Wie eine Decke aus Blei |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.11.2011
Athen ist fest im Griff der Rezession. An Hilfe durch
die Politik glaubt hier niemand mehr. Unter den Menschen machen sich
Hoffnungslosigkeit und Resignation breit. Die Fokionos-Negri-Allee gehörte vor noch nicht allzu langer Zeit zu den Prachtboulevards der griechischen Hauptstadt. Cafés säumen die Fußgängerzone, Bauhaus-Stil und Art Déco zeugen von glanzvollen Zeiten. Vergangenen Zeiten. Der Brunnen ist trockegelegt. Der Rasen ungepflegt. Die Hälfte der Läden steht zum Verkauf aus. Und unten an der Ecke, wo eine Kirche seit Wochen geschlossen ist, weil niemand die Schäden eines Kabelbrandes beseitigt, ist das Pflaster aufgerissen. Ein Kiosk stand einst hier. Doch der Händler hat aufgegeben und ihn abmontiert.
In den Sträßchen, die von der Allee abgehen, wohnen
vor allem ärmere Leute, unter ihnen viele Künstler und Emigranten.
"Kypseli ist der am dichtesten besiedelte Stadtteil Athens", sagt
Theocharis Vlachojannis, "aber nun findet man wieder Parkplätze". Er
selbst braucht zwei. Auf der Kühlerhaube seines Opels stellt der Obst-
und Gemüsehändler Granatäpfel, Kastanien und Pflaumen aus. Daneben, auf
der Ladefläche seines Kleinlasters, liegen Salatköpfe. Welcher Hanswurst regiert, ist egal Ob er am
Freitag um Mitternacht das Vertrauensvotum verfolgt hat, das über das
Schicksal von Ministerpräsident Giorgos Papandreou entschied? Diese
nächste Volte im griechischen Drama, die Papandreou noch einmal
hauchdünn für sich entschied? Vlachojannis setzt ein gequältes Lächeln
auf. Ob Papandreou oder sein konservativer Widersacher Samaras oder
sonst ein Hanswurst die Geschicke seines Landes leite, sei ihm egal.
"Das geht bestimmt fünf Jahre weiter so und dann wird alles noch
schlimmer", prophezeit er düster. Sein eigener Umsatz sei schon jetzt um
30 bis 40 Prozent eingebrochen, er arbeite 15 Stunden am Tag, um zu
überleben. Der winzige Tante-Emma-Laden, vor dem Opel und Kleinlaster
stehen, wird von ihm, seinem Bruder und der Mutter betrieben. Seit 1959
ist das Geschäft in Familienbesitz. Doch für die Zukunft sieht
Vlachojannis "schwarz, kohlrabenschwarz". Hoffnungslosigkeit ist
die vorherrschende Stimmung unter den Griechen. Auf dem Land lastet eine
Depression, die wie eine schwere, bleierne Decke, alles zu ersticken
droht. Die Mehrwertsteuer für Nahrungsmittel, die vor zwei Jahren noch
neun Prozent betrug, ist inzwischen auf 23 Prozent gestiegen. Die Löhne
sind im selben Zeitraum im Durchschnitt um ein Drittel gesunken, und um
die Staatseinnahmen zu erhöhen, wurde nun auch noch eine
Immobiliensteuer eingeführt. In Kypseli beträgt sie pro Jahr fünf Euro
pro Quadratmeter, bei vielen Wohnungsbesitzern ist das ein Monatslohn.
Im Nobelviertel Kolonaki, wo das gehobene Bürgertum zuhause ist, sind es
20 Euro. Als Folge der Radikalkur, die den Haushalt sanieren soll, ist
die durchschnittliche Kaufkraft massiv eingebrochen, worunter der
Einzelhandel leidet. Dadurch sinken wiederum die Steuereinnahmen. So
mündete der verordnete Sparkurs - absehbar und vorausgesagt - in eine
Rezession. Eleni Pandou bekommt diese noch drastischer zu
spüren als die Vlachojannis-Familie. Der Inhaberin eines
Kleidergeschäfts ist der Kummer ins Gesicht geschrieben. Um 60 Prozent
ist ihr Umsatz eingebrochen. Die elegante Frau streicht das lange blonde
Haar in den Nacken und sagt mit kaum unterdrückter Wut: "Haben Sie
Papandreous Rede gehört? Er fand, dass alles auf einem guten Weg sei. In
welchem Land lebt der Mann denn! Gehört er in die Psychiatrie? Oder
hält er uns alle für Vollidioten?" Das Schlimmste seien nicht die
finanziellen Probleme, die hätten die Griechen auch schon früher gehabt,
sagt Pandou. "Aber damals hatten wir auch Hoffnung." Heute steht ihr
Sohn kurz vor dem Abitur und besitzt nur zwei Schulbücher. Die übrigen
hat er kopieren lassen, weil der Staat zu wenig Schulmaterial zur
Verfügung stellt. Und weil auch der Unterricht so schlecht ist, nimmt
er, wie über die Hälfte der Abiturienten, Nachhilfeunterricht in einer
Privatschule. "Er ist in einer Fünfergruppe, das kostet mich dann nur
400 Euro im Monat", sagt Pandou sarkastisch und ergänzt: "Den
Einzelunterricht kann ich mir nicht leisten." Den geben viele staatlich
bezahlte Lehrer nach Schulschluss für 25 Euro die Stunde. Dieser
unversteuerte Nebenverdienst ist oft ihr Hauptverdienst. Ein eigenes Label Die Kleider, die Pandou
verkauft, nähen ihr Mann, ihr Schwager und ihre Schwiegermutter. Seit
1989 führt sie den Laden. Seit 1991 hat die Familie sogar ihr eigenes
Label. Vor zwölf Jahren hat Pandou eine Jeans für umgerechnet 40 DM
verkauft, heute muss sie dieselbe Hose für zehn Euro anbieten. "Mehr
bezahlt hier keiner." Zwölf Stunden steht sie täglich in ihrem Laden,
von neun Uhr morgens bis bis neun Uhr abends. Die Arbeitszeiten wurden
länger - der Umsatz kleiner. "Wir dürfen aber den Kopf nicht hängen
lassen", sagt sie, "wir müssen unseren Kindern eine bessere Welt
hinterlassen." Sie klingt, als wolle sie sich selbst aufmuntern. Trotz
allem interessiert sich Pandou immer noch für Politik. In ihrem Laden
läuft permanent das Radio. Die dramatische Nacht von Freitag auf Samstag
hat sie am Fernseher verfolgt. Am schlimmsten fand sie den Auftritt von
Eva Kaili. Die Pasok-Abgeordnete, eine attraktive ehemalige
Fernsehsprecherin, hatte angekündigt, Papandreou das Vertrauen nicht
auszusprechen. Daraufhin war sie von einem Parteifreund öffentlich mit
derben anzüglichen Bemerkungen herabgewürdigt worden. Anstatt sich zu
wehren, gab sie bekannt, nun doch für Papandreou zu stimmen. Der
wiederum versprach am Wochenende, dass er als Regierungschef
zurücktreten wolle, um so eine große Koalition zu ermöglichen. Pandou
mag dem Politiker nicht mehr glauben. "Er sagt das eine und macht das
andere." Aber Oppostionsführer Samaras, der auch nach Papandreous
Ankündigung an der Idee einer Expertenregierung festhielt, findet sie
noch unerträglicher. Die kommunistische KKE ist ihr zu stalinistisch,
und über die rechtsnationalistische LAOS braucht man mit ihr gar nicht
zu reden. Ihr Herz schlägt am ehesten für die linksradikale Syriza -
auch wenn sie skeptisch stimmt, dass deren Chef ein Millionär ist. Neben
Politik ist Pandou noch etwas anderes wichtig, sie sagt es zum
Abschied: "Wir sind keine Faulpelze." Wie viele ihrer Landsleute geht
sie davon aus, dass die Deutschen glauben, die Griechen würden zu wenig
arbeiten, zu früh in Rente gehen, den ganzen Tag am Strand liegen und
sich das alles von Europa bezahlen lassen. Dass Politiker von CDU
und FDP vor zwei Jahren empfahlen, den griechischen Staatshaushalt über
den Verkauf einiger Inseln zu sanieren, hat viele hier verletzt. Und das
Focus-Titelblatt, auf dem vor einem Jahr - neben der Schlagzeile
"Betrüger in der Euro-Familie" - die Liebesgöttin Aphrodite den
Stinkefinger zeigt, hat für Empörung gesorgt. Geschmacklosigkeiten
findet man allerdings auch in der griechischen Medienlandschaft: Auf dem
Titelbild der aktuellen Ausgabe des Gesellschaftsmagazins Crash geht
über der Akropolis statt der Sonne das Hakenkreuz auf. Links und rechts
davon, im Halbschatten, erscheinen Angela Merkel und Papandreou. Deutsche in Athen nicht gehasst Doch auch
wenn die Deutschen in Athen zur Zeit nicht so beliebt sind, gehasst
werden sie nicht. Allenfalls fällt ab und zu eine spitze Bemerkung über
ausgebliebene Reparationszahlungen für die Verbrechen, die SS und
Wehrmacht in Griechenland verübt haben. Oder über Hochtief, Deutschlands
führenden Baudienstleiter, der in Griechenland Autobahnen gebaut hat
und nun die Mautgebühren selber einstreicht. Auch die Betriebsgebühren
des 2001 fertiggebauten von Athener Flughafens fließen zu einem großen
Teil an den deutschen Konzern, der das Baukonsortium anführte. Solche
Beispiele verstärken die Furcht vieler Griechen, ihr Land werde bei der
mit EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem
Währungsfond ausgehandelten Privatisierung staatlicher Betriebe ans
Ausland verhökert Trotzdem wissen die die meisten hier, dass die
Probleme im wesentlichen hausgemacht sind. Sie schimpfen auf die
Politiker der beiden großen Parteien, die seit dem Sturz der
Militärdiktatur 1974 das Land regierten und ein System von
Klientelwirtschaft und Korruption aufgebaut haben. Von diesem haben
viele Griechen lange profitiert. Hunderttausende fanden im aufgeblähten
öffentlichen Dienst eine Stelle mit scheinbar sicherer Altersversorgung.
Hunderttausende hinterzogen folgenlos Steuern. Jetzt wird die
Gegenrechnung aufgemacht. Viele haben mittlerweile jede
Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Die traditionell niedrige
Selbstmordrate - in Griechenland gibt es jährlich nur 3,5 Fälle auf 100
000 Tote, in Deutschland sind es 12 - hat sich seit Beginn der Krise
verdoppelt, vielleicht auch verdreifacht. Die Heiterkeit ist
sowieso verschwunden. Im Stadtteil Kypseli klagen alle. Der Obst- und
Gemüsehändler Theocharis Vlachojannis, der mit den Supermärkten kaum
mehr mithalten kann genauso wie Eleni Pandou, die ihre selbstgefertigten
Jeans für zehn Euro anbieten muss. Und sogar Leonidas Remoudou,
Besitzer der ältesten Bäckerei in Kypseli, die sein verstorbener Vater
vor einem halben Jahrhundert gekauft hat. Remoudou und sechs seiner
Geschwistern sind ebenfalls Bäcker geworden. "Brot wird immer gegessen",
lautete die Devise in der Familie. Auch Remoudou selbst glaubte fest
daran, gerade jetzt, wo die Leute an Fleisch und frischem Obst und
Gemüse sparen. Nun beklagt er einen Umsatzeinbruch von 40 Prozent. Die Kunden sparen an allem "Früher haben wir
an ein Vier-Sterne-Hotel in Plaka an jedem Samstag 450 Brötchen
verkauft", sagt Remoudous Frau Adriana. Sie lacht. "Jetzt waren es im
ganzen Oktober, an 31 Tagen, gerade noch 1200." Plaka mit seinen vielen
Straßenrestaurants liegt am Fuß der Akropolis. Vielleicht kommen weniger
Touristen. Vielleicht kauft das Hotel anderswo billiger ein. Die
Bäckerin weiß es nicht. Aber mit Brot verdiene man ohnehin wenig,
tröstet sie sich, lukrativer sei der Verkauf von Fein- und Süßgebäck.
Das Problem ist allerdings, dass die Kunden daran noch mehr sparen. Auch
Leonidas Remoudou hat das mitternächtliche Vertrauensvotum am Fernsehen
verfolgt. Ab zwei Uhr früh steht er ohnehin jeden Tag in der Backstube.
Vorher hört er jeweils die Bestellungen ab, die auf seinem
Anrufbeantworter eingegangen sind. Ob Papandreou bleibt, ob ihm sein
Finanzminister Evangelos Venizelos nachfolgt, ob es zu einer Regierung
der nationalen Einheit oder gar zu Neuwahlen kommt - früher hätte er
sich dafür brennend interessiert. Heute zeigt er nur auf seine Vitrine.
Dort stehen zwei Liter Milch. Die "aus Europa" importierte kostet einen
Euro, die griechische 1,30 Euro - "wegen all der Abgaben, die man uns
nun aufzwingt". |