Täuschung und Enttäuschung |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 30.12.2011 Dreimal – in Tunesien, Marokko und Ägypten – wurde in diesem Jahr in der arabischen Welt gewählt, und dreimal haben die Islamisten gewonnen. Die Enttäuschung ist groß. Bei jenen, die vor einem Jahr in Tunis und Kairo Kopf und Kragen riskiert haben und jetzt mit ansehen müssen, wie die Trittbrettfahrer der Revolution Wahlsiege einheimsen. Aber auch hierzulande, hat man doch weithin angenommen, die Länder jenseits des Mittelmeers würden sich jetzt gewissermaßen auf den Weg in die Moderne aufmachen. Der Enttäuschung ging eine
Täuschung voraus. Weder in Tunesien noch in Ägypten gibt es das Volk. In
Tunis gingen Zehntausende von Jugendlichen für Freiheit und Demokratie
auf die Barrikaden, im konservativen, religiös geprägten Zentrum und
Süden des Landes bangten die Menschen vor allem um ihre wirtschaftliche
Zukunft. Auf dem Tahrir-Platz protestierten Hunderttausende gegen die
Diktatur. In den Vor- und Schlafstädten Kairos und auf dem Land hatte
man andere Sorgen. Der verengte Blick auf eine Facebook-Jugend, die sich
am Westen orientiert, hat ein Trugbild entstehen lassen. Der Täuschung
folgt die Enttäuschung. Mehrere Faktoren erklären die Wahlsiege der
Islamisten, die übrigens auch in Libyen wie in Syrien heute die stärkste
politische Kraft sind. Die Islamisten haben unter der Diktatur in
Tunesien und Ägypten den höchsten Blutzoll entrichtet. Für viele
Tunesier ist ihr neuer Ministerpräsident Hamadi Jebali weniger ein
Islamist als vielmehr ein tunesischer Mandela. Er hat 16 Jahre lang in
Haft gesessen. In Ägypten wurden Tausende von Muslimbrüdern allein
aufgrund ihrer Überzeugung inhaftiert und in der Regel auch gefoltert. In
allen drei Ländern Nordafrikas, in denen gewählt wurde, haben es die
Islamisten verstanden, das weit verbreitete Unbehagen an der Moderne
politisch zu kanalisieren. Sie haben ihre öffentliche Rede auf die
arabisch-muslimische Identität fokussiert und damit einer gedemütigten
Gesellschaft, in der die Diktatur Scham und Selbsthass erzeugt hat,
einen Weg zu Selbstachtung und Stolz gewiesen. In
Tunesien regieren nun Islamisten, in Ägypten faktisch noch die Militärs,
und in Marokko hat der König immer das letzte Wort. Die drei Länder
sind die drei wichtigsten Ziele für europäische Touristen im arabischen
Raum. Und in allen drei Staaten gehört der Tourismus zu den wichtigsten
Einnahmequellen. Von daher ist nicht zu erwarten, dass nun
Geschlechtertrennung an den Stränden eingeführt wird und es in den
Touristenhotels schon bald kein Bier mehr gibt. Es hat etwas Obszönes
an sich: Im Westen fürchtet man jetzt schon eine Beschneidung von
Freiheiten, wo man Diktaturen doch jahrzehntelang umstandslos
unterstützt hat. In Tunesien und Ägypten fanden zum
ersten Mal in der Geschichte freie und faire Wahlen statt. Niemand
stellte die Ergebnisse infrage. Die Verlierer akzeptierten ihre
Niederlage. Damit ist die Voraussetzung für eine demokratisch
legitimierte Macht geschaffen. Tunesien, die Wiege der
Arabellion, ein Land mit einem relativ hohen Bildungsstandard und einer
entwickelten Mittelschicht, ist auf dem Weg zu einem demokratischen
Rechtsstaat am weitesten fortgeschritten. In Ägypten hingegen
beansprucht der Oberste Militärrat, angeführt von Feldmarschall Tantawi,
der Mubarak 20 Jahre als Verteidigungsminister diente, die Oberaufsicht
über eine demokratische Entwicklung. Angesichts des fulminanten
Sieges der Islamisten in der zweiten Wahlrunde – 37 Prozent für die
Partei der Muslimbrüder plus 29 Prozent für die Salafisten, extrem
fundamentalistische Islamisten – neigen liberale Kreise dazu, der Armee,
Hauptstütze der abgehalfterten Diktatur, eine Wächterrolle
zuzubilligen. Ein fatales Kalkül. Schon Mubarak hatte sich als Garant
einer durch Islamisten angeblich gefährdeten Ordnung empfohlen. Wer
demokratische Wahlen will, muss auch deren Resultate akzeptieren. Die
Islamisten der tunesischen Ennahda und der ägyptischen
Muslimbruderschaft hatten einst zu Gewalt und Demokratie durchaus ein
ambivalentes, taktisches Verhältnis. Doch sie haben sich im Laufe der
Jahrzehnte geändert. Heute sind es religiös grundierte konservative
Parteien mit neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen. Sie akzeptieren die
demokratischen Spielregeln. Sie müssen eine Chance erhalten. Die
arabische Revolution steht noch am Anfang. Die Transformation der
Gesellschaften wird Jahre oder Jahrzehnte beanspruchen. Es wird
Rückschläge geben. Sollten die Islamisten die Freiheitsräume wieder
einengen, bleibt die begründete Hoffnung auf eine zweite Revolution. Vor
allem Jugendliche und Frauen wissen, was sie zu verlieren haben. Eine
Rückkehr zu den früheren Verhältnissen wird es nicht geben. Die alten
Zeiten sind endgültig vorbei. |