Die enttäuschten Revolutionäre |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.06.2011
In Tunesien gibt es seit dem Sturz des Diktators mehr Probleme
als davor. Das führt zu Unruhe und Gewalt. In Metlaoui, im Süden des
Landes, werden Menschen massakriert. Anhänger des gestürzten Regimes
sollen dahinter stecken. Sie planen offenbar den
Gegenschlag
METLAOUI. Es ist ein grauenhaftes Foto, eines jener Bilder, das man sofort wieder vergessen möchte und das sich doch tief ins Gedächtnis einbrennt. Da liegt, in Nahaufnahme, ein junger Mann mit nacktem blutendem Oberkörper auf dem Pflaster, ein Auge weit geöffnet. In dem anderen Auge steckt ein langes Messer. Jamil Tababi, der vor seinem ausgebrannten Laden steht, schaltet das Handy aus, und das Foto des toten Mannes verschwindet vom Display. Mohamed Ghezali hieß der Mann. Er ist einer von dreizehn Menschen, die bei Stammesfehden in Metlaoui umgekommen sind. Metlaoui ist eine Stadt im Zentrum Tunesiens. Hier befindet sich die größte Phosphatmine des Landes. Allah, so sagen die Leute hier, hat die Gegend mit Reichtum gesegnet, aber die Menschen sind arm. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Metlaoui ist momentan die einzige Stadt Tunesiens, in der es eine Ausgangssperre gibt. Sie beginnt ab 18 Uhr und dauert bis 6 Uhr früh. Die tödlichen
Auseinandersetzungen vor zwei Wochen waren die schlimmsten im ganzen
Land seit der Jasmin-Revolution vom 14. Januar. Damals wurde der
Diktator Zine El Abidine Ben Ali ins Exil gejagt. An diesem Montag
beginnt in Abwesenheit des Angeklagten ein Strafprozess gegen Ben Ali in
Tunis. Doch es spricht vieles dafür, dass sich hier in Metlaoui die
alten Kräfte mit ihrer Niederlage noch lange nicht abgefunden haben. Angriff
und Rache Tababi, der Mann mit dem schrecklichen Foto in seinem
Handy, verkaufte in der Marktgasse von Metlaoui Mobiltelefone. Er
berichtet, eine Horde vom Stamme der Bouyahia sei zu seinem Laden
gekommen. Die Angreifer hätten geschrien, er sei ein Fremder. Sie hätten
erst seinen Laden geplündert und danach in Brand gesteckt. Gegenüber,
auf der andern Straßenseite, liegt die verkohlte Imbissbude von Chabam
Rejab. Er hat drei Kinder und weiß nicht, wie er sie nun ernähren soll.
Der große Ofen für die Hähnchen ist weg. Wie auch der Herd, auf dem er
seit Jahren Steaks, Schawarma und Würste gebraten hat. "Es waren
Bouyahia", sagt Rejab, "es war am Freitag." In der rußgeschwärzten
Metzgerei von Amor Dinari, die gleich neben Rejabs Ruine steht, stinkt
es entsetzlich nach verwestem Fleisch. "Sie kamen am Samstag", berichtet
der Metzger. Er vermutet, es waren Leute vom Stamm der Eljeridaya, die
Rache üben wollten. Weil Dinari ein Bouyahia ist, einer der wenigen
unter den Ladenbesitzern der Marktgasse. "Chabam und ich waren immer
Freunde", betont er, "ich habe ihm seit Jahren das Fleisch geliefert,
und natürlich bleiben wir Freunde." Nein, Stammesauskämpfe seien das
nicht, betonen beide einmütig, da seien Provokateure am Werk. Bouyahia,
Eljeridaya, Slama, Maâmar - jeder weiß hier, welchem Stamm er angehört.
Doch behaupten in der Marktgasse alle, die Stammeszugehörigkeit habe
nie eine Rolle gespielt. Man habe sich vielleicht gehänselt, mal Witze
übereinander gemacht. Als vor drei Jahren im ganzen Phosphat-Gebiet
Streiks ausbrachen, die sechs Monate lang andauerten, die einzigen
großen Unruhen in Tunesien während der 23 Jahre dauernden Diktatur Ben
Alis, da hätten jedenfalls alle zusammengestanden und gemeinsam
gekämpft. Und natürlich auch bei der Revolution im Januar. Metlaoui
ist eine junge Stadt. Sie wurde von den Franzosen gegründet, die 1881
in Tunesien einmarschierten, ein Protektorat errichteten und schon
wenige Jahre später hier Phosphate fanden. Von weither kamen damals die
Leute, um in Bergwerken zu arbeiten. Noch immer gibt es in Metlaoui ein
französisches, ein libysches, ein algerisches und ein marokkanisches
Viertel, auch wenn die Kolonialherren und Gastarbeiter längst abgezogen
sind. Die Angehörigen der verschiedenen Stämme leben aber auch
heute noch in getrennten Stadtvierteln. Die Bouyahia haben sich auf der
linken Seite der Hauptstraße angesiedelt, die Eljeridaya im algerischen
Viertel, in dem der Hauptmarkt liegt. Viele Bouyahia behaupten, die
Stadt gehöre ihnen, weil schon der große tunesische Schriftsteller
Mostafa Khraief sie als Erde der Bouyahia bezeichnet habe, und die
Eljerdaya seien gar kein Stamm, sondern nur Leute, die aus dem nahen
Dorf El-Jerid zugewandert seien. Faouzi, der seinen Nachnamen
nicht nennen will, mag sich keinem Stamm zuordnen. Er ist Abkömmling
algerischer Einwanderer und handelt mit Farben und Lacken, mit Pinseln
und Malerrollen, mit Gips und Zement, ein lukratives Geschäft in Zeiten,
in denen zerstörte Läden renoviert werden müssen. Er behauptet, nach
einer Auseinandersetzung um den Verkauf von Haschisch habe eine Bande
von Bouyahia einen Eljeridaya getötet. Noch am selben Freitag habe der
inzwischen festgenommene Polizeileutnant Mansur Brahmi vom Minarett der
Moschee herab gezielt ein 14-jähriges Eljeridaya-Mädchen erschossen, um
die Situation anzuheizen. Später sei auch Mohamed Ghezali, der tote Mann
auf dem Foto, ebenfalls Eljeridaya, bedroht worden. Dieser habe sich
zusammen mit seinem Vater in seiner Werkstatt verschanzt und schließlich
aus Notwehr auf die Angreifer geschossen. Etwa fünf Bouyahia seien
dabei umgekommen. Am Sonntag, als schon tausende Bouyahias plündernd den
Stadtteil der Eljeridayas überfielen, sei dann Mohamed unter den Augen
der Polizei gelyncht worden. Man habe ihm das Herz herausgerissen, die
Genitalien abgeschnitten und ein Messer ins Auge gerammt. Auch Nasredin,
sein Vater sei getötet worden. Mit Messern und Jagdflinten Habib
Ghezali, Bruder Nasredins und Onkel Mohameds, ist Pedell einer
Grundschule. Vor seinem Haus stehen fünf Automotoren, die er aus der
ausgebrannten Werkstatt seines Neffen gerettet hat. Er legt eine DVD in
seinen Laptop ein und zeigt drei Kurzfilme. Auf dem ersten ist deutlich
zu erkennen, wie mit Stöcken, Messern und Jagdflinten bewaffnete
Menschen auf andere Menschen einschlagen, ein zweiter zeigt, wie sein
Neffe mit Füßen getreten wird, und auf einem dritten ist dessen
verstümmelte Leiche im Krankenhaus zu sehen. Es sind Videos, die über
Facebook verschickt werden. Jeder hier hat sie gesehen. Vor einem halben
Jahr führten Filme von prügelnden Polizisten im Internet zum Aufstand
gegen Ben Ali. Jetzt scheinen die Gräben zwischen den Stämmen
aufzureißen. Die Jasmin-Revolution, die zum arabischen Frühling
führte, begann mit der Selbstverbrennung eines arbeitslosen Jugendlichen
in Sidi Bouzid, das unweit von Gafsa liegt, im Landesinnern, da wo die
Arbeitslosigkeit am höchsten ist. Eine relativ gut gebildete Jugend
begehrte auf und forderte Arbeit und ein Leben in Würde, ohne ständige
Entmündigung, ohne Angst vor Polizeiknüppeln und Folter. Arbeit, das
bedeutet, eine Wohnung kaufen und eine Familie gründen zu können. Wer
Arbeit hat, hat eine Zukunft. Die Revolution hat gesiegt, vorerst
jedenfalls. Aber die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Tunesien produziert
heute weniger als vor einem Jahr und die Einnahmen aus dem Tourismus
haben sich halbiert. Die Revolutionsgewinner haben also heute mehr
Probleme als vor der Revolution. Das macht die Lage so gefährlich.
Gewaltausbrüche wie die in Metlaoui können schnell das ganze Land
erfassen. Auch wenn niemand so genau zu wissen scheint, wer hier
eigentlich gegen wen kämpft. Nichts ist gefährlicher als das Chaos. Habib
Ghezali, der Onkel des massakrierten Mohamed, denkt, dass irgendwelche
dunklen Kräfte des alten Regimes die Bouyahia aufgestachelt haben.
Kräfte, die letztlich auch die Polizei steuern würden. "Weshalb denn
sonst hat die Polizei zwei Tage lang nicht eingegriffen, obwohl
achttausend Bouyahias plündernd und brandschatzend durch die Stadt
zogen?" Diese Frage stellt sich auch Ali Kalthoum. Der
Rechtsanwalt in Gafsa, der Hauptstadt des Regierungsbezirks, verteidigt
zwei Angehörige von Opfern der Auseinandersetzungen. Er selbst ist auch
Bouyahia, aber weit davon entfernt, seinen Stamm in Schutz zu nehmen.
"Wie ist es möglich, dass die Polizei zwei Tage lang nicht eingreift,
nachher aber fähig ist, innerhalb von kurzer Zeit 106 mutmaßliche Täter
festzunehmen?", fragt er. "Und weshalb wurde niemandem die Waffe
abgenommen?" Der Polizeikommissar Raja, der seinen wirklichen
Namen nicht in der Zeitung lesen will, gilt in Gafsa als ehrlicher Mann.
Der Kommissar behauptet, schon am Montag vor den Auseinandersetzungen
seien die beiden Polizeistationen von Metlaoui angezündet worden. Die
Polizisten hätten sich in der Stadt nicht mehr auf die Straße getraut,
als Tausende randalierend und vandalierend über die Marktstraße zogen.
Denn seit der Revolution darf die wegen Korruption und Folter weithin
verhasste Polizei keine Schusswaffen mehr tragen. "In Metlaoui aber",
sagt Raja, "hat so gut wie jeder, ob Bouyahia, Eljeridaya oder Slama,
eine Jagdflinte." In der vergangenen Woche demonstrierte in Gafsa die
Polizei - für Helme und schusssichere Westen. Und wie konnte die
unbewaffnete Polizei in der aufgeheizten Stimmung dann 106 Personen
festnehmen? Man habe bewaffnete Spezialeinheiten der Nationalgarde aus
Tunis herbeibeordert, sagt Raja. Geheime Machtspiele "Im
Bezirk Gafsa", sagt Mohamed Miraoui, Sekretär der UGTT, des mächtigen
Gewerkschaftsverbandes, "beträgt die Arbeitslosigkeit heute 40 Prozent.
Da sind die relativ gut bezahlten Arbeitsplätze im staatlichen
Phosphat-Konzern CPG für viele die einzige Hoffnung, ein Leben voller
Entbehrung hinter sich zu lassen und sich eine Zukunft zu bauen." Bis
2008 oblag es der örtlichen Gewerkschaft, die Arbeitsplätze zu
verteilen. Miraouis Vorgänger, Amara Abbassi, aber war ein Bouyahia, und
sein Stamm kontrollierte auch die Gewerkschaftssektion von Metlaoui und
damit den Zugang zu den Arbeitsplätzen bei der CPG. "Da gab es viel
Günstlingswirtschaft", gibt Miraoui zu. Mit der Revolution aber musste
Abbassi, ein Mann des Regimes, der gleichzeitig nationaler Abgeordneter
der inzwischen aufgelösten Regierungspartei RCD war, den Hut nehmen. Mit
ihm verloren die Bouyahia in Metlaoui ihren wichtigsten Fürsprecher.
Dass im März dann ein Schreiben der CPG auftauchte, in dem der Konzern
zwei Drittel aller neuen Arbeitsplätze den Bouyahia versprach, obwohl
sie nur einen Drittel der örtlichen Bevölkerung ausmachen, war eine
gezielte Provokation der alten abgehalfterten Notabeln der Region. Sie
hetzen die Stämme gegeneinander auf, um Unruhe zu schaffen und die
Sehnsucht nach Ordnung zu befördern, nach der alten Ordnung. Darin sind
sich der neue Gewerkschaftssekretär, der Polizeikommissar, der
Rechtsanwalt und viele Bewohner von Metlaoui einig. Die sozialen
Spannungen haben auch wirtschaftliche Folgen. So ist die Förderung von
Phosphat seit der Revolution um 60 Prozent zurückgegangen, weil
Arbeitslose immer wieder Zugangsstraßen zu den Bergwerken blockieren
oder die Gleise, auf denen das Phosphat zur Weiterverarbeitung nach
Gabès, an die Küste, transportiert wird. Vor dem
Verwaltungsgebäude der Chemischen Gruppe Gafsa, dem zweitgrößten
Arbeitgeber der Region, haben Arbeitslose ein Zelt aufgebaut. Der
Konzern, der zu 70 Prozent in staatlicher Hand liegt und Phosphat
verarbeitet, hat 300 Arbeitsplätze, verteilt über den ganzen Bezirk,
ausgeschrieben. 12000 Bewerbungen sind eingegangen. Auch Sofian Fatoum
hat seine Unterlagen eingeschickt. Der diplomierte Chemiker hat Chancen,
wenn es gerecht zugeht. Denn Langzeitarbeitslose, Ältere und sozial
Schwache werden bevorzugt. Sofian ist seit neun Jahren arbeitslos, 36
Jahre alt und lebt notgedrungen noch immer bei seinen Eltern. Wenn er
den Job kriegt, wird er 600 Dinar - umgerechnet 300 Euro - monatlich
verdienen. Wenn er tüchtig spart, wird er eine Familie in einem Alter
gründen können, in dem man hier früher Großvater wurde. Mohamed
Ismail, der schon zwei Wochen hier campiert, hat nicht allzu viel
Vertrauen ins Management des Chemiekonzerns. Er zückt ein Papier, auf
dem die Verteilung der Arbeitsplätze auf die verschiedenen Gemeinden des
Bezirks ersichtlich ist. "Die Jobs werden nicht proportional zur
Einwohnerzahl vergeben", stellt der diplomierte Elektriker fest.
Gemeinden, in denen Arbeitslose Straßen sperrten oder die Wasserzufuhr
unterbrachen, werden offenbar bevorzugt, um die Gemüter zu beruhigen.
"Wir haben den Verwaltungsangestellten Schokoladen und Blumen gebracht",
sagt Mohamed, "um zu zeigen, dass es auch friedlich geht." Blockaden
mag auch er nun nicht mehr ausschließen. Doch man werde sich auf keinen
Fall wie die Leute in Metlaoui manipulieren lassen. Über die
Stammesfehde haben die Arbeitslosen im Zelt lang diskutiert. Dann haben
sie eine Kollekte gemacht und 125 Liter Milch, 600 Liter Mineralwasser,
Biskuit und Zucker nach Metlaoui gebracht, wo der Markt seit zwei Wochen
geschlossen ist. Es sieht so aus, als häten sie erkannt, was zu tun
ist, um die Gewalt einzudämmen. Sie lassen sich nicht verrückt machen
und bleiben freundliche Menschen. Das ist schon eine ganze Menge in
diesen Tagen. |