Das andere Tessin |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.02.2014 In der italienischsprachigen Schweiz war die Zustimmung zur Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ am höchsten. Weshalb bloß?
Es gibt das Tessin der tiefblauen Seen, der glasklaren
Flüsse, der Kastanienwälder und der malerischen Bergnester mit ihren Häusern
aus schwerem grauen Granit, das Tessin, wo man unter der Pergola zum
Formaggino, dem süßlichen Käse, einen Nostrano trinkt, den lokalen Rotwein -
serviert im traditionellen Boccalino, dem kleinen Weinkrug. Es ist das Tessin,
das sich dem Fremden als „Sonnenstube der Schweiz“ anpreist, als
Urlaubsparadies. Und es gibt das andere Tessin. Es gibt Stabio.
Stabio ist ein Dorf mit einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert
und viel altem Gemäuer. Ein Museum der bäuerlichen Kultur kündet von fernen
Zeiten, als noch die Sense am Stein geschliffen und das Heu auf dem Rücken nach
Hause getragen wurde. Die Moderne aber beginnt gleich am Dorfrand: imposante
Gebäude aus Glas und Stahl, große Lagerhallen und riesige Parkplätze. Stabio
liegt direkt an der Grenze zu Italien.
In der Osteria Nuova, der Dorfkneipe, sitzen die Männer beim
Caffè corretto, korrigiertem Kaffee, mit Grappa korrigiert. Der Fremde wird
misstrauisch beäugt. Wie ein Gespräch anknüpfen? Am besten mit der Tür ins Haus
fallen: „Signori, ich bin aus Berlin angereist, Sie können sich ja vorstellen,
weshalb. Ich möchte...“. Auf Journalisten sind die Männer hier nicht sonderlich
gut zu sprechen, auf deutsche erst recht nicht. Aber schließlich tauen sie auf.
„Wir ersticken hier alle im Dreck, in den Auspuffabgasen“, sagt einer mit einer
abgetragenen Schirmmütze, den die andern Carlo nennen, „wissen Sie, wie viele
Grenzgänger hier täglich durchs Dorf fahren? Achtzehntausend!“ Er wiederholt
die Zahl und spuckt dabei – mit hochgezogenen Augenbrauen - zum Nachdruck jeden
Buchstaben einzeln aus: A c h t z e h n t a u s e n d. Man hört die Zahl im
Dorf immer wieder.
50,3 Prozent der Schweizer haben am vergangenen Sonntag
dafür gestimmt, die Zuwanderung von Ausländern zu begrenzen. Im Tessin, dem
Kanton mit den meisten Ja-Stimmen, waren es 68,2 Prozent, in Stabio 72,9
Prozent. Das Votum des Souveräns ist eine offene Absage an die mit der
Europäischen Union vertraglich vereinbarte Personenfreizügigkeit, die seit 2002
in Kraft ist. Zwischen der EU und der Schweiz droht nun eine Eiszeit. Doch den
Männern in der Osteria Nuova ist das piepegal. Bern ist weit weg und Brüssel
noch weiter. Die Blechlawine aber rollt ganz nah jeden Tag zweimal durchs Dorf
– am Morgen Richtung Schweiz, am Abend Richtung Italien. „Wir haben nichts
gegen Ausländer“, sagt Carlo und gibt zu verstehen, dass er das kaum begonnene
Gespräch für beendet hält, „es gibt auch unter den Italienern anständige
Menschen.“
Urs Jenzer ist gesprächiger als die einheimischen Dörfler.
Sein gewelltes graues Haar trägt der 71-jährige Rentner aus Basel schulterlang.
Seit 30 Jahren wohnt er in Stabio. „Sehen Sie“, sagt er ,“wenn tausend Personen
auf ein Schiff passen, aber 5.000 einsteigen, dann haben wir Verhältnisse wie
in Indien.“ Eine seltsame Metapher. Aber Jenzer hat eben als Schiffsbäcker
gearbeitet und ist auch schon in Santo Domingo und in Tobago an Land gegangen.
Er ist viel in der weiten Welt herumgekommen. Jetzt wohnt er mit seiner Lilly
in einem engen alten Haus im Dorfzentrum. „Ich habe nichts gegen Ausländer“,
sagt auch er und streichelt mit einer Hand das Hündchen in seinem Schoß und mit
der andern die Enkelin, die, einen Schnuller im Mund, auf dem Boden spielt,
„aber genug ist genug“.
Auch Lilly stimmt ein: „Früher war ich in 25 Minuten in
Lugano, heute brauche ich zweieinhalb Stunden. Kommen Sie um fünf Uhr abends
vorbei und schauen sie sich das an: kilometerlange Schlangen, kilomeeeeeeter!
Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas...“ Lilly geht in den Vorgarten und kommt mit
einem Blatt einer Pflanze zurück. Es ist schwarz. „Wir haben hier wohl die
höchste Krebsrate der Schweiz“, vermutet sie. „Früher war rund ums Dorf alles
grün, überall nichts als Wiesen und Felder, es gab Hasen und Fasane“, erinnert
sich ihr Mann, „es gab Molche und Frösche und die Hundezahnlilie, eine
botanische Seltenheit.“
Und heute? Jenzer bietet eine Rundfahrt durchs
Industriegelände an. Lagerhallen, ausgedehnte Bürogebäude und immer wieder
riesige Parkplätze mit hunderten Autos. Zu 99 Prozent mit italienischen
Nummernschildern. Am pompösesten ist der Glaspalast von VF Corporation, einem
der größten Bekleidungskonzerne der Welt mit Hauptsitz in North Carolina. Ihm
gehören unter anderem die Marken Lee Jeans und Wrangler. Von seinem jüngst in
Stabio eröffneten Logistikzentrum aus will der Konzern sein Europa- und
Asiengeschäft steuern. Das hat 450 Arbeitsstellen gebracht. „Alles Jobs für
Frontalieri, für Grenzgänger, die malochen zum halben Preis“, sagt Jenzer, „für
die Tessiner fällt nichts ab – nur der Gestank der Blechlawinen, die sich jeden
Tag zweimal, Stoßstange an Stoßstange, durchs Dorf quälen.“
Die Tessiner sind allerdings nicht unschuldig an dieser
Entwicklung. In der Schweiz herrscht direkte Demokratie, und auch auf
Gemeindeebene haben die Bürger ein starkes Wörtchen mitzureden - auch beim Flächennutzungsplan, bei dem
festgelegt wird, wo sich Industrie ansiedeln darf, welche Zonen für Wohnungsbau
und welche für Landwirtschaft reserviert werden. Und haben die Grenzgemeinden
nicht selbst Investoren angelockt? Die Grenzgänger zahlen schließlich ihre
Steuern in der Schweiz, und auch wenn davon 38,8 Prozent an die grenznahen
Gemeinden Italiens zurückfließen, bleibt doch ein sattes Plus übrig.
Deswegen wird Firmen, die sich neu ansiedeln, oft eine zeitlich
begrenzte Steuerfreiheit gewährt. Da meckert manch einer, der dem Staat brav
seinen Obolus entrichtet. VF Corporation habe bei Verhandlungen sieben Jahre
herausgeschlagen, munkelt man in Stabio. Nein, fünf Jahre. Oder gar zehn?
Genaues weiß man nicht. Genaueres hätte man gerne vom Sindaco, dem
Bürgermeister, erfahren. Aber der ist konsequent drei Tage lang nicht zu
sprechen. Und sein Dezernent für wirtschaftliche Entwicklung antwortet per
Mail, er sei nicht autorisiert, mit Journalisten zu reden. Schade.
Fabio Giacomazzi hat da keine Berührungsängste. Er ist
Sindaco von Manno, einem Dörfchen unweit von Lugano, der größten Stadt des
Tessins. Zudem ist er Präsident des eidgenössischen Rats für Raumordnung.
„Beides quasi Ehrenämter“, flachst er. Sein Leben verdient sich der promovierte Architekt mit dem struppigen
Haar und Dreitagebart als Raumplaner, im Schwerpunkt Städtebau, vor allem auch
mit der Ausarbeitung von Zonenplänen.
Auch in Manno, zehn Kilometer von der Grenze entfernt, haben
sich zahlreiche Firmen angesiedelt: Pharma, Logistik, Metallbau, Informatik,
Trading – die meisten von ihnen sind Global Player. „Manno hat 1.300 Einwohner
und 4.000 Arbeitsplätze, davon vielleicht ein Drittel Frontalieri“, sagt
Giacomazzi, „früher arbeiteten die Grenzgänger vor allem als wenig
qualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie, auf dem Bau und im Gastgewerbe,
wo sich kaum mehr Tessiner Arbeitskräfte bewarben. Heute drängen sie sich auch
in besser bezahlte Stellen im Dienstleistungssektor, und da kommt es schon zu
Konkurrenz mit den Einheimischen, und auch zu Lohndumping.“ 3.000 Franken sind
für einen Italiener ein akzeptabler Monatslohn, dafür arbeitet aber kein
qualifizierter Tessiner. Man kann davon in der Schweiz auch kaum leben.
„Das Wachstum ist für die Raumplanung nicht zwangsläufig ein
Problem“, sagt der Raumplaner, „es muss nur gesteuert werden.“ Wachstum kann
sogar Vorteile bringen. So sind in Manno und den angrenzenden Dörfern drei
Fachhochschulen für Wirtschaft, Gesundheitswesen und Informatik mit 1.000
Studenten entstanden. Viele Dozenten kommen aus Italien. Und im Übrigen war bis
2013 auch das Rechenzentrum der ETH Zürich, einer der renommiertesten
Universitäten Europas, über 20 Jahre lang in Manno angesiedelt mit der Folge,
dass sich in der näheren Umgebung zahlreiche innovative IT-Unternehmen
niedergelassen haben.
Das deutliche Votum der Tessiner für die Volksinitiative
„Gegen Masseneinwanderung“ führt Giacomazzi nicht nur auf die verstärkte
Zuwanderung von Ausländern seit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit
zurück. Das Tessin hat ja lange auch von der Grenznähe profitiert – nicht nur
weil bis heute täglich abertausende Italiener ihr Benzin in der Schweiz tanken.
Lugano hat sich nach Zürich und Genf zum drittwichtigsten Finanzplatz des Landes
entwickelt. Rechtsanwaltskanzleien und Treuhandgesellschaften schossen einst
wie Pilze aus dem Boden, um – zum Teil auch bei dubiosen Geschäften – den
italienischen Kunden mit Rat und Tat beizustehen.
Nun, wo das Bankgeheimnis löchrig wie ein Schweizer Käse ist
und transnationale Geldflüsse stärker kontrolliert werden, kommt manches ins
Rutschen. Zudem schließt die Armee im Tessin Kasernen, die Bahn ihre
Reparaturwerkstätten, die Post rationalisiert. Der Tourismus – gemessen an der
Zahl der Übernachtungen - geht
seit einem Jahrzehnt jährlich um fast fünf Prozent zurück. „All dies wird von
vielen intuitiv als Bedrohung empfunden und erklärt zum Teil auch ihr
Abstimmungsverhalten“, vermutet Giacomazzi. Jedenfalls hat die
rechtspopulistische Lega dei Ticinesi, stärkste Partei im Kanton, die
ausländerfeindliche Ressentiments geschickt bedient, vom verbreiteten
Unwohlsein über Veränderungen profitiert.
Sergio Savoia sieht das völlig anders. Der 50-jährige Chef
der Grünen Partei des Kantons Tessin und Mitglied des Kantonsparlaments war 17
Jahre lang Rundfunkjournalist und ist ein rhetorisches Talent, andere behaupten
ein Demagoge. Er ist heute im Hauptberuf Leiter des europäischen Alpenprogramms
des WWF. Sein Büro liegt im Herzen von Bellinzona, der Hauptstadt des
Tessin. Landesweit haben sich die
Grünen gegen die von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP)
gestartete Volksinitiative ausgesprochen. Nur die Tessiner Sektion der Grünen
scherte aus und sprach sich – wie die Lega dei Ticinesi – für die Begrenzung
der Zuwanderung von Ausländern aus.
Savoia hält die EU für ein bürokratisches Monster. Er will
ein Europa der Völker. „Die Freizügigkeit ist eine wunderbare Idee“, sagt er,
„aber in Wirklichkeit führt sie dazu, dass die Bosse billige Arbeitskräfte
haben.“ Früher saß Savoia für die Sozialistische Partei im Kantonsparlament.
Die aber habe die Frage der Immigration aus ideologischen Gründen tabuisiert.
„Ich bin ein Linker“, sagt der Grüne, „ich verteidige die sozialen
Errungenschaften der Schweiz und will einen Krieg zwischen den Armen
verhindern.“ In den zehn Jahren seit dem Inkrafttreten der Freizügigkeit hat
sich die Zahl der Grenzgänger von 30.000 auf 60.000 verdoppelt, etwa ein
Viertel der Arbeitsplätze im Tessin wird inzwischen von ihnen besetzt. „Da muss
man gegensteuern“, sagt Savoia.
Im allgemeinen wurde in jenen Schweizer Städten, die einen
hohen Anteil an Ausländern haben wie Genf (über 40 Prozent mit zusätzlich
vielen Grenzgängern), Basel (mit ebenfalls vielen Grenzgängern) und Zürich die
Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung abgelehnt. In Isone, einem kleinen
Tessiner Dorf in einem abgelegenen Bergtal oberhalb von Bellinzona, wo es
keinen einzigen Grenzgänger und nur wenige Ausländer gibt, wurde die Initiative
hingegen von über 90 Prozent gutgeheißen. Einen direkten Zusammenhang zwischen
erlebter Realität und Votum gibt es offenbar nicht. Die Imagination scheint
eine Rolle zu spielen.
Die Welt verändert sich, und das Tessin sich mit ihr.
Veränderungen bringen oft Ängste mit sich, Ängste vor dem Unbekannten, vor dem,
was auf einen zukommt. „Die Lega dei Ticinesi schürt diese Ängste“, sagt
Alberto Nessi. Der 73-jährige Schriftsteller lebt in Bruzella, einem
180-Seelen-Nest im abgeschiedenen Valle di Muggio, einem wilden Tal mit einer
Wassermühle für Mais und Kastanien. Er befürchtet, dass sich die Schweiz
abkapselt, allen voran sein Heimatkanton. „Das Tessin hat doch auch eine ganz
andere Tradition“, sagt er, „unter Mussolini haben Tessiner der Resistenza
geholfen, auch Juden gerettet. Es gab so etwas wie eine Willkommenskultur.“
Andererseits sind über Jahrhunderte weg viele notleidende Tessiner
ausgewandert, als der Kanton noch nicht die Sonnenstube, sondern das Armenhaus
der Schweiz war - die einen zogen
als Steinmetze in die Städte der nahen Lombardei, aber auch nach Florenz, Rom
und Neapel, die andern haben ihr Glück in den USA gesucht. Nessis neuester
Roman handelt von einem jungen Mann, der im 19. Jahrhundert aus einem engen
Tessiner Tal auswandert und in Lissabon Buchhändler wird.
Unterhalb der Kirche von Bruzella steht eine mannsgroße, in
Bronze gegossene Statue von Emilio Bossi (1870-1920). Der hier im Dorf geborene
Rechtsanwalt, Journalist, Essayist und Politiker schrieb 1906 ein
aufsehenerregendes Buch. Es trägt den Titel „Jesus Christus hat nie existiert“.
Das war damals gewiss starker Tobak für die katholischen Tessiner. Das zeugte
von Mut. Derselbe Bossi machte sich auch – und in einer Zeit, als viele
Tessiner lieber unter sich geblieben wären - für die Immigration von Italienern
stark. Auch dazu gehörte Courage. © Berliner Zeitung (ungekürzte Fassung, in der publizierten Ausgabe gekürzt)
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