Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.01.2013
Die Verunsicherung in Tunesien
ist groß. Spielen die regierenden Islamisten mit gezinkten Karten?
Haben sie ein geheimes Programm für den Weg in einen
Gottesstaat? Und ist die Sammlungsbewegung der laizistischen Opposition
letztlich nicht einfach die Fassade, hinter der sich die Kräfte
des alten Regimes des ins Exil gejagten Diktators neu
versammeln? Wer steckt hinter der Gewalt der Salafisten? Und wer sind
die Strippenzieher hinter Streiks, Straßenblockaden und
Überfällen auf Polizeistationen? Zwei Jahre nach dem Sieg der
Jasmin-Revolution haben in Tunesien Verschwörungstheorien Konjunktur.
Auch auf der nördlichen Seite des Mittelmeers herrscht
Verunsicherung. Man hatte die Revolution im Nachhinein begrüßt und
schnell verdrängt, wie prächtig man sich mit der Diktatur verstanden
hatte, die die Islamisten im Zaum hielt, besser gesagt: im Gefängnis.
Nun erwartete man, dass Tunesien sich - vielleicht mit etwas
Nachhilfeunterricht deutscher Parteistiftungen - schnurstracks auf den
Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat aufmachen würde. Dann vor einem
Jahr die große Enttäuschung: Die Islamisten gewannen die ersten
freien Wahlen. Man hatte übersehen, dass es neben der rebellischen
Facebook-Generation, neben der aufgeklärten Mittelschicht, neben
der frankofonen Elite der Hauptstadt, noch ein anderes Tunesien gibt,
ein religiös geprägtes und zutiefst konservatives.
Die Islamisten
verstanden es, einem gerade in ländlichen Schichten weit
verbreiteten Unbehagen an der Moderne Ausdruck zu verleihen. Ihr Diskurs
über die arabisch-muslimische Identität der Tunesier war Balsam für
eine gedemütigte Gesellschaft. Hatte die Diktatur Scham und Selbsthass
erzeugt, wiesen die Islamisten nun einen Weg zu Selbstachtung, ja
sogar Stolz. Doch irgendwann würde, das war klar, die Stunde der
Wahrheit kommen: Würden die konservativen Islamisten, die zusammen
mit zwei kleineren Parteien der laizistischen linken Mitte eine
Regierungskoalition gebildet haben, die wirtschaftlichen Probleme,
die der Revolution zugrunde lagen, lösen können oder sie wenigstens
entschieden anpacken? Inzwischen ist die Antwort klar: Die
Islamisten haben auf ganzer Linie versagt. Das Ungleichgewicht zwischen
der Hauptstadt und der relativ entwickelten Küstenregierung
einerseits und dem rückständigen Landesinnern und Süden andererseits
ist nicht kleiner geworden. Die Arbeitslosigkeit hat innerhalb
von zwei Jahren um 40Prozent zugenommen. Die arbeitslosen Jugendlichen
auf dem Land, von denen die Revolution ausgegangen ist, haben keine
Aussicht auf einen Job, auf die Gründung einer eigenen Familie, auf eine
Zukunft. Auch auf politischer Ebene ist die Bilanz katastrophal.
Die Verbrechen der Diktatur sind nicht einmal ansatzweise juristisch
aufgearbeitet. Zwei Jahre nach der Revolution hat Tunesien noch
immer keine Verfassung, und wann die Übergangsperiode zu
Ende ist und ein Parlament gewählt wird, steht in den Sternen. Je weniger Erfolge die Islamisten vorzuweisen haben, desto stärker
scheint ihr Wille zu sein, ihre Macht auszubauen, alles zu
kontrollieren, durchzuregieren, die Schaltstellen der Macht auf
allen Ebenen mit Parteigängern zu besetzen. Gefolgschaft zählt mehr als
Expertenwissen und Erfahrung. Doch die Auseinandersetzung über die
Zukunft Tunesiens ist noch längst nicht entschieden, die
Widerstandskräfte sind keinesfalls gebrochen. In den
wirtschaftlich abgehängten ländlichen Gebieten gewinnt die Gewerkschaft
neue Kraft. Und in den Städten macht die Zivilgesellschaft mobil.
Sie hat verhindert, dass die Islamisten die Scharia, die Diskriminierung
der Frau und die Strafbarkeit der Blasphemie im
Verfassungsentwurf verankerten. Der gesellschaftliche
Umbruch in Tunesien wird vermutlich noch Jahre dauern und
widersprüchlicher sein, als viele in der Euphorie über den Sturz der
Diktatur anfangs dachten. Und am Ende dieses Umbruchsprozesses
werden wohl weder eine lupenreine Demokratie noch ein radikal
laizistischer Staat stehen. Bedauerlich? Gewiss. An heutigen
Maßstäben gemessen allemal. Doch sei daran erinnert, dass in
Deutschland verheiratete Frauen noch in den 50er-Jahren nicht ohne
Erlaubnis ihres Mannes arbeiten durften, dass in der Schweiz Frauen erst
in den 70er-Jahren zu Wahlen zugelassen wurden, dass Frankreich die
Todesstrafe erst in den 80er-Jahren abschaffte. Tunesien hat gerade
eine Diktatur überwunden. Eine Stabilisierung der
Verhältnisse ist unter den miserablen wirtschaftlichen
Bedingungen schwierig. Nicht auszuschließen ist, dass sich ein neuer
autoritärer Staat herausbildet. Aber selbst das ist ungewiss. Gewiss
erscheint nur: Ein Zurück zu den alten Zuständen wird es nicht mehr
geben.
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