Türkische Flickschusterei Drucken
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.09.2010


Nie in ihrer 87-jährigen Geschichte war die Türkei so demokratisch wie heute - dank Recep Tayyip Erdogan. Der Ministerpräsident und Vorsitzende der AKP, einer islamisch grundierten Partei, hat reihenweise Tabus gebrochen: Er sprach im Parlament von Massakern des Staates an Kurden; die Vertreibung der Christen aus der Türkei nannte er ein faschistisches Verbrechen, und jüngst blockierte er die Beförderung von elf Generälen wegen ihrer mutmaßlichen Verwicklung in putschistische Pläne.



Am Sonntag, dem 30. Jahrestag des letzten Putsches der Armee, entscheiden die Türken in einem Referendum über 26 Änderungen an der 1982 von den Generälen diktierten Verfassung. Erdogan will dem Parlament mehr Rechte bei der Ernennung von Verfassungsrichtern geben; Armeeangehörige sollen wegen Verbrechen außerhalb der Kaserne vor die Schranken der zivilen Justiz gestellt werden. Damit will der Ministerpräsident in die beiden wichtigsten Bastionen der alten kemalistischen Elite einbrechen: die Justiz und die Armee, beide selbst ernannte Hüter des Erbes von Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei.


Die nationalistische CHP, die sich sozialdemokratisch nennt und Mitglied der Sozialistischen Internationale ist, hat über ihren Einfluss im Justizapparat immer wieder Reformen blockiert. 2009 verhinderte im Verfassungsgericht nur eine äußerst knappe Mehrheit ein Verbot der Regierungspartei, die bei den Wahlen 47 Prozent der Stimmen und eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze erhalten hatte.


Die Verfassungsänderungen weisen in die richtige Richtung. Doch sind sie Flickschusterei. Eine komplett neue Verfassung in Angriff zu nehmen, die mit dem autoritären Erbe des Kemalismus bricht, wagt Erdogan offenbar nicht, noch nicht. Unangetastet bleibt die Zehnprozentklausel, die kleinere Parteien vom Parlament fernhält und der AKP die Mehrheit sichert. Unangetastet bleibt die extrem zentralistische Struktur des Staates, die einer demokratischen Entwicklung Schranken setzt. Unangetastet bleibt vor allem das kemalistische Prinzip der homogenen türkischen Nation, das der kurdischen Minderheit, aber auch andern Volksgruppen, jede Identität abspricht.


Aber immerhin will Erdogan den Artikel 15 der Übergangsbestimmungen der Verfassung aufheben, der den Putschisten von 1980 Immunität zusichert. Doch just das ist in der türkischen Öffentlichkeit kein Thema. Nach dem Putsch wurden Hunderttausende Türken gefoltert, 230 000 vor Gericht gestellt, 14 000 verloren die türkische Staatsbürgerschaft, 171 starben unter der Folter. All das ist 30 Jahre her. Viele der Verantwortlichen leben noch - auch Kenan Evren (93), der damals den Putsch anführte und sich zum Staatspräsidenten ausrief.


Vielleicht hat der Krieg gegen die kurdische PKK, bei dem seit 1984 etwa 44000 Menschen starben, 1800 Dörfer zerstört und eine Million Menschen vertrieben wurden, die Erinnerung an den Putsch und die Folgen verdrängt. Doch auch für die Kriegsverbrechen der türkischen Armee im Kampf gegen die PKK ist bislang niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Trotz aller von Erdogan durchgesetzten Demokratisierung ist die türkische Gesellschaft von einer wirklichen Aussöhnung noch weit entfernt.

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