In Männerbünden Drucken
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.02.2010


Mutproben sind Initiationsriten - vornehmlich einer männlichen Welt. Wer sie besteht, gehört dazu. Kleine Pfadfinder laufen barfuß über Brennnesseln, um in der Gruppe mitmachen zu dürfen. Halbwüchsige rauben andern Halbwüchsigen Handys, Turnschuhe oder Bomberjacken, um in die Straßengang aufgenommen zu werden. Und mancher Student bezahlte früher seine Vereinsschärpe mit einem Schmiss im Gesicht. Auch das Komasaufen gehört in diese Kategorie. Das alles ist manchmal gesundheitsgefährdend, manchmal strafwürdig, aber immer reichlich pubertär.


Anders zu bewerten ist, was sich offenbar im oberbayrischen Mittenwald zugetragen hat und sich - mutatis mutandis - wohl in den meisten Armeen der Welt abspielt. Da wurden Gebirgsjäger mehr oder weniger gezwungen, rohe Schweineleber oder Rollmöpse mit Frischhefe hinunterzuwürgen, Alkohol bis zum Erbrechen zu saufen und sich im Gebirge splitternackt vor den Kameraden aufzustellen. Auch hier ging es um Initiation, um spätpubertäre Mutproben - allerdings in einer Welt von Erwachsenen, von Soldaten, die notfalls unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen sollen.


Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und der Befreiung der Deutschen von nationalsozialistischer Herrschaft, wurde die Bundeswehr gegründet. Das Leitbild ihrer Inneren Führung war der "Staatsbürger in Uniform", ein glücklicher Begriff, den damals der wehrpolitische Berater der SPD Friedrich Beermann erfand. Der "Bürger in Uniform" setzt sich ab vom Soldaten der Wehrmacht, die halb Europa zerstört hat, und auch von jenem des Wilhelminischen Reiches, in dem die Armee ein Staat im Staate war - eine Rolle, die sie in die Weimarer Republik hinüberzuretten verstand.*


Die Leitfigur des "Staatsbürgers in Uniform" markiert einen radikalen Bruch mit der deutschen Geschichte von Obrigkeitsstaat und Diktatur. Der Soldat soll nicht mehr willenloses Geschöpf eines Korps sein. Er soll als souveräner Bürger eines demokratischen Staates seinen Dienst verrichten, letztlich verantwortlich gegenüber der Gesellschaft und sich selbst. Wer dies vor sich selbst nicht verantworten kann, darf den Dienst verweigern.


Bei allen guten Intentionen bleibt aber ein Haken: Eine Armee muss, wenn sie schlagkräftig sein will, weit mehr als jede andere Institution auf Hierarchie, auf Befehl und Gehorsam setzen. In Redaktionen mag man diskutieren, moderne Unternehmen setzen auf breit abgestützte Entscheidungsprozesse. Im Krieg - und der ist ja die raison d'être jeder Armee - kann nicht lange diskutiert werden. Der Offizier muss darauf bauen können, dass ihm seine Soldaten gehorchen.


Hierarchische Männerbünde aber sind anfällig für Strukturen, in denen die Hackordnung mittels Demütigung bestimmt und bestätigt wird. Bei den abstoßenden Mutproben von Mittenwald geht es um Macht und Kontrolle. Und ähnlich wie in andern Männerbünden hat sich unter den Gebirgsjägern in Oberbayern ein Korpsgeist herausbildet, der die Truppe zusammenschweißt und die Einzelnen zur Verschwiegenheit verpflichtete. Seit mehr als 20 Jahren soll es in Mittenwald immer wieder zu entwürdigenden Mutproben gekommen sein. Über 20 Jahre wurde darüber nicht geredet, obwohl viele davon wissen mussten.


Das erinnert an den Skandal an der Jesuitenschule von Berlin. Gewiss, man darf den Vergleich nicht überstrapazieren. Schließlich haben am Elitekolleg erwachsene Männer Halbwüchsige missbraucht, während in der Eliteeinheit von Mittenwald erwachsene Soldaten erwachsene Soldaten demütigten. Trotzdem fällt auf: Der absolute Gehorsam wird in der Geschichte der Jesuiten, die im Übrigen von einem "General" geführt werden, höher bewertet als in jedem anderen katholischen Orden. Auch im Jesuitenkolleg zu Berlin haben die Misshandlungen, Entwürdigungen und Erniedrigungen mehr mit Macht und Willen zur Kontrolle zu tun als mit einem Sexualnotstand, der auch eine Rolle spielen mag.


In Mittenwald wie in Berlin wurde jahrzehntelang geschwiegen. An beiden Orten müssen viele Leute davon gewusst haben. In beiden Männerbünden zieht man in der Regel eine interne disziplinarrechtliche Sanktionierung einer strafrechtlichen vor - aus Angst vor dem schlechten Ruf.


Umgekehrt wird ein Schuh draus: Dem Ruf ist am besten gedient, wenn Missbrauch an die Öffentlichkeit kommt, wenn er in den Schulen und in den Kasernen öffentlich diskutiert und gegebenenfalls strafrechtlich sanktioniert wird.

© Berliner Zeitung

 
* In der in der "Berliner Zeitung" publizierten Fassung hatten sich da zwei Fehler eingeschlichen, auf die mich dankbarerweise ein kluger Leser aufmerksam gemacht hat und die nun in der vorliegenden Fassung dieser homepage korrigiert sind. Ich hatte - fehlerhaft - von den Landsern der Reichswehr des Wilhelminischen Reiches geschrieben. Die Reichswehr aber gab es erst in der Weimarer Republik. Zudem: Mit "Landser" wird in der Regel der Soldat der Wehrmacht des Dritten Reiches bezeichnet.