Späte Genugtuung für Srebrenica |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 27.05.2011 Noch muss man "mutmaßlich" sagen, um der Unschuldsvermutung Genüge zu tun. Aber es gibt keinen vernünftigen Zweifel: Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Ratko Mladic gilt zu Recht als der Schlächter von Srebrenica. Unvergessen sind die Bilder von der Selektion nach der Einnahme des ostbosnischen Städtchens durch seine Soldateska: Frauen und Kinder wurden zu Bussen geführt, die sie nach Tuzla in die Freiheit brachten, Männer und Jungen sah man nie wieder. An die 8000 Muslime wurden massakriert. Der Massenmord vom Juli 1995 rüttelte im
Westen die öffentliche Meinung auf und brachte im bosnischen Krieg die
Wende. Es dauerte zwar noch einige Wochen, aber dann bombardierte die
Nato die Stellungen der bosnischen Serben und erzwang - nach rund 100000
Toten - einen Waffenstillstand, der noch im selben Jahr in den Frieden
von Dayton mündete. Doch der Westen ist am Massaker, für das sich
Mladic nun vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verantworten muss,
nicht ohne Schuld. Srebrenica war zur UN-Schutzzone erklärt worden. Als
Mladics Soldaten die Enklave stürmten, flüchteten über 25000 Muslime zum
Hauptquartier des holländischen UN-Bataillons außerhalb der Stadt.
Unter den Augen der Blauhelme wurden die Männer abgeführt. Zum Symbol
des Versagens der internationalen Gemeinschaft wurde das Foto, auf dem
Ton Karremans, der Kommandant der UN-Truppen, und Mladic, beide
Sektgläser in der Hand, einander zuprosten. Doch die Schuld des
Westens liegt nicht so sehr bei den Holländern. Militärisch waren ihnen
Mladics Soldaten haushoch überlegen. Weshalb aber wurden, obwohl sich
Hinweise auf die Eroberung der UN-Schutzzone schon seit Monaten gehäuft
hatten, nicht rechtzeitig die mit modernen Leopard-Panzern ausgerüsteten
dänischen Blauhelme aus dem nur 70 Kilometer entfernen Tuzla nach
Srebrenica beordert? Weshalb lehnte der französische General Bernard
Javier, Oberkommandierender der UN-Truppen in Ex-Jugoslawien, dreimal
die von den holländischen Blauhelmen erbetene Luftunterstützung ab? Der
Verdacht liegt nahe, dass der Westen mit Blick auf eine spätere Teilung
Bosniens, die mit dem Dayton-Vertrag dann ja auch vollzogen wurde, den
Fall Srebrenicas billigend in Kauf nahm. Enklaven konnten bei einer
klaren Grenzziehung nur stören. All dies mindert Mladics Schuld
mitnichten. Der Oberkommandierende der Armee der bosnischen Serben ist
neben dem seit bald drei Jahren in Den Haag einsitzenden Radovan
Karadzic, damals Präsident der bosnischen Serbenrepublik, und neben dem
in Den Haag verstorbenen Slobodan Milosevic, dem großen Strippenzieher
in Belgrad, der Hauptverantwortliche für die bosnische Tragödie. Seine
Festnahme ist ein ermutigendes Zeichen für eine sich nach und nach
durchsetzende Weltjustiz, die im Sinn einer Generalprävention à la
longue vielleicht manchen Warlord oder Diktator abzuschrecken vermag.
Vor allem aber ist sie eine späte Genugtuung der traumatisierten
Angehörigen der Opfer von Srebrenica. |