Keine Angst vor Islamisten! |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.10.2011 Kommt nach dem arabischen Frühling der islamistische Winter? Wird Tunesien, wo die arabische Revolution begonnen hat, schon bald ein islamistischer Staat?Wird in der Retrospektive der arabische Aufbruch schon bald als kurzes Intermezzo zwischen zwei Diktaturen erscheinen, als ein Aufflackern der Fackel der Freiheit im Kontinuum der Finsternis? Die
Ängste sind groß. Nicht nur diesseits des Mittelmeeres, wo man sich mit
Ben Alis Diktatur prächtig arrangiert hat, wo man den Islam schnell mit
Dschihad assoziiert und wo gegen Islamisten ein Generalverdacht
besteht, Terroristen zu sein. Auch in Tunesien selbst macht sich nach
dem Wahlsieg der islamistischen Ennahdha-Bewegung Angst breit, fürchtet
man um die gerade erst gewonnenen Freiheiten. Zunächst:
Die Islamisten werden in der Verfassungsgebenden Versammlung stärkste
Partei sein, aber sie werden keine Mehrheit haben. Die gewählte
Versammlung muss als erstes einen neuen Präsidenten wählen, weil der
amtierende seinen Rücktritt angekündigt hat. Dessen Nachfolger obliegt
es, eine Regierung einzusetzen, die von der Verfassungsgebenden
Versammlung akzeptiert werden muss. Nun gibt es rein
theoretisch die Option, dass die laizistische Mehrheit eine laizistische
Regierung durchsetzt. Die Alternative ist die Einbindung der Islamisten
in eine Regierung der nationalen Einheit. Die Ausgrenzung der
Islamisten würde wohl zu deren Radikalisierung führen. Aber weniger
deshalb als aus grundsätzlichen Erwägungen scheint die Einbindung von
Ennahdha der vernünftigere Weg. Die gewählte
Versammlung muss eine Verfassung ausarbeiten, und eine Verfassung ist
ein Gesellschaftsvertrag, der eines breiten Konsenses bedarf. Die neue
Regierung wird bloß eine Übergangsregierung bis zu den Parlamentswahlen
in etwa einem Jahr sein. Nur wenn dieser Übergang gelingt, wird sich in
Tunesien eine Demokratie etablieren können, in der ein gemeinsam
geschaffenes, von allen akzeptiertes Regelwerk eine Regierung der
nationalen Einheit nicht mehr erfordert, weil Opposition dann nicht mehr
Feindschaft bedeutet, sondern Gegnerschaft. Das hört
sich schön an und klingt naiv. Denn in der Tat gibt Ennahdha Anlass zur
Sorge. Ihre Führung hat sich zwar auf die Einhaltung demokratischer
Spielregeln verpflichtet. Sie will die rechtliche Gleichstellung von
Frau und Mann nicht infragestellen und niemanden zwingen, ein Kopftuch
zu tragen oder gar das Gesicht zu verschleiern. Die Partei orientiere
sich an der AKP des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan,
betonen Ennahdha-Führer unablässig. Sie reden vom „türkischen Modell“,
allerdings ohne dessen Laizismus und Absage an die Scharia zu erwähnen. In
Tunesien behaupten viele Laizisten, dass Ennahdha mit gezinkten Karten
spiele und mit gespaltener Zunge spreche. In der Tat hat sie Angriffe
auf die Meinungsfreiheit nicht resolut verurteilt, zeigt mitunter
Verständnis dafür oder schiebt sie radikalen Islamisten, in die Schuhe.
Oft scheuen die Ennahdha-Führer eine klare Sprache – aus Rücksicht auf
ihre konservative, religiöse Basis, die die Scharia will, eine
Gleichstellung von Mann und Frau ablehnt und den Laizismus für ein
Trojanisches Pferd des gottlosen Westens hält. Tunesien
wird die Konfrontation nicht erspart bleiben zwischen jenen, die auf
einen laizistischen Staat und auf ein modernes, der Aufklärung
verpflichtetes Gesellschaftsmodell setzen, und den
religiös-konservativen Kräften, die gerade in den unteren, weniger
gebildeten Gesellschaftsschichten stark verwurzelt sind. Doch nun geht
es erst einmal darum, die Grundlage zu schaffen, auf der diese
Konfrontation zivil ausgetragen werden kann. Die
laizistischen Kräfte haben gute Chancen, aus dieser Konfrontation als
Sieger hervorzugehen. Tunesien hat im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten
Libyen und Algerien einen hohen Bildungsstandard und eine starke
Mittelschicht. Der Laizismus, von Habib Bourguiba, dem ersten
Präsidenten des unabhängigen Tunesien, von oben verordnet, hat tiefe
Wurzeln geschlagen. Viele Frauen, den Männern seit 1956 rechtlich
gleichgestellt, wissen, was sie unter islamistischer Herrschaft zu
verlieren hätten. Der im Januar gestürzte Präsident
Zine el Abidine Ben Ali hat Zehntausende Islamisten ins Gefängnis
geworfen. Sie haben unter seiner Herrschaft am meisten gelitten, was
viele Wähler nun zu honorieren wussten. Die Regierenden in Paris, Bonn
und Brüssel aber haben Ben Ali umstandslos gestützt, weil sie davon
ausgingen, dass eine Diktatur mit Islamisten besser fertig wird als eine
Demokratie und eine offene Gesellschaft. Sie täten gut daran, sich
jetzt aus der politischen Auseinandersetzung in Tunesien herauszuhalten
und ihr Zerrbild vom Islam zu korrigieren. |