden
Preisen. Die Zeiten sind vorbei, als Hellenic Petroleum, der staatliche
Erdölkonzern, seinen Beschäftigten 18 Monatslöhne bezahlte. Auch wurden
die Prämien für pünktliches Erscheinen ersatzlos gestrichen. Griechenland
ist pleite. Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Haushalt zu
sanieren: Man kann die Einnahmen erhöhen oder die Ausgaben reduzieren.
Das hoch verschuldete Griechenland hat beides gleichzeitig versucht. Die
Mehrwertsteuer wurde angehoben und bei den Ausgaben wurde radikal
gespart - mit dem Effekt, dass innerhalb eines Jahres 65000 Firmen
eingingen und das ohnehin große Arbeitslosenheer 200000 Neuzugänge
bekam, was wiederum zu einer Verminderung des Steueraufkommens führte.
Unter dem Strich bleibt eine tiefe Rezession. Die Dreckschleudern
Europas So wird nun das Tafelsilber verkauft. Der sozialistische Ministerpräsident Giorgos Papandreou will über den Verkauf öffentlicher Unternehmen fünfzig Milliarden Euro erlösen. Sogar Häfen und Airports werden angeboten. Die Privatisierungswelle löst in Griechenland
Ängste aus, die längst auch Kozani erreicht haben. Hier liegen vier
Braunkohleminen und fünf Kraftwerke. Darunter die beiden größten
Dreckschleudern Europas. Die Gegend ist gezeichnet von Schornsteinen,
Kühltürmen und Betonklötzen, die wie Spielzeuge eines Riesen wirken, die
planlos in die Landschaft geworfen wurden. Ein Gewirr von
Hochspannungsleitungen durchzieht die grüne Ebene, über der eine zarte
bräunliche Dunstglocke schwebt. Das makedonische Kozani ist auch die
Heimat von DEI, der staatlich kontrollierten Stromgesellschaft, die
achtzig Prozent des Landes mit Energie versorgt. Noch besitzt der
griechische Staat 51 Prozent der Aktien von DEI. Jetzt will er ein
Drittel der Wertpapiere an Privatinvestoren verkaufen, um seine Schulden
abzubauen. Dimitris Papavramidis ist Direktor von Ptolemais, des
ältesten Kohlekraftwerks ganz Griechenlands. An der Wand seines Büros
hängen Gemälde und Fotos von sauberen Industrieanlagen, eleganten
Kaminen, schlanken Röhren und Förderbändern. Die Bilder stammen aus
einer Zeit, in der Kohle für Fortschritt und Moderne stand. Was
Papavramidis von der Privatisierung hält? "Das ist Sache der Regierung
in Athen", meint der Direktor ausweichend. Aber man sieht ihm an, dass
er mit deren Plänen hadert. Immerhin warf DEI im vergangenen Jahr einen
Profit von 600 Millionen Euro ab. Für die Umwelt aber zeichnet sich eine
lichte Zukunft ab. Die Dreckschleudern werden stillgelegt. Mit Hilfe
von Auslandskapital soll hier die größte Solaranlage Europas entstehen.
Die rund 4000 Beschäftigten der Kraftwerke und Minen aber sind dann
überflüssig. Die Fotovoltaik erfordert andere Qualifikationen als der
Bergbau. Schon deshalb wendet sich Georgios Katanas vehement gegen
die Privatisierung. "Die Regierung darf das Steuer nicht aus der Hand
geben", sagt der Gewerkschaftler, "der Staat muss eine Aktienmehrheit
behalten." Katanas ist in der Führung der Genop-DEI aktiv, der
Gewerkschaft der vergleichsweise gut bezahlten Elektrizitätsarbeiter von
DEI. Konzernleitung und Arbeitnehmervertretung arbeiten in dem
Unternehmen Hand in Hand. Die DEI zieht bei ihren Beschäftigten die
Beiträge für die Gewerkschaft ein und alimentiert diese zudem jährlich
mit 2,5 Millionen Euro. Den Generalstreik gegen die Regierung
Mitte Mai hat Georgios Katanas begrüßt. Immer wieder sorgt die
Gewerkschaft für eine Unterbrechung der Stromversorgung. Ob er an einen
Erfolg der Proteste glaubt? Katanas lächelt verlegen. Er weiß, dass es
Rückzugsgefechte sind. Zugeben würde er es nie. Aber er ist überzeugt:
"Wenn die Privatisierung kommt, dann werden hier Tausende arbeitslos."
Dann wird Kozani nie mehr sein, was es mal war: eine stolze Stadt mit
stolzen Arbeitern. "Was Kozani noch vor sich hat, haben wir
bereits hinter uns", sagt Anastasios Karabatsos, Bürgermeister der
dreißig Kilometer nordöstlich gelegenen Stadt Naoussa. Die Ortschaft am
Fuß des dicht bewaldeten Vermio-Gebirges liegt inmitten von
Obstplantagen und Weinbergen. Die Luft ist sauber. Aus den Fabrikkaminen
steigt kein Rauch mehr auf. Naoussa ist die Gemeinde mit der höchsten
Arbeitslosigkeitsrate Griechenlands. Zweiundvierzig Prozent, sagen die
Leute auf der Straße. So soll es in der Zeitung gestanden haben. Na ja,
dreißig Prozent, meint etwas vorsichtiger der "Bürgermeister der
heroischen Stadt", wie er sich auf seiner Visitenkarte nennt. Der Name
geht auf den griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische
Reich zurück. 1822 kam es in Naoussa zu heftigen Kämpfen. Die Türken
obsiegten, und als Rache massakrierten sie in der Stadt 1241 Griechen.
Vermutlich, um einer Vergewaltigung durch die Soldateska zu entgehen,
stürzten sich danach dreizehn Frauen mit ihren Kindern von den Felsen in
die Aranitza, den Fluss, der Naoussa durchzieht. Das sei historisch
verbürgt, sagt der Bürgermeister. Jedenfalls gibt es ein Denkmal. Derselbe
Fluss, in den die verzweifelten Frauen sprangen, hat die Stadt später
zu einer der reichsten Nordgriechenlands gemacht - zum Manchester des
Balkans, wie man hier sagte, bevor die englische Industriemetropole
verrottete. An der Aranitza, deren Wasserkraft die Maschinen antrieb,
entstanden zahlreiche Spinnereien. Von der großen Zeit künden an ihren
beiden Ufern alte leerstehende Fabriken, in denen einst aus heimischer
Baumwolle Garn gesponnen wurde. Vor fünfzig Jahren hatte Naoussa 12000
Einwohner, von denen 4000 in der Textilbranche arbeiteten. Den Todesstoß
versetzte der Branche die Öffnung des Eisernen Vorhangs. Innerhalb von
wenigen Jahren wanderten die Firmen wegen günstigerer Lohnkosten ab, vor
allem nach Bulgarien. Heute gibt es in Naoussa nur noch eine einzige
Textilfabrik. Sie steht außerhalb der Stadt und beschäftigt gerade mal
200 Leute. Der wirtschaftliche Niedergang ist augenfällig. In der
Laranas-Straße, dem nach dem erfolgreichsten örtlichen Textilunternehmer
benannten größten Boulevard von Naoussa, stehen viele Geschäfte leer. Entwicklungspotenzial
für seine Stadt sieht Bürgermeister Karabatsos vor allem im Tourismus -
und hofft dabei vom Ruhm der benachbarten Orte Pella und Vergina zu
profitieren. In Pella wurde Alexander der Große geboren, der in seinem
kurzen, nur dreiunddreißig Jahre dauernden Leben ein Reich gründete, das
von Makedonien bis zu den Ufern des Indus reichte. Die alte Königsstadt
ist bloß zu einem kleinen Teil ausgegraben. In Vergina hingegen ist das
erst 1977 entdeckte Grab Philipps II., Vater von Alexander dem Großen,
einen Besuch wert. Man konnte es dem König zuordnen, weil man zwei
unterschiedlich lange goldene Beinschienen einer Prunkrüstung fand und
aus der Literatur wusste, dass das eine Bein des Monarchen kürzer als
das andere war. Das Grab steht inzwischen auf der Unesco-Liste des
Weltkulturerbes der Menschheit. Auch Naoussa selbst kann zu dieser
über 2300 Jahre alten Geschichte etwas beitragen. Außerhalb der Stadt
hat man Reste jener Schule freigelegt, in der der Philosoph Aristoteles,
Begründer der klassischen Logik, einst den 14-jährigen Alexander
unterrichtet hatte. Es biete sich geradezu an, Synergien zu entwickeln
und die drei antiken Fundstätten im Verbund touristisch zu vermarkten,
sagt Karabatsos. Wenn Touristen kommen, braucht man Hotels mit
Zimmermädchen, Restaurants mit Kellnern, Stadtführer, Taxichauffeure. So
ließe sich womöglich eine Aufwärtsspirale in Gang setzen, wo es bis
jetzt doch immer nur abwärts gegangen ist. Einfach zu teuer Im
Übrigen setzt der Bürgermeister auf die Landwirtschaft. In Naoussa,
behauptet er, wüchsen die besten Pfirsiche der Welt. Das ist wohl
übertrieben. Ein Großteil der Ernte wird jedenfalls nach Russland
exportiert. Womit aber Anastasios Karabatsos durchaus recht haben
könnte, oder worin ihm zumindest die meisten Nordgriechen recht geben:
In Naoussa wächst der beste Wein Griechenlands. Von hier stammt der
Xinomavro, auf deutsch: sauerschwarz, ein dunkler Wein mit hohem
Säuregehalt. Er wird mindestens ein Jahr lang im Eichenfass gelagert. Doch
nun hat die Krise auch den Weinbau erreicht. "Ein guter Xinomavro von
den lehmig-steinigen Böden der Osthänge der Vermio-Berge ist für viele
Griechen einfach zu teuer geworden", sagt Yiannis Dalamara, einer der
drei Winzer von Naoussa, die nur biologisch Wein anbauen, "mein Absatz
ist im letzten Jahr um dreißig Prozent eingesackt." Eine Zeit lang hat
Dalamara, der in fünfter Generation Weinbau betreibt, seinen Negoska,
eine säureärmere Sorte, für 36 Euro die Flasche an Lafayette in Paris
verkauft. Dieses Jahr hat er auf dem norwegischen Markt Fuß gefasst.
Aber er bekommt die Depression doch zu spüren. Früher konnte er in
seiner Degustationsabteilung jährlich 4000 bis 5000 Besucher begrüßen,
jetzt sind es deutlich weniger geworden. Anastasios Karabatsos,
der Bürgermeister, hofft, dass in der Krise nun viele jüngere Griechen
aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft ein Auskommen
suchen. Dalamara ist da skeptisch. Er hält sich, wie die andern Winzer
auch, an die Albaner. "Das sind gute Arbeiter", sagt er, "und die jungen
Griechen wollen nicht mehr Wein lesen, die wollen alle Chefs sein." Vielleicht
aber ist es auch einfach eine Frage des Geldes: Die Griechen machen es
für diesen Lohn nicht, nicht für vierzig Euro am Tag, die Albaner
hingegen schon. Und natürlich wird ein Winzer versuchen, seine Kosten
niedrig zu halten, damit er konkurrieren kann, damit er selbst ein
Einkommen findet, damit es sich auch rechnet? Weshalb sollten für ihn
andere Regeln, eine andere Logik gelten als für den siechen Staat der
Griechen? |