Die Szene ist gespenstisch. Auf der blankgeputzten Kühlerhaube eines Mercedes liegt ein weiß gekleideter Mann mit schwarzer Wollmaske über dem Gesicht, ein Bein angewinkelt, das andere läßig über die Stoßstange baumelnd. Mit einem Arm reckt er eine Kalaschnikow in den Himmel, mit dem andern stützt er sich ab. In dieser schrägen Siegerpose kurvt er nun schon zum drittenmal über den kleinen Platz von Srbica. Ein halbes Dutzend weiterer bewaffneter Männer in demselben Outfit sitzt auf einem Mäuerchen. Ansonsten ist im Zentrum des Städtchens keine Menschenseele anzutreffen. Die Albaner, die zwei Tage zuvor hier noch anzutreffen waren, zur Hälfte Flüchtlinge, sind vertrieben. Srbica wurde von der Armee umstellt, und am Samstagmorgen um sechs Uhr kamen die weißen Männer und stürmten die Häuser. Schon einmal, im vergangenen Sommer, hatte die ganze Stadtbevölkerung die Flucht ergriffen. Doch nach dem Waffenstillstand vom Oktober waren die Menschen zurückgekommen. Jetzt irren wieder Tausende irgendwo zwischen den Dörfern im verschneiten Hochland hin und her, zu Fuß, auf Traktoren und Pferdewagen.
Die Drenica ist eine Hochburg der UCK. Hier hat sich die Guerilla der Kosovo-Albaner vor 15 Monaten zum erstenmal der Öffentlichkeit vorgestellt: vor den mit der albanischen Nationalflagge bedeckten Särgen, in denen ihre getöteten Männer lagen. Hier verübten Einheiten der serbischen Spezialpolizei vor einem Jahr das erste Massaker, bei dem fast die gesamte Familie des UCK-Führers Adem Jashari ermordet wurde. Prekaz, das Dorf, wo er wohnte, liegt zwei Kilometer von Srbica entfernt. Vor zwei Tagen noch war dort ein UCK-Stützpunkt. Jetzt lassen nur noch zwei hohe Rauchsäulen grüßen. Zuerst floh die Bevölkerung, dann wurde die Guerilla vertrieben und danach brannten die Häuser. Wie schon im vergangenen Sommer werden nun im Kosovo wieder Dörfer zerstört, und wie damals, nicht bei Kampfhandlungen, sondern danach. Schlicht gebrandschatzt. Es geht nicht um ethnische Säuberungen und um die Ansiedlung von Serben in albanischen Dörfern, um ethnische Homogenisierung, sondern um pure Strafaktionen und Rache. Die meisten Bewohner von Srbica werden zurückkommen, wenn es die Sicherheitslage zuläßt.
Wenn es die Sicherheitslage zuläßt, arbeitet Djako Milic, wohnhaft in Bukos, in der nahen Zinkfabrik. Aber seit die beiden Brüder Milosevic, Serben wie er, von der UCK erschossen wurden, verläßt der Mann seinen Hof nicht mehr. Er hat Angst. Früher hatte er mit den albanischen Nachbarn Kontakt, man war nicht befreundet, wechselte aber immerhin freundliche Worte. Nun herrscht eisiges Schweigen. „Seit dem Doppelmord haben wir kein Vertrauen mehr“, sagt Djako Milic, „bei denen gibt es ja in jeder Familie ein UCK-Mitglied, und vielleicht kriegen die Nachbarn mit der UCK Ärger, wenn sie mit uns sprechen.“ So war das vor zwei Wochen. Inzwischen haben serbische Polizei und jugoslawische Armee die letzten Albaner aus Bukos vertrieben, nachdem schon viele Serben das Dorf verlassen haben.
Vrnica, ein kleines Dörfchen unterhalb der Drenica, hat zwei Dorfteile, die durch einen kleinen Fluß getrennt sind. Auf der einen Seite leben die Manalovics, die Serben, auf der andern die Sallahus, die Albaner. Die beiden Großfamilien haben sich immer gut verstanden. Vor einem halben Jahr noch kam ein deutscher Reporter und machte ein Foto, wie sie alle zusammen auf der Brücke über dem Fluß stehen. Sie alle sind stolz auf das Bild. „Wir haben keine Probleme mit den Albanern“, beteuern die Serben, die noch alle da sind. Und über die Serben von nebenan lassen die Albaner kein schlechtes Wort kommen, aber von ihnen selbst ist nur noch ein Viertel im Ort. Jedenfalls noch am letzten Freitag. Seit Sonntag ist der Zugang zum Dörfchen gesperrt.
In Kosovska Mitrovica, einer Industriestadt, die ihr Wachstum den nahen Erz-, Zink- und Kupferminen zu verdanken hat, wurden vor kurzem die Brüder Mitrovic beerdigt. Über tausend Serben kamen, um ihnen das letzte Geleit zu geben. Nur wenige von ihnen haben die beiden gekannt, aber es sind nun mal „ihre“ Toten. Am offenen Doppelgrab beweihräucherte der Pope die Särge, stimmte dann den orthodoxen Totengesang an, und schließlich richtete ein Verwandter das Wort an die Trauergemeinde: „Sie wurden niedergemetzelt von den bösen Händen albanischer Terroristen und Faschisten. Sie ließen ihr Leben bei der Verteidigung ihrer Häuser und der Leben von Serben. Dieses frische Blut soll uns eine Mahnung sein, daß wir unser Land, unsere Häuser und was von der serbischen Jugend im Kosovo noch geblieben ist, verteidigen müssen.“ Ein Gläschen Schnaps wurde auf die Särge gegossen – zur Labung der Toten.
Was ist von der serbischen Jugend übriggeblieben? Etwa ein Fünftel der Serben, die noch höchstens zehn Prozent der Bevölkerung des Kosovo ausmachen, hat vermutlich seit dem Ausbruch der Kämpfe vor einem Jahr die Provinz verlassen. Die offizielle Propaganda spricht von Vertreibung und „ethnischer Säuberung“. Doch die Motive sind vielschichtig. Sicher gibt es Serben, die auf albanischen Druck hin ihre Dörfer verlassen haben. Aber viele sind auch einfach aus dem Kosovo, dem traditionellen Armenhaus Jugoslawiens, ins reichere Belgrad abgewandert, interne Wirtschaftsflüchtlinge. Daß für sie in einem autonomen oder gar unabhängigen Kosovo kein Platz ist, steht aber für die allermeisten Serben fest.
Miodrag, der am Tresen einer Bar in Pristina bedient, hatte früher mal albanische Freunde, heute hat er nicht einmal mehr albanische Bekannte. „Wir leben in getrennten Welten“, stellt er fest, „die letzte Bar, in der in Pristina Albaner wie Serben verkehrten, hat für zwei Jahren dicht gemacht.“ Weshalb das so gekommen ist, darüber hat er sich offenbar kaum Gedanken gemacht. Er schaue lieber nach vorne, meint er. Und da sieht es schwarz aus. Eine Zukunft für sich sieht Miodrag im Kosovo nicht. „Es wird eine Situation hier kommen“, prophezeit er, „da werden wir Serben hier nicht mehr leben können.“ Er selber würde am liebsten heute schon abhauen. „Doch für uns Serben sind ja alle Grenzen dicht.“
Heute herrscht Angst im Kosovo auf beiden Seiten. Auf der albanischen, weil die Erfahrung der Repression alltäglich ist, auf der serbischen, weil man wohl unbewußt davon ausgeht, daß einem die Albaner, ist das Kosovo einmal unabhängig oder auch nur autonom, das antun werden, was ihnen selbst angetan worden ist. Es fehlt jede Fähigkeit zur Empathie, die Fähigkeit, sich mental und psychisch in die Lage des andern zu versetzen. Nicht ein einziger Intellektueller oder Politiker unter den Serben des Kosovo hat im vergangenen Sommer öffentlich protestiert, als an die 300.000 Albaner in die Flucht getrieben und Dutzende von Dörfern niedergebrannt wurden. Und auch jetzt protestiert kein Serbe gegen die Vertreibung der Albaner in der Drenica. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn immer mehr Albaner den Serben kollektiv die Schuld an ihrer Tragödie zuschieben.
Auf der albanischen Seite ist die Erfahrung von Demütigung Alltag. Ibrahim (seinen Nachnamen will er nicht gedruckt sehen) war jahrelang Dozent an der Universität von Pristina. Heute sind alle Professoren Serben, und Ibrahim geht wie die meisten Albaner der Hauptstadt spätabends nicht mehr aus. Hundert Meter vor seinem Haus ist fast jede Nacht eine Kontrolle. „Es ist erniedrigend“, sagt er, „sich von einem dahergelaufenen Lümmel von Polizisten, der vom Alter her mein Sohn sein könnte, angepöbelt zu werden, bloß weil man Albaner ist.“ Es ist demütigend, wenn man gegen solche Erniedrigungen sich nicht wehren kann, ohne Schläge und Festnahme zu riskieren. Dieses Gefühl der Ohnmacht ist allgegenwärtig und findet täglich neue Nahrung. Und es ist auch diese Ohnmacht, aus der die UCK als Rächer der Entrechteten ihre Stärke bezieht und die erklärt, weshalb so viele Albaner auf die Bomben der Nato hoffen.
Thomas Schmid, „Weltwoche“ (Zürich) 25.03.1999
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