Zwischen Peking und Leipzig Drucken

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.06.2009

Wird der Protest im Iran bald abflauen? Oder werden nun jeden Tag Zehntausende, ja Hunderttausende auf die Straßen Teherans strömen, um Neuwahlen zu fordern, bis das Regime wankt und nachgibt oder gar zusammenbricht? Kommt es zu einem Tian'anmen, zur chinesischen Lösung, praktiziert vor 20 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking? Oder wird es doch eher friedlich ausgehen wie in Leipzig, kurz bevor die Mauer fiel, auch vor 20 Jahren? Im Iran entwickelt der Protest eine Eigendynamik, die viele Optionen bereithält.


Die Gefahr, dass das Regime seine Kettenhunde von der Leine lässt, ist durchaus real. Die Pasdaran - 150 000 Mann stark mit eigener Luftwaffe - sind unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad, der der paramilitärischen Truppe als Jugendlicher einst selbst beigetreten war, zu einem mächtigen Wirtschaftsfaktor angewachsen. Ihre Kader kontrollieren große Teile des Öl- und Gassektors, der Bau- und Telekommunikationsbranche. Sie haben Ahmadinedschad viel zu verdanken und hätten mit seinem erzwungenen Rücktritt viel zu verlieren.

Die andere Option, dass das Regime den Forderungen der Opposition nachgibt und Neuwahlen anordnet, ist äußerst unwahrscheinlich. Ajatollah Ali Chamenei, der Oberste Rechtsgelehrte und de jure wie de facto oberste Machthaber im Land, der gleichzeitig Oberkommandierender der Armee ist, spielt auf Zeit und hofft auf eine Beruhigung der Lage. Er hat den mächtigen, weitgehend von ihm nominierten Wächterrat aufgefordert, die Wahlresultate zu überprüfen - aber nur in einzelnen Distrikten. Dieser wird allenfalls etwas nachbessern, aber den Wahlsieg Ahmadinedschads wohl bestätigen. Chamenei hat den Präsidenten im Wahlkampf offen unterstützt und ihn - gegen alle Usancen - selbst zum Sieger erklärt. Der Wächterrat wird die Autorität des Ajatollahs nicht in Frage stellen.

Ob der Protest abflaut oder in einem Blutbad endet - die aktuelle Revolte wird der Theokratie kein Ende setzen, selbst im unwahrscheinlichen Fall nicht, dass Ahmadinedschad den Präsidentensessel auf Druck von oben räumt. Trotzdem: Die Islamische Republik war in ihrer 30-jährigen Existenz noch nie so erschüttert wie in diesen Tagen. Noch nie haben sich Exponenten des Machtapparats so offen befehdet. Hinter Ahmadinedschad steht Chamenei, hinter Hussein Mussawi, seinem Kontrahenten im Wahlkampf, stehen nicht nur die Millionen, die seit Tagen überall im Iran demonstrieren, sondern auch der zweitmächtigste Mann im Staat: Ali Rafsandschani, der frühere Präsident und nun Vorsitzende des Expertenrats, der seinerseits den Obersten Rechtsgelehrten wählt. Der eine Flügel des Machtapparats steht für dogmatische Härte und Staatswirtschaft, der andere für eine vorsichtige Öffnung und mehr Markt.

Dass nun die gesellschaftliche Opposition sich ausgerechnet hinter einem Mann wie Mussawi versammelt, verweist auf die ganze Tragik der Situation. Mussawi gehört zu den vier von 475 Bewerbern ums Präsidentenamt, deren Kandidatur der Wächterrat überhaupt zugelassen hat. Er kommt aus dem Apparat. Von 1981 bis 1989 war er Ministerpräsident des Landes. Danach zog er sich 20 Jahre lang aus der Politik zurück. Er mag heute vieles mit andern Augen sehen. Doch hat er noch nach den Wahlen seine frustrierten Anhänger davor gewarnt, die Grundlagen des Islamischen Staates zu zerstören.

Ein respektabler Teil der Demonstranten möchte aber gerade das. Die meisten unter ihnen sind wohl gläubige Muslime, aber sie möchten in einer Demokratie leben - mit freien Wahlen, freiem Zugang zum Internet, ohne Ajatollahs, die über den gewählten Repräsentanten stehen, ohne die mit Knüppeln bewaffneten "Freiwilligen" der Basidsch, die über die Länge der Röcke wachen. Der Protest wird bestenfalls das Regime zu einer Öffnung bewegen. Die Theokratie aber ist in der Verfassung festgeschrieben. Ihre Überwindung ist auf dem Weg von Wahlen gar nicht möglich. Sie setzt - wie in den letzten Monaten des von Ajatollah Khomeini 1979 gestürzten Schah-Regimes - eine Lähmung der Sicherheitsapparate und ihre Zersetzung von innen voraus. Davon ist der Iran heute weit entfernt.

Der Schah hätte damals freie und faire Wahlen mit Sicherheit haushoch verloren. Ahmadinedschad aber hatte am vergangenen Freitag wohl rund die Hälfte der Wähler hinter sich. Ob etwas mehr oder etwas weniger, wird nicht geklärt werden. Erst wenn seine noch breite gesellschaftliche Basis unter den Armen und vor allem auf dem Land dahinschmilzt und kein neuer Messias Erfolg hat, wird sich die wirkliche Machtfrage stellen.

Bis dahin werden sich die USA allemal mit einer antiwestlichen Theokratie arrangieren müssen. Daran sind sie im Übrigen nicht unschuldig. Mit Hilfe der CIA stürzten sie 1954 die einzige demokratische Regierung, die der Iran je hatte, und mit ihrer umstandslosen Unterstützung der Schah-Diktatur trugen sie vor 30 Jahren wesentlich zum Sieg der Mullahs bei.

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