Der Faktor K. PDF Drucken
Thomas Schmid - DIE ZEIT 19.05.2004 Nr.22


Nach einem Jahr im Amt ist Néstor Kirchner der populärste Präsident, den Argentinien je hatte.

Buenos Aires
Das Bild ging durch die Presse: Argentiniens gewählter Präsident Néstor Kirchner sieht zu, wie Heereschef Roberto Bendini in der Mechanikschule der Marine (Esma) vor versammeltem Generalstab das Porträt des Diktators Jorge Rafael Videla von der Wand nimmt. Videla hatte 1976 als Heereschef gegen das demokratische Regime geputscht. Die Esma, die berüchtigtste Folterstätte seiner Diktatur, soll eine Mahnstätte werden. Und Bendini tat nur widerwillig, was Kirchner ihm befohlen hatte. Für die Militärs war der symbolische Akt am 24. März, dem Jahrestag des Staatsstreichs, eine Demütigung. Aber der Präsident hatte seinem Volk wieder einmal gezeigt, wer der Herr im Hause ist: er, Kirchner, oder kurz: der „Faktor K.“

Am 25. Mai ist es ein Jahr her, dass Kirchner sein Amt angetreten hat. Noch wenige Wochen vor seiner Wahl war er in Argentinien weithin unbekannt. Heute ist er so populär wie kein Präsident zuvor, Juan Domingo Perón, der Vater aller Peronisten, eingeschlossen. Umfragen bescheinigen dem Staatschef über 70 Prozent Zustimmung. Beim ersten Wahlgang hatte er vor einem Jahr gerade 22 Prozent der Stimmen erhalten. Ein zweiter Wahlgang fand nicht statt, weil Carlos Menem, der schon von 1989 bis 1999 Präsident gewesen war und nun knapp vor ihm lag, angesichts seiner absehbaren Niederlage die Kandidatur zurückzog. Damit konnte Kirchner das Amt antreten – mit dem schlechtesten Ergebnis, mit dem je ein Argentinier zum Präsidenten gewählt wurde.
Der 54-jährige Kirchner gehört wie Menem der Gerechtigkeitspartei an, wie die peronistische Partei offiziell heißt. Jahrelang war er Gouverneur von Santa Cruz, der südlichsten Provinz Argentiniens. Als er sich zur Präsidentschaftswahl stellte, hatte er keine Hausmacht hinter sich. Doch Eduardo Duhalde, der mächtige Parteifürst der Provinz Buenos Aires, in der über ein Drittel der Argentinier lebt, unterstützte ihn gegen seinen Intimfeind Menem. Die Partei selbst allerdings, die in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit hat, steht Kirchner bis heute skeptisch gegenüber. Von ihren Provinzbaronen wird er angefeindet.
Den mangelnden Rückhalt in der Partei kompensierte Kirchner mit einer Politik, die ihn schnell populär machte. Er verkündete das Ende der impunidad, der „Straflosigkeit“. Tausende von Argentiniern waren während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 ermordet worden, 10000 bis 30000 Personen sind damals „verschwunden“. Kirchner brachte im Parlament ein Gesetz durch, das zwei Gesetze von 1987 für null und nichtig erklärt, die faktisch einer Amnestierung der Verbrechen der Diktatur gleichkamen. Allerdings ist umstritten, ob das neue Gesetz verfassungskonform ist. Das Urteil des Obersten Gerichts steht noch aus.
Viele Polizisten sind kriminell
Mehr als die Vergangenheit beschäftigt die Argentinier jedoch die Gegenwart. Und was zumindest den Einwohnern von Buenos Aires am meisten Sorgen bereitet, ist Umfragen zufolge nicht Arbeitslosigkeit, sondern Gewalt und Kriminalität. auch in ihren Straßen, fordern sie, solle Schluss sein mit der impunidad. Kriminelle Polizisten wie korrupte Politiker sollen endlich bestraft werden wie alle anderen auch. Kirchner, ein Mann mit Gespür fürs Volksempfinden, wechselte schon kurz nach seiner Amtseinführung die gesamte Polizeispitze aus. Gegen den früheren Präsidenten Menem laufen zurzeit drei Prozesse – wegen Schmiergeldzahlungen beim Bau von Gefängnissen, wegen illegaler Waffenlieferungen an Ecuador und Kroatien sowie wegen unversteuerter Gelder auf dubiosen Konten in der Schweiz. Menem, mit zwei internationalen Haftbefehlen gesucht, hat sich ins chilenische Exil abgesetzt.
Dass die Polizei von Buenos Aires zutiefst ins organisierte Verbrechen verstrickt ist, sich viele ihrer Beamten am bandenmäßigen Diebstahl von Autos und Lastwagen eine goldene Nase verdienen, Drogenhändler gegen Bares laufen lassen oder bei Entführungen mitkassieren, wurde in zahlreichen Gerichtsprozessen bewiesen. Bis vor kurzem hatte es den Anschein, als müssten die Porteños mit Gewalt und Korruption leben lernen.
Doch dann kam der Fall Blumberg. Der 23-jährige Student Axel Blumberg wurde im März entführt und von den Kidnappern erschossen, als bei der Geldübergabe die Polizei auftauchte. Später fanden sich Hinweise, nach denen die Entführer gute Kontakte zur Polizei unterhielten. Inzwischen wurde der Chef der Abteilung zur Bekämpfung von Entführungen festgenommen, was niemanden sonderlich wunderte. Was hingegen selbst die Argentinier überraschte: Rund 200000 Bürger fanden zu einer machtvollen Kundgebung zusammen, zu der Juan Carlos Blumberg, der Vater des ermordeten Axel, aufgerufen hatte. Sie forderten mehr Sicherheit im Alltag. Schon bald avancierte Papa Blumberg, von Beruf Textilingenieur, zum Liebling der Nation. Er verlangte öffentlich längere Gefängnisstrafen für Gewaltverbrecher, die Herabsetzung des Alters für Strafmündigkeit von 16 auf 14 Jahre und eine Reorganisation der Polizei. Das Parlament beeilt sich seither, seine Forderungen in Gesetze zu gießen, und Argentiniens Intellektuelle rätseln über das „Phänomen Blumberg“. Der Mann mit dem schütteren schlohweißen Haar und den ewigen Bartstoppeln ist zum konservativen Führer einer schweigenden Mehrheit geworden. Er wird nun oft in einem Zug mit Evita erwähnt, der vom einfachen Volk bis heute mystisch verklärten, jung verstorbenen Gattin Peróns, und mit dem Fußballkönig Diego Maradona, um dessen Gesundheit die halbe Nation zittert.
Eine Gouverneurin unter Arrest
Präsident Kirchner hat Kriminalität und Korruption den Kampf angesagt. Und in der Nordprovinz Santiago del Estero, wo Günstlingswirtschaft, Verfolgung politischer Gegner und Verstöße gegen die Menschenrechte himmelschreiende Ausmaße angenommen hatten, setzte er tatsächlich am 1. April die Gouverneurin ab und ließ sie samt ihrem Ehemann, zugleich ihr Amtsvorgänger, der seiner Frau zuletzt als Wirtschaftsminister diente, unter Hausarrest stellen. In Buenos Aires hat Kirchner allerdings bisher nicht aufgeräumt. Hier herrscht der mächtige Peronistenfürst Duhalde, der ihn einst gefördert hat, nun aber mit ihm im Clinch liegt.
Der latente Konflikt zwischen Kirchner und Duhalde entlud sich auf dem Parteikongress Ende März in einem vor Fernsehkameras ausgetragenen Streit zwischen ihren Ehefrauen. Die First Lady bezichtigte Señora Duhalde, nur wegen ihres Ehemannes in die Parteiführung gewählt worden zu sein. Aus Protest gegen diesen Vorwurf legten innerhalb von drei Tagen vier Fünftel der neu gewählten Mitglieder des Parteivorstandes ihr Amt nieder. Böse Zungen behaupten, Kirchner habe den Zwist arrangiert, weil ihm eine geschwächte, führungslose Partei lieber sei als eine starke.
Bislang hat Kirchner die Partei und ihre Barone weitgehend ignoriert. Stattdessen setzte er auf seine Popularität beim Volk. Doch spätestens wenn im nächsten Monat auf der Südhalbkugel der Winter einkehrt und der Präsident wegen der scharfen Energiekrise unpopuläre Preiserhöhungen dekretieren muss, könnte sich die Arroganz rächen, mit der er seine Partei behandelt. Dann nämlich wird Kirchner auf die Loyalität der Peronisten angewiesen sein. Dass er aber die Partei unter seine Kontrolle bringt und ihre so bitter notwendige Erneuerung durchsetzt, scheint angesichts der tradierten Klientelwirtschaft der Peronisten und der Machtstellung seines innerparteilichen Kontrahenten Duhalde wenig wahrscheinlich.
Als Kirchner Anfang Mai für eine Woche in die USA reiste, traf sich Duhalde mit den einflussreichsten Köpfen der peronistischen Partei – angeblich um über ein Mausoleum für Perón und Evita zu beraten. Für ein Pressefoto standen die Gegner des Präsidenten gemeinsam auf der Aussichtsplattform des historischen Eisenbahnwaggons, mit dem die Peróns vor 50 Jahren durchs Land reisten. Die Botschaft des Bildes war deutlich: Der Zug fährt ohne Kirchner ab. Allerdings könnten seine Gegner genauso gut aufs Abstellgleis rollen.
 

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid