Hochland gegen Tiefland Drucken
Thomas Schmid - DIE ZEIT, 08.02.2007 Nr. 07

Ein Jahr ist Evo Morales, der erste indianische Präsident Boliviens, im Amt. Die Reichen fürchten seine Reformen, dabei schickt der Held der Kokabauern nun Truppen gegen die Armen.

Sucre ist eine architektonische Perle. Die verfassungsmäßige Hauptstadt Boliviens (La Paz ist nur der Regierungssitz) gehört zu den am besten erhaltenen Kolonialstädten Südamerikas: drei Dutzend Kirchen, drei Klöster, eine bald 400 Jahre alte Universität, der ehemalige Regierungspalast und die berühmte Casa de la Libertad. Hier, im »Haus der Freiheit«, wurde 1825 der unabhängige Staat Bolivien ausgerufen, hier sind auch die Ölgemälde mit den Porträts der wichtigsten Präsidenten versammelt, vom spanischstämmigen Simón Bolívar, dem »Befreier« Lateinamerikas und ersten Präsidenten des Andenstaates, bis hin zu Evo Morales, einem Abkömmling von Aymara-Indianern.

Der wurde vor einem Jahr mit sensationellen 54 Prozent der Stimmen ins höchste Staatsamt gewählt und versucht nun, Bolivien ein zweites Mal zu gründen. Denn Morales hat eine »demokratische und kulturelle Revolution« ausgerufen, und Revolutionen brauchen einen Nullpunkt, der den Beginn der neuen Ära markiert. »Refundar Bolivia« heißt die Parole, »Bolivien neu gründen«. Als Erstes muss eine neue Verfassung her. Also tagt nun die verfassunggebende Versammlung im großen Theater von Sucre.
Das Parkett ist zweigeteilt. In der linken Hälfte sitzen die Regierungsanhänger, unter ihnen viele einfache Leute, Männer in grobem Pullover und mit breitkrempigem Hut, einige auch im Poncho, zahlreiche Frauen in den farbigen Gewändern der Aymara- und Quechua-Indianer aus dem Hochland. In der rechten Hälfte, in den Bänken der Opposition, sieht man dezentes Grau und Braun, dazu weiße Hemden und Krawatten. Die Kleider symbolisieren die soziale und politische Kluft, die nun das Land buchstäblich zu spalten droht.
Um eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, benötigte das Regierungslager im Parlament eine Zweidrittelmehrheit, die es nicht hatte. Die Opposition hatte im März schließlich unter zwei Bedingungen eingelenkt: Sie setzte ein Referendum über eine Autonomie der neun Departements des Landes durch, und zudem wurde gesetzlich festgelegt, dass der Text der neuen Verfassung von der verfassunggebenden Versammlung mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden muss.
Morales hat bereits sein Geburtshaus zur nationalen Gedenkstätte erklärt
Beim Referendum stimmten die vier Departements des Tieflandes, das mit der Förderung von Erdgas und Erdöl, mit Viehzucht und Sojaanbau einen Großteil des bolivianischen Sozialprodukts erwirtschaftet, für eine Autonomie, die ärmeren Departements des Hochlandes, wo Evo Morales seine Hochburgen hat, dagegen. Und im November verabschiedete das Parlament ein Gesetz, wonach die verfassunggebende Versammlung die einzelnen Artikel mit einfacher Mehrheit verabschiedet und nur bei der Schlussabstimmung über den Gesamttext eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Das widersprach zumindest dem Geist der gesetzlichen Vereinbarung vom März.
Seither kommt Bolivien nicht mehr zur Ruhe. Die Fronten stehen: das von den weißen Großgrundbesitzern dominierte Tiefland gegen das indianisch geprägte Hochland; der reiche Osten gegen den armen Westen; die Wirtschaftsmetropole Santa Cruz gegen den Regierungssitz La Paz. Rubén Costa gegen Evo Morales.
Rubén Costa ist Gouverneur des Departements Santa Cruz, das ein Drittel der bolivianischen Staatsfläche ausmacht und ziemlich genauso groß wie ganz Deutschland ist, aber nur 2,4 Millionen Einwohner zählt, von denen die Hälfte in der gleichnamigen Hauptstadt lebt. Costa ist ein mächtiger Mann. Er kann sich aber auch bescheiden geben. Auf dem zentralen Platz von Santa Cruz sind Tausende von Frauen zusammengekommen, um Autonomie und »Zweidrittel« zu fordern. Da taucht Costa auf, fällt auf die Knie und küsst das Kruzifix, das ihm um den Hals baumelt. »Der Cruzeño«, erklärt der Gouverneur anschließend bei einer Pressekonferenz, »geht nur vor seiner Religion in die Knie.« Will heißen: nicht vor irgendeiner Regierung im fernen La Paz. Noch am selben Tag rufen die Gouverneure der vier Departements des Tieflandes eine gemeinsame »Autonome Region« aus.
Noch ist die »Autonome Region« nur eine Deklaration, keine Realität. Doch hinter dem Konflikt verbergen sich handfeste Interessen, die den Osten gegen den Westen aufbringen. Morales hat Ende November eine Agrarreform durchgesetzt, die viel böses Blut schafft. Der Staat kann seither unproduktives Land an Neusiedler verteilen. Ob das Land eine »wirtschaftlich-soziale Funktion« hat, das heißt, ob der Großgrundbesitzer es auch bewirtschaftet, soll nicht mehr wie bisher alle fünf Jahre, sondern künftig alle zwei Jahre überprüft werden. »Welche Bank aber wird mir künftig einen Kredit geben«, klagt Julio Roda, Vizepräsident der Landwirtschaftskammer des Ostens, des mächtigen Bauernverbands, in dem die Großgrundbesitzer den Ton angeben, »wenn sie nicht weiß, ob ich nach zwei Jahren nicht doch enteignet werde?« Roda nennt 400 Hektar Land sein Eigen. Davon kann mancher Hochlandindianer nur träumen. Im Vergleich zu anderen wiederum ist es nicht viel. Der Medienunternehmer Osvaldo Monastero beispielsweise besitzt 25.000 Hektar.
Roda liegt auf einer Matratze in der Vorhalle des Gouverneurpalastes, spricht vom »Terrorismus« der Regierung und schlürft Kokatee. Im Erdgeschoss haben sich Dutzende von Männern, zum Teil mit ihren Familien, niedergelassen. Draußen auf dem Hauptplatz campieren noch viel mehr. Über 1500 Menschen sind in Santa Cruz vorübergehend im Hungerstreik – gegen die Regierung Morales, für Autonomie, für »Zweidrittel«.
»Die Regierung steuert in Richtung Kommunismus«, behauptet auch Eduardo Núñez de Prado, »das Land und die Privatunternehmen werden verstaatlicht. Man schickt uns Siedler aus dem Hochland. Bloß weil wir weiß sind, glaubt man, wir hätten Schuld an 500 Jahren Kolonialismus.« Der Direktor des Viehzüchterverbandes gehört zu den ärmeren Leuten seines Milieus. Er hat nur 500 Stück Vieh, andere haben über 10.000. »Die Regierung hat den Dialog mit uns abgebrochen«, behauptet er, »früher herrschte Harmonie. Bei Problemen wurde verhandelt.«
»Es herrschte Harmonie«, sagt Miguel Urioste in seinem Büro in La Paz, »weil die Großgrundbesitzer das staatliche Institut kontrollierten, das die Inspektoren einsetzte, die begutachteten, ob sie ihr Land auch bewirtschafteten. Man hatte den Bock zum Gärtner gemacht.« Urioste ist Leiter der unabhängigen Stiftung Tierra, die sich mit Fragen der Agrarreform befasst. »Es gibt die Angst vor Verletzung des Privateigentums und vor Verlust juristischer Sicherheit«, sagt er, »aber es gibt auch die Angst vor der ›Invasion dreckiger Indianer‹ aus dem Westen. Es gibt im Osten einen tief verwurzelten Rassismus.«
Wohin aber steuert Boliviens Präsident, den die einen als Marionette Fidel Castros und seines venezolanischen Adepten Hugo Chávez verteufeln und die andern als Heilsbringer verehren? Was für ein Mensch ist Evo Morales, der noch vor Ablauf seines ersten Amtsjahres sein Geburtshaus zur nationalen Gedenkstätte erklärt hat und dessen Konterfei bereits Briefmarken ziert?
»Morales«, sagt der Journalist und Historiker Carlos Mesa, »hat in einer der konfliktträchtigsten Zonen des Landes eine kämpferische Gewerkschaft geführt, den Verband der Kokapflanzer. Immer wieder wurden Cocaleros erschossen, es gab auch ermordete Polizisten und tote Soldaten. Das ist das Milieu, das den Präsidenten geprägt hat. Morales sucht die Konfrontation. Und er hat ja mit seiner Strategie Erfolg gehabt.« Mesa sagt das nicht ohne Verbitterung. Der Fernsehjournalist und Buchautor war Präsident Boliviens – bis zum Frühsommer 2005. Da blockierten Morales und seine Anhänger einen Monat lang sämtliche Zufahrtstraßen nach La Paz und zwangen Mesa zur Aufgabe.
Als ob er mit den Großgrundbesitzern und Viehzüchtern im Tiefland nicht schon genug Gegner hätte, vergrätzt Morales nun mit einer angekündigten Schulreform auch die städtischen Mittel- und Oberschichten. Fortan sollen die spanischsprachigen Kindern als obligatorische Zweitsprache Aymara oder Quechua lernen. Viele Eltern fragen besorgt, was das ihren Kindern denn im Zeitalter des Internets nützen wird.
Es gibt nicht nur Tee, sondern auch Schnaps und Zahnpasta aus Koka
Während Boliviens Präsident im Land selbst immer mehr unter Beschuss kommt, arrangiert sich Lateinamerika mit ihm. »Die militärische Besetzung der ausländischen Förderanlagen von Erdgas und Erdöl war Theaterdonner«, meint der italienische Physiker und Erdgasexperte Francesco Zaratti, der seit über 30 Jahren in Bolivien lebt, »von einer Verstaatlichung kann nicht die Rede sein.« Zwar bezahlen die brasilianische Petrobras (der größte Investor in Bolivien), die spanische Repsol, die französische Total und US-Fördergesellschaften heute deutlich höhere Abgaben. Aber die hatte schon Morales’ Vorgänger Mesa beschlossen. Brasilien wird weiterhin die Hälfte des bolivianischen Gases abnehmen. Argentinien wird nach wie vor Gas aus Bolivien importieren. Und selbst mit dem »Erzfeind« Chile, das Bolivien im »Salpeterkrieg« vor 120 Jahren den Zugang zum Meer abgenommen hatte, sucht Morales den Ausgleich. »Ihm könnte sogar die Aussöhnung gelingen«, vermutet Ex-Präsident Mesa und lässt durchblicken, dass ihm als Weißem dies als Vaterlandsverrat angelastet worden wäre.
Bislang hat es Bolivien also kaum geschadet, dass Morales ein enges Bündnis mit Chávez und Castro geschmiedet hat. Auch die USA scheinen vorerst das ärmste Land Südamerikas zu schonen. Im Dezember haben sie überraschend das ATPDEAAbkommen mit Bolivien um ein halbes Jahr verlängert. Das Agreement gewährt den Koka produzierenden Staaten Zollvergünstigungen, wenn sie gewillt sind, Kokapflanzungen, die der Kokainproduktion dienen, zu vernichten. Während Evo Morales in Kuba gegen bilaterale Verträge wetterte, handelte sein Vize Álvaro García Linera in den USA die Verlängerung des Abkommens aus, das im bolivianischen Hochland etwa 80.000 Indianer-Familien die Existenz sichert.
Nur ändert das nichts daran, dass es innenpolitisch für Morales immer ungemütlicher wird. Inzwischen gerät er sogar mit seiner ureigenen Klientel, den Kokabauern, aneinander. Zwar hat er gleich nach der Verlängerung des Abkommens mit den USA die gesetzlich zugelassene Anbaufläche von 12.000 Hektar bis zum Jahr 2010 auf 20.000 Hektar verkündet – was ungefähr der derzeitigen gesamten Anbaufläche entspricht. Dem Staatspräsidenten schwebt die industrielle Aufbereitung der Pflanze vor: Außer Tee und Blättern zum Kauen gibt es bereits Schnaps, Likör, Kosmetika und Zahnpasta aus Koka.
Doch im Januar geriet Morales erstmals zwischen alle Stühle. In der Stadt Cochabamba kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als der Gouverneur, ein Gegner von Morales, ein neues Plebiszit zur Frage der Autonomie ankündigte, obwohl sich die Mehrheit seines Departements bei der Volksabstimmung im Sommer dagegen ausgesprochen hatte. Cocaleros errichteten daraufhin rund um die Stadt Blockaden. Ein Kokapflanzer wurde erschossen, ein Anhänger des Gouverneurs erdrosselt. Staatspräsident Evo Morales musste schließlich Truppen schicken – gegen jene Kokabauern, deren Gewerkschaft er immer noch führt.