Panthersprung nach Agadir |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 02.07.2011Vor hundert Jahren ging ein deutsches Kanonenboot in Marokko vor
Anker. Die Provokation endete in einer politischen Niederlage und
beflügelte jene, die den großen Krieg wollten.
Das deutsche Kanonenboot "SMS Panther" war an der ostafrikanischen Küste gegen arabische Sklavenhändler im Einsatz gewesen. Es hatte das Kap der Guten Hoffnung umrundet und befand sich vor Senegal, als sein Kommandant, Korvettenkapitän Behnisch, über Funk Order erhielt, am 1. Juli 1911 in der südmarokkanischen Hafenstadt Agadir vor Anker zu gehen. Mit nur zwei Schnellladekanonen und sechs Revolverkanonen bestückt, wirkte die "Panther" nicht sonderlich bedrohlich. Allenfalls mochten die neunköpfige Blaskapelle und die Kriegsflagge des Deutschen Reiches Einheimische beeindrucken. Offiziell
wurde der "Panthersprung nach Agadir", wie die nationalistische
Propaganda die Provokation nannte, damit begründet, dass in der
südmarokkanischen Stadt deutsches Leben und Eigentum durch aufständische
Stämme gefährdet seien. Das Auswärtige Amt entwarf einen "Hilferuf
deutscher Firmen" und setzte darunter bereits zuvor eingesammelte
Blanko-Unterschriften. Und da es in Agadir keine deutschen Firmen gab
und dort auch kein einziger Deutscher wohnte, hatte man Hermann Wilberg,
einen Angestellten der Hamburg-Marokko-Gesellschaft, losgeschickt, "um
den gefährdeten Deutschen darzustellen", wie sich Friedrich Rosen, der
deutsche Gesandte in Tanger, ausdrückte. Wilberg traf am 4. Juli in
Agadir ein - drei Tage nach dem "Panther". Einen Tag nach seiner Ankunft
gelang es ihm, sich von der kaiserlichen Marine "retten" zu lassen. In
der Heimat jubelte die konservative Presse. "Hurra!", schrie es aus der
Rheinisch-Westfälischen Zeitung, dem Sprachrohr der in Marokko
engagierten Schwerindustrie. "Endlich eine Tat! Eine befreiende Tat, die
den Nebel bittersten Missmutes in deutschen Landen zerreißen muss."
Endlich sei die "volksstärkste Nation Europas", die sich "auf ein Heer
von 500000 Bajonetten stützen" könne, aus dem Dornröschenschlaf erwacht.
Der sozialdemokratische Vorwärts hingegen fragte besorgt: "Hat sich die
Regierung von den Marokkotreibern breitschlagen lassen?" Die
Marokkotreiber - das waren vor allem die Führer des Alldeutschen
Verbandes, einer nationalistischen und militaristischen Organisation,
die völkisches und antisemitisches Gedankengut pflegte und einer
aggressiven deutschen Expansionspolitik das Wort redete. Für Heinrich
Claß, 1911 Vorsitzender des Verbands, waren die Deutschen - wie später
für Hitler - ein "Volk ohne Raum". Schon Bernhard von Bülow hatte als
Sekretär des Auswärtigen Amtes, wie im Deutschen Reich der Außenminister
genannt wurde, mehr deutsche Kolonien gefordert. "Wir wollen niemand in
den Schatten stellen", hatte er in einer Reichstagsdebatte 1897 gesagt,
"aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne." 1904
verbündeten sich England und Frankreich zur Entente cordiale (herzliches
Einverständnis), um ihre Einflusssphären im "Wettlauf um Afrika"
abzustecken. Frankreich ließ England in Ägypten freie Hand und durfte im
Gegenzug Marokko als seinen Hinterhof betrachten. Im folgenden Jahr
stattete der deutsche Kaiser Wilhelm II. - auf Drängen von Bülows, der
inzwischen Reichskanzler geworden war - dem Sultan Abd al-Aziz in Tanger
einen Staatsbesuch ab, bezeugte ihm schriftlich seine Anerkennung der
Souveränität Marokkos und löste damit die Erste Marokko-Krise aus. Sie
wurde 1906 auf einer Konferenz im andalusischen Algeciras beigelegt: Die
Unterzeichner der Algeciras-Akte, neben Marokko elf europäische Staaten
und die USA, räumten sich nach dem "Prinzip der offenen Tür" eine
generelle Handelsfreiheit ein. Frankreich und Spanien wurde die
Verwaltung des Bankwesens sowie der Polizei in den Häfen übertragen.
1909 schlossen Deutschland und Frankreich ein weiteres Abkommen ab, in
dem bei Anerkennung der Souveränität Marokkos Frankreich eine politische
Vorrangstellung zugestanden und die generelle Handelsfreiheit
bekräftigt wurde. Damit hatte das Deutsche Reich auf politische
Ambitionen in Marokko verzichtet, nicht aber der Alldeutsche Verband.
Als es im Februar 1911 nahe der nordmarokkanischen Stadt Fès zu
Berberaufständen kam, marschierten französische Truppen ein. Frankreich
kam damit zwar einem Hilferuf von Sultan Mulay Hafid nach, der seinen
Halbbruder drei Jahre zuvor vom Thron gestoßen hatte. Doch es war
offensichtlich, dass es den Appell zum Anlass nahm, einen der letzten
noch souveränen Staaten Afrikas zu kolonisieren. Für die Deutschen war
damit die Algeciras-Akte endgültig obsolet. Das Auswärtige Amt in
Berlin wurde seit 1910 von Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter
geleitet. Er hatte einst den Herausgeber des Satireblatts
"Kladderadatsch" wegen einer despektierlichen Äußerung zum Duell
aufgefordert und ihn an der Schulter verletzt. Das brachte ihm eine
Verurteilung zu vier Monaten Festungshaft ein, wovon er jedoch nur zwei
Wochen absitzen musste. Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch. Der
Schwabe galt als geschickter Diplomat. Visionen wurden ihm allerdings
nie nachgesagt. Theobald von Bethmann Hollweg, seit 1909 Reichskanzler
und außenpolitisch völlig unerfahren, ließ seinen Minister gewähren. Kiderlen-Wächter
wusste, dass Deutschland keine Chance hatte, Teile Marokkos zu
annektieren. Just dies forderten aber die Alldeutschen nun immer
vehementer, um deutsche Interessen zu sichern. Immerhin hatten die
Brüder Mannesmann Konzessionen an der Ausbeutung von Erzvorkommen
erworben, und Krupp lieferte dem Sultan Waffen aller Art. Der
Centralverband deutscher Industrieller forderte in einer Stellungnahme,
dass die marokkanische Frage in einer Art gelöst wird, "wie es der
wirtschaftlichen Machtstellung Deutschlands, unserem Anteil am
Welthandel und den Aufgaben entspricht, die das Deutsche Reich als
politische Großmacht zu erfüllen hat". Und selbst das linksliberale
Berliner Tageblatt fragte sich: "Sollen wir achselzuckend zustimmen,
wenn Frankreich auf keuschen Umwegen ganz Marokko an sich bringt?" Kiderlen-Wächter
hoffte, mit dem "Panthersprung nach Agadir", für den er den Kaiser nur
mit viel Überredungskunst gewinnen konnte, die nationalen Aufwallungen
dämpfen zu können. Doch regte er mit der Kanonenbootpolitik den Appetit
der Alldeutschen erst recht an und löste die Zweite Marokko-Krise aus.
Claß verfasste eine Flugschrift mit dem Titel "Westmarokko deutsch!"
Thyssen und andere Industrielle forderten eine Sicherung der
Rohstoffversorgung aus Marokko. Auch der Generalstabschef Helmuth von
Moltke war für eine militärische Lösung. "Wenn wir aus dieser Affäre
wieder mit eingezogenem Schwanz herausschleichen", schrieb er seiner
Frau, "dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches. Dann
gehe ich." England und Frankreich waren alarmiert. Doch
Kiderlen-Wächter wollte gar nie marokkanisches Territorium annektieren.
Für ihn schaffte der "Panthersprung" vor allem ein Faustpfand, das er
gegen Konzessionen Frankreichs in andern Regionen Afrikas einzulösen
gedachte. Die "Panther" war zwar schon drei Wochen durch den Kreuzer
"Berlin" abgelöst worden. Bis Ende November sollte aber immer ein
deutsches Kriegsschiff vor Agadir liegen. Deutschland hatte in Afrika
vier Kolonien: Togo, Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Kamerun und
Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi). Sie lagen fernab
voneinander. Kiderlen-Wächter schwebte ein geschlossenes deutsches
Kolonialreich vom Atlantik bis zum Indischen Ozean vor. So forderte er
nun von Paris den gesamten Französischen Kongo, ein Gebiet etwa so groß
wie das Deutsche Reich, um diesem Ziel näherzukommen. Man bräuchte dann
nur noch den Belgischen Kongo aufzuteilen, und es wäre erreicht. Bis
zum September 1911 drohte die Zweite Marokko-Krise, in einen Krieg
zwischen Frankreich und Deutschland zu münden. Paris und London
kündigten im August an, je ein Kriegsschiff nach Agadir zu schicken.
Kaiser Wilhelm II. war empört und forderte eine "Réparation d'honneur",
denn "hier handelt es sich um eine colossale französische
Unverschämtheit ..., die ich als eine Ohrfeige empfinde". Doch
schließlich mussten die Deutschen einlenken. England hatte seine Entente
cordiale mit Frankreich bekräftigt. Österreich-Ungarn, mit dem
Deutschen Reich im Dreibund alliiert, sah im Konflikt um Marokko keinen
Bündnisfall. Der sozialdemokratische Widerstand im Land selbst nahm zu.
Die Kriegsmarine signalisierte, dass sie für eine Auseinandersetzung
noch nicht gerüstet sei. Und in Berlin hoben viele aus Angst vor einem
Krieg ihre Guthaben bei den Banken ab. Ein Kurssturz war die Folge,
weshalb auch viele Bankiers auf einen Kompromiss drängten. Während
die Alldeutschen noch immer in schrillen Tönen Annexionen forderten -
notfalls auf militärischem Weg, bahnten sich politische Verhandlungen
an. Am 4. November schließlich wurde der Marokko-Kongo-Vertrag
unterzeichnet: Deutschland erkannte die französische Vorherrschaft über
Marokko an, das im folgenden Jahr - mit Ausnahme des
Mittelmeerstreifens, der unter spanische Herrschaft fiel - französisches
Protektorat wurde. Im Gegenzug trat Frankreich einen kleinen Teil
seines Kongo an Deutschland ab. Das neu erworbene Gebiet - Neu-Kamerun
genannt - grenzte an Kamerun wie an den Belgischen Kongo. Um den
Franzosen den Verlust zu versüßen, überließen ihnen die Deutschen die
nördlichste Ecke des Kamerun. Für die Alldeutschen wie auch für
weite Kreise der Militärs war das Abkommen eine Schmach. Ihre Träume von
einem großen deutschen Kolonialreich in Afrika waren geplatzt.
Deutschland hatte seine Interessen auf politischem Weg nicht
durchgesetzt. Der Ruf nach einem Krieg wurde lauter, und das Deutsche
Reich rüstete auf. Fünf Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens, am
9. November 1911, hielt August Bebel, Parteichef der Sozialdemokraten,
im Reichstag eine prophetische Rede. "Man wird in Frankreich nicht
vergessen, dass ihm mitten im Frieden durch einen Vertrag ein Stück
Kolonialland (...) abgeknöpft worden ist", warnte er, "und die deutschen
Chauvinisten werden nicht vergessen, dass ihnen die erhoffte Beute in
Marokko entgangen ist. Sie machen England dafür verantwortlich. So wird
man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten (...) Dann kommt die
Katastrophe." Etwa Zweieinhalb Jahre nach diesen Worten, im Juni 1914,
wurde in Sarajevo der Thronfolger Österreich-Ungarns ermordet. Es war
der Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Deutschland verlor ihn und
infolgedessen auch all seine Kolonien. |