Starren auf Kobane Drucken
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 27.10.2014


Seit einem Monat schon sehen wir am Fernsehen täglich die Rauchsäulen über den unscharf konturierten Gebäuden von Kobane. Wie die an der Grenze gerade eingetroffenen Flüchtlinge, die ausländischen Journalisten, die kurdischen Bauern und die türkischen Soldaten schauen auch wir hinüber nach Syrien, auf die nur einen Kilometer entfernte, heiß umkämpfte Stadt. Wird sie an die Kopfabschneider des Islamischen Staates (IS) fallen? Werden die Kurden sie zurückerobern?

Seit über einem Monat bombardieren amerikanische Kampfflieger IS-Stellungen auch in Syrien. Im Durchschnitt sind es etwa zehn Luftangriffe täglich. Nach Angaben der in London ansässigen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben dabei 553 Personen, davon 464 IS-Dschihadisten, 57 Kämpfer der Nusra-Front, eines syrischen Ablegers von Al-Kaida, und 32 Zivilisten. Man mag die Zahlen im Einzelnen bestreiten. Die Größenordnung scheint plausibel.

Wir starren auf Kobane. Was sich jedoch in den Millionenstädten Damaskus, Aleppo und Homs, was sich im Westen des Landes abspielt, wo die allermeisten Syrer wohnen, ist längst aus unserem Blickfeld geraten. Im Sommer flog Assads Luftwaffe dort täglich zwanzig Angriffe, allein am vergangenen Dienstag waren es hundert. Und anders als die Amerikaner beschießt sie nicht gezielt feindliche Stellungen, sondern verwandelt ganze Wohnviertel, die von oppositionellen Milizen kontrolliert werden, in Trümmerhaufen - auch unter Einsatz von Fassbomben. Das sind mit Sprengmitteln und Metallteilen gefüllte Ölfässer, die, von Hubschraubern abgeworfen, eine weit verheerende Wirkung haben als herkömmliche Bomben.

Gezielt werden in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten Versorgungszentren bombardiert. Es darf dort keine Normalisierung geben, keine politische Alternative entstehen. Von diesem alltäglichen Drama künden keine Fernsehbilder. Kaum ein Journalist wagt sich dorthin. Allenfalls lassen uns die Flüchtlingszahlen - 3,2 Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen, weitere 6,5 Millionen sind in ihrem Land selbst auf der Flucht - das Ausmaß der Tragödie erahnen. Oder die Zahl der Todesopfer: 200 000.

Die Opposition im Westen Syriens ist seit drei Jahren im Wesentlichen auf sich allein gestellt. In Al-Waar, dem letzten noch von Aufständischen gehaltenen Viertel von Homs, werden zwischen 150 000 und 300 000 Menschen seit elf Monaten von Regierungstruppen belagert. Niemand kommt ihnen zu Hilfe. In Kobane hingegen, wo Kurden von Dschihadisten belagert werden, wollen nun alle helfen - bis auf jene, die schwer bewaffnet das Geschehen aus einem Kilometer Entfernung mit dem Feldstecher beobachten: die türkischen Soldaten. Präsident Erdogan hat apodiktisch verkündet, er könne keinen Unterschied zwischen den Terroristen des IS und jenen der PKK erkennen, der türkisch-kurdischen Guerilla, deren syrischer Ableger YPG Kobane zu halten versucht.

Die Amerikaner aber werfen in Kobane Waffen für die kurdische Truppe ab, die sie noch immer auf der Terroristenliste führen. Der Interessengegensatz zwischen den beiden Nato-Mächten USA und Türkei ist offensichtlich, und im kleinen Kobane bündelt sich die große Weltpolitik. Hauptfeind der Türkei sind Assad und sein alawitischer Herrschaftsklüngel, der sich mit dem schiitischen Regime Irans verbündet hat. Hauptfeind der USA hingegen sind die Dschihadisten, die von der Türkei lange wohlwollend geduldet, wenn nicht sogar gefördert wurden. Zu ihrer Bekämpfung würden die USA auch mit dem einst als "Schurkenstaat" bezeichneten Iran kooperieren. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie auch mit dem syrischen Diktator zusammenarbeiten werden.

Es wäre fatal. Denn der IS ist ja gerade stark geworden, weil ihn Assad bis vor Kurzem gar nicht bekämpfte, ihn sogar förderte, um die laizistische und moderat islamistische Opposition in Schach zu halten und sich letztlich als einzig realistische Alternative zum IS anzubieten. Doch man wird mit Assad ins Gespräch kommen müssen. Man wird andererseits den UN-Sicherheitsrat einschalten müssen, um über Syrien eine Flugverbotszone zu verhängen und so die Zivilbevölkerung in Damaskus, Aleppo und Homs zu schützen.

Das würde auch Russland und China einbinden, denen die Angst vor dem islamistischen Terror - der Tschetschenen auf der einen Seite, der Uiguren auf der anderen - nicht fremd ist. Und letztlich könnte wohl niemand besser als sein russischer Protektor den syrischen Diktator zum Nachgeben zwingen. Dem überwiegenden Teil der Bevölkerung und den allermeisten Flüchtlingen ist Assad schlicht nicht mehr zumutbar


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