Vom Premier zum Potentaten Drucken

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 01.04.2014


Recep Tayyip Erdogan hat es noch einmal allen gezeigt. Er war schwer angeschlagen. Massiven Korruptionsvorwürfen begegnete er zuletzt selbstherrlich mit einem Verbot der Internet-Plattformen Youtube und Twitter. Dann der kluge Schachzug des machtbewussten Premiers: Er erklärte eine schlichte Kommunalwahl zum Plebiszit über sich und seine Politik - und gewann. Nun feiert er in Feldherrenart seinen Sieg und droht seinen Gegnern.


Erdogan, der Mann aus dem Volk, der auf eine Karriere vom Wasserverkäufer zum Buchhalter einer Wurstfabrik bis zum erfolgreichsten Spitzenpolitiker der Türkei seit Kemal Atatürk zurückblicken kann, hat seine schweigende Mehrheit an die Urnen gebracht. Es ist eine konservative, religiös orientierte Mehrheit, die auf dem Land und in den ausufernden, ländlich geprägten Vorstädten der Metropolen zu Hause ist, und zu der auch eine aufstrebende anatolische Mittelschicht zählt.

Sie alle haben davon profitiert, dass sich in den elf Jahren, die Erdogan das Land regiert, das Bruttoinlandsprodukt der Türkei verdreifacht hat. Für viele von ihnen sind eine funktionierende Müllabfuhr, eine Schule und eine Krankenstation in der Nachbarschaft eben wichtiger als Pressefreiheit oder ein paar Bäume im Gezipark von Istanbul.

Erdogan hat seinen Wahlsieg mit einer innergesellschaftlichen Feinderklärung erkauft. Zuletzt kannte er - ganz in der Tradition osmanischer Sultane - keine Gegner mehr, sondern nur noch Verräter, Kriminelle und Terroristen. Er hat die Gesellschaft nach Kräften polarisiert, er hat die Hälfte der Türken für sich gewonnen und die andere Hälfte gegen sich aufgebracht. Zurück bleibt ein vergiftetes Klima.

Erdogan sonnt sich in seinem Sieg. Doch er ist seit geraumer Zeit dabei, sein Lebenswerk zu zerstören. Er hatte einst die putschlüsternen Militärs und die kemalistischen Seilschaften in Justiz und öffentlicher Verwaltung entmachtet, den Kurden mehr Rechte zugestanden als jeder seiner Vorgänger, und er hat eine Politik der Aussöhnung mit jenen in die Wege geleitet, die lange Zeit wie Todfeinde der Nation behandelt wurden: Griechenland, Armenien, Syrien. Im arabischen Frühling sahen viele Muslime Tunesiens und Ägyptens in der Türkei ein hoffnungsvolles Modell, wie sich Demokratie und Religion versöhnen lassen.

Heute kujoniert Erdogan die Medien wie Xi Jinping in China und gängelt die Justiz wie Wladimir Putin in Russland. Es laufen unzählige Gerichtsverfahren gegen Journalisten, Dutzende von ihnen sind in Haft. Die Türkei nimmt, was die Pressefreiheit betrifft, in der weltweiten Rangliste von Reporter ohne Grenzen den 154. von 179 Plätzen ein. Tausende von Richtern, Staatsanwälten und Polizisten sind entlassen oder versetzt worden, um Ermittlungsverfahren gegen Erdogans Entou-rage und seine Familie zu blockieren. Die laizistischen Verteidiger des Geziparks ließ er zusammenknüppeln, den Anhängern des im US-Exil lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen drohte er nun öffentlich die "Beseitigung" an.

Erdogan wollte einst die Türkei in die EU führen. Seit 1999 ist das Land - aufgrund eines Abkommens von 1963 - offiziell Beitrittskandidat, 2005 wurden Beitrittsverhandlungen aufgenommen. 2010 lehnte Angela Merkel einen Beitritt ab und plädierte für eine "privilegierte Partnerschaft". Im Nachhinein scheint ihr die Geschichte recht zu geben. Noch nie seit Erdogans Amtsantritt 2003 war die türkische Realität so inkompatibel mit dem Grundwertekatalog der EU wie heute.

Trotzdem wäre es ein fataler Fehler, der Türkei die Tür nun zuzuschlagen. Wer für einen EU-Beitritt des Nato-Partners ist, muss seine Position nicht neu begründen. Es reicht, wenn die EU auf der Erfüllung der vom Europäischen Rat 1993 in Kopenhagen festgeschriebenen Voraussetzungen beharrt. Heute ist die Türkei davon weit entfernt: Es gibt keine Gewaltenteilung, es gibt keine Pressefreiheit, und die Türkei hält weiterhin mit Nordzypern einen Teil eines EU-Staates besetzt.

Kurzfristig sieht es düster aus. Eine Zeit lang schien sich Erdogan, von Merkel und Sarkozy zurückgewiesen, stärker zum arabischen Raum hin zu orientieren. Doch mit dem Krieg in Syrien und dem Ende der Herrschaft der Muslimbrüder in Ägypten ist diese Perspektive vorerst verbaut.

So wird auf längere Frist die Alternative lauten: Abkapselung unter Stärkung islamistischer und nationalistischer Kräfte oder Öffnung hin zu Europa. Die Zivilgesellschaft, die im vergangenen Jahr so massiv für eine andere Türkei auf die Barrikaden gestiegen ist, und die die Korruption im obersten Machtklüngel aufdeckte, hat es verdient, dass ihr eine europäische Perspektive offengehalten wird. Es wäre ein fataler Fehler, der Türkei die Türe zu einem EU-Beitritt jetzt zuzuschlagen. Die türkische Zivilgesellschaft hat es verdient, dass ihr eine europäische Perspektive offengehalten wird.


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