Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 16.04.2013
Venezuela hat für die Kontinuität optiert. Nicolás
Maduro, der sich selbst im Wahlkampf als Sohn von Chávez oder im
religiös verbrämten Diskurs als dessen Apostel bezeichnet hat, darf
nun also das Erbe des verstorbenen Caudillo antreten. Er
versprach vor allem eines: Kontinuität. Aber ein Weiter-So wird es
nicht geben, kann es nicht geben. Dagegen sprechen alle wirtschaftlichen
Parameter, die nackten Ziffern.
Chávez' historisches
Verdienst ist es, die Armut in seinem Land ins Zentrum einer nationalen
Debatte gerückt zu haben. Er hat den Armen Würde verliehen, sie quasi
geadelt. Und er hat die Armutsquote halbiert, indem er 400
Milliarden Dollar in Sozialprogramme, die er Missionen nannte,
investierte. Er habe Fische an die Armen verteilt, statt sie Fischen zu
lehren, monierten Kritiker. Die Nachhaltigkeit seiner
Entwicklungspolitik ist jedenfalls höchst umstritten.
Kaum
bestreitbar hingegen sind die wirtschaftlichen Fakten nach 14
Jahren chavistischer Herrschaft. Venezuela hat die höchste Inflation
Lateinamerikas. Die Auslandsverschuldung hat sich in den letzten sechs
Jahren verneunfacht. Die Gesamtschuld liegt bei 50 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Die Erdölproduktion ist mangels Investitionen in
Exploration neuer Erdölfelder und in die Erneuerung der
Förderanlagen um ein Drittel gesunken. 80 Prozent der Lebensmittel
muss das Land importieren, auch traditionelle Exportgüter wie Reis,
Zucker, Kaffee und Rindfleisch.
So kann es nicht weitergehen. So
hätte auch Chávez - trotz rigider Devisenkontrolle - nicht weiter
wirtschaften können. Immer deutlicher nahm sein "Sozialismus des 21.
Jahrhunderts" die Züge des im letzten Jahrhundert verblichenen an.
Mit der wirtschaftlichen Hinterlassenschaft wird sich nun Maduro
herumschlagen müssen. Und der Oppositionsführer Henrique Capriles,
der die Wahlen nur höchst knapp verloren hat, kann insofern von Glück
reden. Eine klare wirtschaftspolitische Alternative
hat er nicht aufgezeigt. Auch er schien im Bann des Verstorbenen zu
verharren. Sein Wahlkampfteam benannte er - nach dessen großem Vorbild -
"Kommando Simón Bolívar". Seinen Gegner Maduro bezichtigte er, ein
Verbündeter des US-Imperiums zu sein.
Im Vergleich zu den
Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Oktober, die Chávez (55
Prozent) gegen Capriles (44Prozent) gewonnen hat, verloren die
Chavisten in nur einem halben Jahr fast 700000 Stimmen an die
Opposition. Die beiden Lager sind nun faktisch gleich stark. Das ist
weniger dem fehlenden Charisma Maduros geschuldet als drei Grundübeln,
unter denen die Venezolaner, und vor allem die Armen unter ihnen,
nach 14Jahren chavistischer Herrschaft alle zu leiden haben: den
Versorgungsengpässen, der Korruption und der Kriminalität. Oft fehlt es auf den Märkten an Milch, oft an Zucker und Eiern, und
Stromsperren sind alltäglich. Auf der Korruptionsskala von "Transparency
International" hat Venezuela im vergangenen Jahr sogar Haiti
überrundet und steht jetzt an der Spitze der lateinamerikanischen
Länder. Caracas hat inzwischen unter den Großstädten weltweit
und Venezuela unter den südamerikanischen Staaten die höchste Mordrate. Angesichts der verbreiteten Frustration über diese drei Grundübel, und
angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage scheint Maduros
Scheitern, gemessen an seinen erklärten Zielen, programmiert zu
sein. Er wird Chávez' Weg nicht einfach fortsetzen können. Die Frage
ist nur, ob die Kurskorrektur auf politischer Ebene mit einer
autoritären Verhärtung einhergeht, oder ob Maduro Brücken zur
Opposition schlägt.
Aber auch Capriles wäre wohl gescheitert,
hätte er die Wahl gewonnen. Er wäre bei der Durchsetzung notwendiger
Wirtschaftsreformen auf den geballten Widerstand der Chavisten
gestoßen: auf den Protest der gut organisierten Parteibasis, auf den
Unmut der Armee, die von der Korruption am meisten profitiert, und der
von Chávez gegründeten und auf ihn eingeschworenen Miliz von 100000
Mann sowie auf die Obstruktion des Erdölkonzerns, dessen
aufgeblähter Apparat heute viermal mehr Menschen beschäftigt
als bei Chávez' Machtübernahme. Eine Präsidentschaft Capriles' wäre
vermutlich zu einem Intermezzo geworden.
Nun muss also Maduro die
Suppe auslöffeln, die Chávez eingebrockt hat. Das ist gut so. Auch
für die Opposition, die bisher nur die Gegnerschaft zu Chávez geeint
hat, und für Capriles, der erst 40 Jahre alt ist. In sechs Jahren, wenn
der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" endgültig entzaubert sein wird,
hat er gute Chancen, Präsident eines ernüchterten Venezuela
zu werden.
© Berliner Zeitung
|