Ein Staat auf dem Rückzug

Was einem deutschen Philosophen einst als ferne kommunistische Utopie vorschwebte, verwirklicht sich im tiefsten Schwarzafrika auf dramatische Weise schon heute: Der Staat löst sich auf, stirbt ab. Zumindest in Zaire, wie die einstige belgische Kolonie Kongo seit der Machtübernahme Mobutus im Jahr 1971 heißt, ist der Prozess in vollem Gang. In Kinshasa, der Hauptstadt mit ihren fünf Millionen Einwohnern, gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Das staatliche Telefonnetz ist zusammengebrochen. Man verständigt sich per Handy. Die Krankenhäuser verkommen. Das Bildungssystem funktioniert noch halbwegs, aber bloß, weil die Eltern die Lehrer bezahlen und die Studenten ihre Professoren. Weite Landesteile sind nur noch auf dem Luftweg erreichbar, weil die Straßen verrotten. Die Invaliden haben sich organisiert und pressen den Händlern am Markt eine Invalidensteuer von 50 Dollar pro Jahr ab – gegen Quittung mit Stempel und Unterschrift. Wer nicht zahlt, riskiert einen zerschepperten Laden. Und die Armee, andernorts letzter Rettungsanker der staatlichen Macht, zerfällt in marodierende Haufen. Mitten in Kinshasa kann man auf Soldaten treffen, die Autos anhalten und Geld verlangen: moderne Wegelagerer im Maquis der Großstadt.

Schon bei der Einreise geht es los. Wer nicht links und rechts löhnt, Zöllner, Soldaten, Grenzpolizisten, Gendarmen und Zivilgardisten bedient, die unverfroren »un petit cadeau«, ein kleines Geschenk, einfordern, hat keine Chancen, den Flughafen zu verlassen. Irgendein Stempel fehlt immer im Pass, auf der Einreisekarte oder im Impfausweis. Das Monatsgehalt eines Angestellten im öffentlichen Dienst beträgt heute 60 000 Nouveaux Zaires, das ist zur Zeit ziemlich genau eine Deutsche Mark, und dafür gibt es auch in Kinshasa gerade noch eine Flasche Bier oder eine Schachtel Zigaretten. Die meisten Soldaten sind schon seit fünf Jahren nicht mehr ausgezahlt worden, weil das Geld nicht bis in die unteren Ränge durchsickert. So bedient sich jeder, so gut es geht.

»Wo gewisse Einheiten unserer Armee durchziehen, gibt es nur Plünderung und Verwüstung«, gibt Premierminister Kengo wa Dondo im gediegenen Salon seiner Residenz im Nobelviertel Binza freimütig zu, »aber man kann nun mal ein Land nicht per Dekret bessern. Man muss die Mentalitäten verändern, und das geht nicht einfach per Gesetz – gerade Sie als Deutscher müssten das ja wissen. Wie war es denn bei Ihnen nach 1945?« Kengo wurde im Juli 1994 als Vertreter der gemäßigten Opposition gegen Staatspräsident Mobutu zum Regierungschef gewählt. Doch dessen Nachfolger wird er nie werden. Sein Vater ist Pole, und noch »schlimmer«: Seine Großmutter war Tutsi aus Ruanda. Die Tutsi aber, ob aus Zaire, Ruanda, Burundi oder Uganda, werden spätestens seit der von Ruanda unterstützten, wenn nicht sogar organisierten bewaffneten Tutsi-Rebellion im Osten des Landes in vielen Medien der 1500 Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernten Hauptstadt öffentlich als Feinde gebrandmarkt. Es ist viel von einer Fünften Kolonne die Rede. In der ersten Novemberhälfte demonstrierten in Kinshasa Tausende von Studenten über eine Woche lang täglich gegen Kengo. Sie bliesen zur Hatz auf die Tutsi und plünderten und zerstörten deren Häuser und Wohnungen. Hunderte von Tutsi flüchteten über den Fluß ins benachbarte Kongo-Brazzaville. Andere halten sich heute noch in ihren Häusern versteckt.

»Das gesamte Staatsbudget beträgt 350 Millionen Dollar«, sagt Finanzminister Gilbert Kiakwama und zuckt ziemlich ratlos die Schultern, »und im öffentlichen Dienst sind 600 000 Personen angestellt, davon 120 000 Soldaten und Gendarmen.« Gäbe er all ihnen pro Monat lächerliche 50 Dollar, wäre das ganze Budget allein durch die Lohnkosten restlos aufgefressen. Die vergangenen beiden Jahre, berichtet der oberste Zahlmeister des Staates mit der notorisch leeren Kasse, sei alles noch schlimmer gewesen. »Da gab es buchstäblich überhaupt kein Staatsbudget. Einfach Null.« 1990 sperrten IWF und Weltbank alle Kredite. Im gleichen Jahr, nach einem Massaker an Studenten, stellte Belgien die Entwicklungshilfe ein. Deutschland folgte zwei Jahre später. Seither gibt es keine Gelder aus dem Ausland mehr, nur noch humanitäre Hilfe, die über regierungsunabhängige Organisationen läuft. Die Erlöse aus dem Bergbau sind dramatisch gefallen. Wurden in den 80-er Jahren 500 000 Tonnen Kupfer jährlich gewonnen, waren es im letzten Jahr noch 40 000, und dies bei fallenden Weltmarktpreisen. Genauso düster sieht es bei Zink und Kobalt aus. Kiakwama schnurrt die trostlosen Zahlen aus dem Gedächtnis herunter. »Und seit den Plünderungen gibt es so gut wie keine privaten Auslandsinvestitionen mehr«, fügt der Finanzminister hinzu.

Mit den »Plünderungen« meint er die Ereignisse von 1991 und 1993. Damals zogen Zehntausende marodierender Soldaten durchs Land, oft gefolgt von weiten Teilen der Bevölkerung, und plünderten tagelang ganze Dörfer und Städte, Ernten, Vieh, Märkte, Büros, ja sogar den Flughafen der Hauptstadt. 1991 evakuierten belgische und französische Fallschirmjäger die Ausländer. Bei den Plünderungen von 1993 wurde der französische Botschafter erschossen. »Seit den Plünderungen«, sagt Klakwama, »liegt die Wirtschaft vollends am Boden.«

Da aufgrund verrotteter Straßen weite Regionen Zaires auf dem Landweg nicht mehr zu erreichen sind, findet ein Großteil des Agrarprodukts den Weg in die Städte nicht und verfault. Selbst in der Hauptstadt sind viele Viertel nur mit einem geländegängigen Fahrzeug zu erreichen, und in einige Stadtteile, in die früher Busse fuhren, kommt man heute nur noch zu Fuß hin. Wo der Staat versagt, greifen die Menschen mitunter zur Selbsthilfe.

Zum Beispiel in Makala, einem Viertel zwischen Innenstadt und Peripherie, wo viele Leute die grün-weißen Gewänder der Kimbangisten tragen. Das sind Anhänger einer in ganz Zaire verbreiteten christlichen Kirche, die von Simon Kimbango gegründet wurde, einem Wunderheiler, der unter der belgischen Kolonialherrschaft drei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht hat und nun als Prophet verehrt wird. Seit einigen Wochen kommt man wieder per Auto nach Makala, allerdings lassen die tiefen Straßenlöcher nur ein Schritttempo zu. Immerhin. »Bevor wir die Straße wieder instand gesetzt haben«, sagt Donatien Dangi, »mussten unsere Frauen all ihre Waren auf dem Kopf eine Stunde zu Fuß auf den Markt tragen.« Seit die Straße fertig ist, läuft auch Dangis Geschäft wieder besser. Er besitzt eine kleine Elektromühle, und die Zahl der Kundinnen, die bei ihm Säcke voll Mais und Maniok mahlen lassen, um Fufu, das zairische Alltags-brot, zu backen, hat sich verdreifacht.

Das Straßenprojekt in Makala wird von »Foleza« betreut. Das Kürzel steht für den »Verband laizistischer regierungsunabhängiger Organisationen mit wirtschaftlicher Orientierung von Zaire«, der im Rahmen deutscher Entwicklungshilfe von der Berlinerin Salua Nour beraten wird. »Wirtschaftliche Orientierung« bedeutet, dass sich die Initiative finanziell selbst tragen soll. So lässt sich der Bautrupp Dangis die Arbeit denn auch bezahlen. Die Straße will schließlich instandgehalten werden. Ein Blick gen Himmel reicht. Schwere schwarze Wolken haben sich zusammengebraut. Täglich entladen sie sich in diesen Monaten in tropischen Regengüssen, die der Straße arg zusetzen. Wer nach Makala will, muss also eine Mautstelle passieren. Zwei Fässer versperren die Straße und werden erst weggerollt, wenn der Fahrer die 40000 Nouveaux Zaires, 65 Pfennig, abgedrückt hat – selbstredend gegen Beleg. Zehn Prozent der Einnahmen gehen an die Gendarmerie, 90 Prozent und ein Durchschlag der Quittung werden Jerôme Bertuletti abgeliefert. Der italienische Pfarrer der Kirche unweit der Mautstelle, der schon seit 33 Jahren in Zaire arbeitet, ist Kassierer der Initiative. Immerhin kommen täglich 30 DM zusammen, und die sind wohl beim Kirchenmann am sichersten aufbewahrt.

Um das Vertrauen in die Politiker ist es da schon schlechter bestellt. Allzulange waren Politik, schnödes Geschäft und krude, gewalttätige Machtausübung kaum auseinanderzuhalten. Seit Mobutu nach 25 Jahren Autokratie 1990 eine umfassende Demokratisierung verkündete, sind an die 400 Parteien aus dem Boden geschossen – unter ihnen auch einige wenige, die diesen Namen verdienen. Knapp 800 Mitglieder zählt das weltweit größte Parlament, das zwar nicht gewählt ist, in dem aber alle drei »politischen Familien« des Landes versammelt sind: das Mobutu-Lager, die gemäßigte Opposition, zu der auch die Regierung Kengo zählt, und schließlich die radikale Opposition, die heute in einen gemäßigten Flügel aufgespalten ist, der den Kompromiss mit dem Regierungslager sucht, und einen radikalen, der neuerdings die nationale Versöhnung mit Mobutu predigt. Ihr Führer heißt Etienne Tshisekedi, eine schillernde Figur, nach Mobutu der zweitbekannteste Mann im Land und dessen schärfster Kritiker.

Mittwoch, 27. November. Hunderttausende säumen die 20 Kilometer lange Straße vom Flughafen Kinshasas in die Stadt. Sie sind gekommen, um Tshisekedi abzuholen. Ein Meer von rennenden, tanzenden, grüne Zweige schwingenden Menschen, außer Rand und Band. Stundenlang quält sich der Fahrzeugkonvoi des Ankömmlings durch die Menge. Alle wollen sie ihren »Ministerpräsidenten« anfassen oder wenigstens leibhaftig sehen. Dreieinhalb Monate lang war Tshisekedi 1992 Regierungschef, gewählt von der Nationalen Konferenz, bis Mobutu diese kurzerhand auflöste, seinen Widersacher absetzte und ein neues Übergangsparlament zusammenstellen ließ.

Tshisekedi ist der einzige wirklich bekannte und weithin populäre Oppositionspolitiker des Landes. Zehn Jahre hat er unter Hausarrest oder im Gefängnis verbracht, wo er schwer gefoltert wurde. Dass er einst in Mobutus Lager stand, ihm sogar als Minister diente, wird ihm nicht übel genommen. Schließlich haben alle Politiker seines Alters einmal zum Diktator gehalten. »Mobutu ist ein menschliches Monster ohne Gesetz, Prinzipien und Moral«, hatte er bei seinem Regierungsantritt verkündet. Nun kommt er gerade zurück von einem Besuch bei diesem Monster, das sich in Frankreich von einer Prostata-Operation erholt. Noch in Europa hatte er auf einer Pressekonferenz verkündet, dass er gekommen sei, »um dem Präsidenten Mobutu meine Sympathie und die des ganzen Volkes von Zaire zu bezeugen. Das Wichtigste für mich ist seine Gesundheit«.

Ein Kniefall vor dem Diktator oder ein staatsmännischer Gestus vor einem todkranken Mann? Hat der gewiefte Taktiker Mobutu seinen Gegner in eine Falle gelockt? Will er den Trumpf Tshisekedi gegen die Karte Kengo ausspielen? Der Popularität des Oppositionsführers scheint der Frankreich-Trip jedenfalls keinen Abbruch getan zu haben. Übler genommen wird ihm möglicherweise, dass er in die nationale Versöhnung auch Laurent Kabila miteinbeziehen will. Der Anführer der Tutsi-Rebellion im Osten des Landes kommt wie Tshisekedi aus der Diamantenregion Kasai und gehört wie dieser dem Volk der Luba an. Kabila wird in fast allen Zeitungen Zaires des Landesverrats geziehen. Doch was ist schon die Presse in diesem Land? Die größte Zeitung, »Le Soft«, erreicht landesweit eine verkaufte Auflage von 5000 Exemplaren.

»Tshisekedi ist das Spiegelbild von Mobutu«, sagt sein langjähriger Mitstreiter Lambert Mende, »er will nur eines: die Macht.« Das Urteil des Vorsitzenden der wichtigsten der zwölf Parteien, die sich nach dem ersten Regierungschef des Landes, dem 1961 von Mobutus Soldaten ermordeten Patrice Lumumba benennen, wird von der oppositionellen Elite des Landes weithin geteilt. Mende befürchtet, dass der selbstherrliche Staatspräsident unter Umgehung des Übergangsparlaments, gestützt auf einen angeblichen Volkswillen, mit seinem »Alter ego« gemeinsame Sache machen könnte, um die fürs nächste Jahr geplanten ersten und Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und damit einen wirklichen Machtwechsel zu verhindern.

»Die wichtigste Botschaft, die Sie nach Deutschland mitnehmen müssen«, hatte Kiakwa zum Abschied gesagt, »ist nicht, dass dieses Land wirtschaftlich am Boden liegt, sondern dass Europa darauf drängen muss, dass es zu den Wahlen kommt.« Die Kosten für die Durchführung des Urnengangs sind übrigens auf 253 Millionen Dollar veranschlagt. 60 Prozent davon bezahlt die internationale Gemeinschaft, für 40 Prozent muss Zaire selbst aufkommen. Es werden knapp zehn Prozent der Gesamtausgaben eines der ärmsten Staaten Afrikas sein. Doch das kann den Finanzminister nicht erschüttern: »Europa muss verhindern, dass 44 Millionen Zairer um ihr Recht und ihre Hoffnungen betrogen werden.«

25 Jahre lang hat der Westen – allen voran die Troika von Belgien, Frankreich und den USA – die Diktatur Mobutus aus Angst vor einem Zerfall des drittgrößten Staates Afrikas umstandslos gestützt. Seit die Macht des Mannes mit der Leopardenfell-mütze beschnitten ist, seit der vorsichtigen politischen Öffnung Zaires sind alle wirtschaftlichen Hilfen ausgesetzt, und dies zu einem Zeitpunkt, wo das Land auseinanderzubrechen droht – mit, vom Blutvergießen abgesehen, unabsehbaren Folgen.

Thomas Schmid, „Wochenpost“, 05.12.1996