Pesthauch von Mafia und Tod

Das Treffen findet in einer Wohnung im Hinterhaus statt.  Von der Straße her ist sie nicht einsehbar. Sie liegt in irgendeiner Stadt auf dem italienischen Stiefel. Giovanni Tizian bittet, ihren Namen zu verschweigen. Er wird schließlich gesucht, und man muss es ihnen ja nicht leicht machen. Nicht die Polizei ist hinter ihm her, sondern Verbrecher. Er hat ein Buch geschrieben, das im Italienischen den Titel „Gotica“ trägt und und auf Deutsch unter dem Titel „Mafia AG“ erschienen ist.

„Gotica“ ist der italienische Ausdruck für die Gotenstellung. So hieß im Zweiten Weltkrieg eine befestigte Linie der Wehrmacht. Sie zog sich über den Bergkamm des Apennins und sollte den Vormarsch der Alliierten in die Po-Ebene stoppen. Die Briten und Amerikaner taten sich in der Tat schwer, die Gotenstellung zu durchbrechen. Die Mafia hatte es leichter. Mühelos überquerte sie den Apennin, setzte sich in Norditalien fest und ist längst auch in Deutschland angekommen.

Heute macht die kalabresische ‚Ndrangheta, die weitaus mächtiger ist als die sizilianische Cosa Nostra oder die neapolitanische Camorra, ihre lukrativsten Geschäfte vor allem im Norden Italiens, wo mehr Geld zirkuliert, mehr Kapital bewegt wird, mehr Bauaufträge an Land gezogen werden können und mehr schmutziges Geld gewaschen wird als im rückständigen Mezzogiorno.

Tizian redet leise. Nicht aus Vorsicht. Aber das Laute, Schrille ist ihm zuwider. Er ist ohnehin eher gewohnt zuzuhören als zu reden. Es drängt ihn mehr, die Leute zum Sprechen zu bringen als ihnen Vorträge zu halten. Der 30-jährige Journalist – kurz geschorener Bart und kurz geschorenes Haupthaar –  wirkt bescheiden, unauffällig. Wahrscheinlich hat ihm dies bei seinen Recherchen geholfen. Studiert hat Tizian Soziologie, abgeschlossen hat er in Kriminologie.

Jahrelang schlug er sich danach als Freelancer durch, als Journalist ohne feste Anstellung. Er berichtete vor allem über die Umtriebe der Mafia in der Emilia-Romagna, wo er wohnte. Dann schrieb er sein erstes Buch, das in Italien innerhalb von wenigen Monaten vier Auflagen erlebte.

Der Erfolg hatte sein Gutes wie sein Schlechtes. Auf der einen Seite erhielt Tiziano schon bald einen Vertrag als fester Autor bei der „Espresso“-Gruppe, zu der die „Repubblica“, eine der wichtigsten Tageszeitungen Italiens, gehört. Auf der anderen Seite verlor der Journalist ein gewaltiges Stück Freiheit. Seit acht Monaten schon lebt er unter Polizeischutz. Wenn er einkaufen gehen will, wenn er Freunde treffen möchte, wenn er Lust auf einen Capuccino in der Bar um die Ecke hat, ruft er erst seine Schutzengel an, die ihn an sieben Tagen 24 Stunden bewachen.

„Ich habe das nicht selbst veranlasst“, sagt er, „ich erhielt kurz vor Weihnachten einen Anruf aus dem Polizeipräsidium. Man teilte mir mit, ich sei in Gefahr. Aus abgehörten Telefongesprächen ging hervor, dass sie hinter mir her waren. Schließlich willigte ich ein.“ Tizian gehört inzwischen zu den elf Journalisten Italiens, die unter Polizeischutz leben.

Dass Tizian die Mafia zu seinem Thema machte, ist kein Zufall. Sie hat schließlich sein Leben geprägt. Geboren wurde er in Bovalino, einem Städtchen Kalabriens an der Ionischen Küste, zwölf Kilometer entfernt von San Luca, dem Dorf in den Bergen des Aspromonte, das bis heute das Machtzentrum der ‚Ndrangheta ist. Er war sieben Jahre alt, als sein Vater erschossen wurde. „Die Großmutter hatte das Abendessen zubereitet, und wir warteten nur noch auf ihn, aber er kam nicht“, berichtet der Journalist, „schließlich sagte die Mutter, Papa habe einen Unfall gehabt und sei im Krankenhaus.“ Er war tatsächlich ins Krankenhaus gebracht worden, schwer verletzt und starb noch am selben Tag.

Der Täter hatte mit einer Lupara, einer abgesägten Schrotflinte, der traditionellen Schusswaffe der ‚Ndrangheta, auf ihn geschossen. „Als dann die Beerdigung war, wurde mir klar, was passiert war“, sagt Tizian, „aber der Schmerz eines Kindes geht relativ schnell wieder vorbei, weil man den Tod noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erfasst.“

Tizians Vater war Bankangestellter. Weshalb er sterben musste, ist bis heute ungeklärt. „Es gab zwar Ermittlungen, aber die wurden nie ernsthaft geführt und nach einem Jahr eingestellt“, sagt Tizian, „niemand wurde angeklagt, zu einem Prozess kam es nicht.“ Wie so oft üblich in den Dörfern des Aspromonte. So bleiben nur Vermutungen. Vielleicht wollte er einem Mafioso keinen Kredit geben. Vielleicht hatte es mit der Möbelfabrik des Großvaters zu tun, die die ‚Ndrangheta ein Jahr zuvor in Brand gesteckt hatte.

Dass Lebenswerk des Großvaters, der schon wenige Monate später starb, war zerstört, der Vater ermordet. Die Familie gab auf. Sie entfloh dem Klima von Einschüchterung und Feigheit, von Erniedrigung und Gewalt, vor Erpressung und Mord und begann in Modena, da wo der Apennin in die Po-Ebene übergeht, ein neues Leben. Endlich ein Leben in Normalität. „Es war eine Flucht in die Freiheit“, sagt Tizian.

Als Student machte er dann die Entdeckung, dass – wie er in seinem Buch schreibt -„der Pesthauch von Mafia und Tod die stille Po-Ebene bereits erreicht hatte“. Diese Entdeckung wir sein weiteres Leben bestimmen. Tizian recherchiert, wie die ‚Ndrangheta, die den Kokainhandel kontrolliert, Spielhöllen mit manipulierten Automaten unterhält und im Waffenhandel aktiv ist, immer stärker in die legale Wirtschaft eindringt, vor allem in die Bauwirtschaft, um schmutziges Geld zu waschen. Sie sichert sich – mit Erpressung oder Bestechung – Aufträge im Hoch- und Tiefbau und entsorgt billig und unter Umgehung aller gesetzlichen Bestimmungen Giftmüll. Auf schlecht verbuddelten, hochtoxischen Abfällen,die das Trinkwasser kontaminieren, entstehen dann mitunter neue Wohnsiedlungen.

Die ‚Ndrangheta, die neben Handfeuerwaffen auch Panzerfäuste und Raketen besitzt, schreckt vor Mord und Folter nicht zurück. Im März dieses Jahres wurdeder Mailänder Mafia-Boss Carlo Cosco zu sechs Mal lebenslänglich verurteilt. Er hatte seine Frau, die bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn ausgesagt hatte, vergewaltigen und foltern lassen, bevor er sie in Säure auflösen ließ.

In der Regel aber geht die ‚Ndrangheta friedlich und unauffällig ihren Geschäften nach. rund 140 Milliarden Euro setzt sie vermutlich pro Jahr um, und sie erwirtschaftet wohl halb so viel Profit. Waffen kommen nun eher selten zum Einsatz, vor allem zur Ausschaltung von Verrätern oder bei internen Fehden, wie jener in Duisburg 2007. Da wurden in einer Pizzeria sechs Männer erschossen. Sie stammten aus San Luca, der Wiege der ‚Ndrangheta im Aspromonte Kalabriens, zwölf Kilometer entfernt von Bovalino, das Tizian nach dem Mord an seinem Vater verlassen hat.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 30.0.2012

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