Friedhof Mittelmeer PDF Drucken

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.10.2013


Es ist die größte Flüchtlingstragödie, die sich bisher vor der Festung Europa ereignet hat: Mehr als 300 Menschen ertranken im Mittelmeer, eine Seemeile vor der rettenden Küste Lampedusas entfernt. In italienischen Hoheitsgewässern also. Wie dies in einem der am besten überwachten Gewässer Italiens möglich war, wird noch zu klären sein.
Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano bezeichnete das Drama als Schande. Recht hat er. Eine Schande ist es auch, dass in Italien - unter der Regierung Berlusconis - ein Gesetz verabschiedet wurde und noch immer in Kraft ist, das Flüchtlinge als Kriminelle behandelt.


Napolitanos deutscher Amtskollege Joachim Gauck stellte klar: "Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen unserer Rechts- und Werteordnung." Recht hat er. Aber wo bitte sollen sie Gehör finden? Laut EU-Verordnung ("Dublin 2") hat der EU-Staat, auf dessen Territorium ein Flüchtling zuerst seinen Fuß setzt, zu klären, ob dieser asylberechtigt ist. Deutschland hat keine EU-Außengrenze und ist damit aus dem Schneider, um es salopp zu formulieren. Über 90 Prozent der Flüchtlinge betreten in Griechenland oder Italien europäischen Boden.

Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind 3648 Menschen in Lampedusa gestrandet. Just am Vortag der neuesten Tragödie vor Lampedusa hat der Migrationsausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dem 47 europäische Staaten angehören, in einem Berichtsentwurf die Regierung in Rom aufgefordert, sie möge sicherstellen, dass Menschen, die illegal nach Italien einwanderten, nicht in andere Europaratsländer weiterziehen können - ganz nach dem Prinzip: Heiliger Sankt Florian, verschon' mein Haus, zünd' andre an.

Es ist eine Schande, dass Italien und vor allem das noch stärker betroffene und verarmte Griechenland, beides Länder mit EU-Außengrenzen und Nähe zu Konfliktherden, mit ihren Problemen alleingelassen werden. "Dublin 2" gehört auf den Misthaufen der Geschichte. Die Flüchtlinge müssen auf die EU-Staaten gerecht verteilt werden. Kriterien der Gerechtigkeit könnten Einwohnerzahl und wirtschaftliche Stärke sein. Deutschland verkraftet mehr als andere Länder.

Die deutsche Regierung, wie sie sich künftig auch zusammensetzen mag, muss ihre Blockadehaltung gegen eine neue europäische Regelung der Flüchtlingsfrage aufgeben. Das Thema könnte auf die Agenda der anstehenden Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen gesetzt werden. Was spricht dagegen? "Dublin 2" ist in dieser Form ohnehin nicht mehr lange zu halten.

Die Flüchtlinge, die vorgestern vor Lampedusa ertrunken sind, kamen fast alle aus Somalia und Eritrea. Somalia ist vom Krieg zerstört, in Eritrea herrscht eine Diktatur. Gute Fluchtgründe. In Italien haben 36 Organisationen - unter ihnen die im Parlament vertretene Partei der ökologischen Linken und der größte Gewerkschaftsverband - die Einrichtung eines "humanitären Korridors für europäisches Asyl" vorgeschlagen: Flüchtlinge aus Kriegsgebieten sollten direkt bei europäischen Institutionen in Libyen, Syrien oder Ägypten einen Asylantrag stellen können. Ein bedenkenswerter Vorschlag. Zumindest müssten sich Flüchtlinge dann nicht kriminellen Schleppern für eine potenziell tödliche Fahrt übers Mittelmeer anvertrauen.

Weltweit sind nach UN-Angaben 45 Millionen Menschen auf der Flucht. Jährlich versuchen vermutlich an die 100000 Afrikaner, ihren Kontinent zu verlassen - die meisten wohl aus wirtschaftlichen Gründen. Auch diese sind durchaus respektabel. Jeder sehnt sich nach einem besseren Leben, auch die Habenichtse von der anderen Seite des Mittelmeers.

Deshalb werden weiterhin Flüchtlinge versuchen, nach Europa zu gelangen. Man muss über Kontingentregelungen reden, über Greencards, über Sonderregelungen - immer wohl wissend, dass es keine zufriedenstellenden Lösungen gibt. Auch die Festung Europa ist keine Lösung. Europa lässt sich nicht abschotten. Das zeigt jeder Spaziergang durch die Innenstadt von Athen, Madrid oder Rom.

Auch Deutschland wird mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen. Dies den Bürgern ehrlich zu sagen, könnte schon ein erster Schritt zu einer neuen Integrationspolitik sein. Gewiss, die Ängste der Bürger vor den Ausländern, den Fremden, den anderen müssen ernst genommen werden. Sie stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den Ängsten der Menschen, die die Fahrt übers Mittelmeer wagen - immer mit dem Risiko, von diesem verschluckt zu werden.

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid