Die Rugova-Schlucht liegt im westlichsten Zipfel des Kosovo. Sie beginnt wenige Kilometer hinter der orthodoxen Patriarchatskirche von Pec, einem der ältesten Kulturgüter der serbischen Orthodoxie. Durch das enge felsige Tal führt eine nicht befestigte Straße westwärts zum Cakor-Paß hinauf an die Grenze Montenegros. Über der Schlucht ziehen sich auf beiden Seiten steile Hängen bis auf über 2.400 Meter hoch. Auf der Nordseite, da wo die Sonne noch am ehesten hinscheint, liegen 17 Dörfer. Das Tal selbst ist seit drei Monaten abgeriegelt. Hinter Pec, am Eingang zur Schlucht, und vor der Paßhöhe, da wo sie endet, stehen Einheiten der serbischen Sonderpolizei. Wer hier entkommen will, muß über die Bergkette fliehen.
Die serbischen Streitkräfte sind von Pec aus bis zum Kilometer Zwölf in die Schlucht vorgedrungen. Dort steht das Dorf Veliki Stupelj. Es wurde am 24. August um 8.15 Uhr mit Maschinengewehrfeuer angegriffen. Auf der Suche nach Waffen, hieß die offizielle Begründung. Alle Bewohner flohen – bis auf etwa15 Personen, die es nicht rechtzeitig schafften. Unter ihnen die 25jährige Lendita mit ihrem dreijährigen Erandi und der 13 Monate alten Erza, ihr Bruder Xhevat sowie Sevdia, ebenfalls 25 Jahre alt, mit ihrer zweijährigen Tochter Besa. Sie würden nun im Dorf von der Polizei als Geiseln festgehalten, hatten Flüchtlinge in Pec berichtet.
Eine steiler Weg führt von der Talstraße weg ins Dorf hinauf. Doch just vor dem ersten Haus versperren schwer bewaffnete Polizisten den Weg. Wollen sie verhindern, daß sich jemand auf die Suche nach den festgehaltenen Personen macht? „Sie können nicht weiter, wegen der Terroristen“, sagt ein energischer junger Polizist in perfektem Englisch und meint damit offensichtlich die Albaner. Schließlich gibt er doch nach: „OK, aber auf Ihre eigene Verantwortung.“ Kurz danach schon geht die Schießerei los. Einzelne Schüsse, dann Gewehrsalven, ganz nah. Höchstens hundert Meter entfernt. Es sei das erstemal seit der Einnahme des Dorfes, daß geschossen würde, meint der Mann, der das OK gegeben hat. „Sie verwenden Dum-Dum-Geschosses“, behauptet er. Doch seltsamerweise geht weder er noch überhaupt einer der ungefähr zwei Dutzend serbischen Polizisten in Deckung. Das Signal ist überdeutlich. Rückzug ist angesagt.
Bei Kilometer Siebzehn führt wieder ein Weg von der Talstraße weg. Schon kurz nach der Abzweigung stellt sich ein Mann mit Kalaschnikow in den Weg. Er trägt Zivilkleidung und sagt, er gehöre zur Dorfwache, er begleite uns gerne nach Drelje. Am Eingang des Dorfes, auf der Veranda einer einfachen Holzhütte, verlangt ein Soldat im Kampfanzug die Pässe. Am Ärmel trägt er den schwarzen Adler auf rotem Hintergrund, das Emblem der UCK, der Guerilla der Kosovo-Albaner. Namen und Daten werden sorgfältig in ein Buch eingetragen. Um den großen Holztisch hat sich inzwischen ein halbes Dutzend bewaffneter Männer versammelt. Zwei in zivil mit Jagdflinte, einer in blauer Uniform mit Funkgerät, Bajonett und Pistole vor die Brust geschnallt, einer mit kreuzweise geschulterten Patronengürteln über dem Tarnanzug. Zwei weitere Männer, ebenfalls in gescheckter Uniform, halten ihre Kalaschnikows zwischen den Knien.
Gestern noch habe er zwei der Geiseln in Veliki Stupelj beobachtet, behauptet einer der Männer, der einen Feldstecher um den Hals trägt, in passablem Deutsch. „Die Polizei hat dort alles geplündert und das Vieh getötet“, versichert er. Daß sieben Dörfer angegriffen worden seien, wie eine Zeitung in Pristina schrieb, sei allerdings pure Propaganda der Serben. „Sie verbreiten Angst, damit die Leute abhauen.“ Von ursprünglich 15.000 Talbewohnern seien höchstens noch 7.000 hier, heute seien wieder Hunderte durch die Wälder über die Berge geflohen, weil um fünf Uhr abends das Ultimatum ablaufe. „Wenn wir bis um 17.00 Uhr die Waffen nicht abgegeben haben“, sagt der Mann in der blauen Uniform, „greifen sie die Dörfer an.“ Das jedenfalls habe ihnen ein albanischer Bote der serbischen Polizei ausrichten lassen, behaupten die Männer unisono. Sie stammen alle aus dem Tal. Ihre Identitätsausweise beweisen es. Sie wollten nur ihre Dörfer verteidigen, behaupten sie, und gehörten eigentlich gar nicht zur UCK. Jedenfalls seien sie keine Soldaten der Guerilla. Daß einige deren Abzeichen tragen, begründen sie mit der Sympathie für die Aufständischen und auch mit dem Respekt, den die Bauern hier vor den drei Buchstaben hätten.
Wir stehen zu unserem Präsidenten“, sagt der Mann mit den Patronengürteln und meint Ibrahim Rugova, den gewählten Chef der Kosovo-Albaner, dessen Vater hier in der Rugova-Schlucht geboren wurde, „und wir stehen auch zu seiner friedlichen Strategie, wir werden niemanden provozieren, aber notfalls uns verteidigen.“ Die übrigen nicken zustimmend. Es sind noch vier Stunden hin, das Ultimatum abläuft. „Wir warten hier auf sie“, sagt der blau Uniformierte entschlossen und verschränkt die Arme über dem Bajonett und der Pistole. „Haben Sie denn mit ihren Kalaschnikows überhaupt eine Chance gegen die schweren Waffen der Serben?“ Die Antwort ist knapp: „Wir haben keine andere Wahl.“
Das Dorf ist wie alle unteren Siedlungen, die nahe der Talstraße liegen, unbewohnt – bis auf die bewaffneten Männer, drei junge Frauen, die ihnen das Essen zubereiten, einen Rentner und Ismail Hajdaraj. Als einziger ist der Chef der LDK, der Partei von Präsident Rugova, zuständig für alle Dörfer im Tal, bereit, seinen Namen zu nennen. Er trägt keine Waffe, wird aber offenbar von allen als Chef respektiert. Der Politiker, ein früherer Elektroingenieur, der wie alle Albaner 1990 aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde, berichtet in trockenem Ton vom Drama, das sich in seinem Tal abspielt, von den Tausenden von Flüchtlingen, die sich zunächst über die Berge in die Schlucht gerettet hatten und danach wieder über die Berge aus ihr geflohen sind, vom Druck, der auf den Zurückgebliebenen lastet. Daß seine Männer anonym bleiben wollen, ist verständlich. Hunderte von Ermittlungsverfahren laufen inzwischen gegen tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder der UCK. Das Risiko ist zweifellos groß. Niemand weiß, wann die Serben mit ihren Panzern weiter ins Tal vorrücken werden. Es scheint jedoch nur eine Frage der Zeit zu sein.
Auch die Dörfer weiter oben an den Berghängen sind weitgehend entvölkert. In einigen Häusern stehen vollgepackte Taschen im Flur. Wenn der Angriff kommt, gilt es, keine Zeit zu verlieren. Überall kommen dem fremden Ankömmling Leute entgegen. Sie fragen nach Neuigkeiten aus dem Tal. „Wo stehen die Serben?“ – „Stimmt es, daß sie Geiseln nehmen?“ – „Haben Sie Panzer gesehen?“ Informationen gibt es hier kaum, entsprechend groß ist die Unsicherheit. Ein Mann, dessen Frau und sechs Kinder sich bereits nach Montenegro abgesetzt haben, sagt, er überlege sich jeden Tag neu, ob er sein Haus verlassen soll. Offenbar hat er Angst, daß es geplündert wird. Doch wie soll er es verteidigen, wenn sie kommen? Und wenn er geht: Was soll er über die Berge schleppen? Jeden Tag sind es einige Familien weniger in Boge, seinem Dorf.
Noch weiter oben, etwa auf 1.800 Meter Höhe, in den vielen Almhütten, spielt sich ein reges Leben ab. Zu Hunderten sind die Leute schon zu Beginn der Großoffensive Mitte Juli, als die serbischen Sondereinheiten die UCK-Gebiete räumten, Städte zerschossen und Dörfer in Brand steckten, aus ihren Dörfern hierher geflüchtet. „Niemand hätte uns unten beschützen können“, sagt eine 70 Jahre alte Frau, deren 93jährige gelähmte Mutter in zahlreiche Decken eingewickelt auf einer Matratze liegt und wortlos vor sich hinstarrt. Dutzende von Frauen und Kindern haben sich im großen Zimmer versammelt. Den Gästen wird saure Schafmilch, Paprika und Byrek, ein Blätterteiggebäck, serviert. In der Ecke sitzt ein Mann mit dem traditionellen weißen Turban, wie ihn die alten Bauern des Rugova-Tales tragen. Er wird aus dem selben weißen Laken gewickelt, mit denen man Verstorbene bedeckt. „Die Leute wissen und zeigen, daß der Tod sie immer begleitet“, erklärt ein jüngerer Mann voller Ehrfurcht. Dann greift er zur Lahuta, dem einsaitigen Streichinstrument der Albaner und spielt eine Melodie. Sie ist unendlich traurig.
Im Sommer und wenn Frieden herrscht, muß diese Bergwelt ein Paradies sein. Doch es droht Krieg unten im Tal und hier oben ist die herbstliche Kälte eingebrochen. Es gibt keinen Arzt und keine Medikamente. Viele Kinder leiden an Diarrhöe. Weder das Rote Kreuz noch die UNHCR noch „Ärzte ohne Grenzen“ noch sonst eine humanitäre Organisation ist hier oben je angekommen. Es fehlt an allem. Aber immerhin fühlt man sich einigermaßen sicher. Und in einigen Stunden Fußmarsch kann man Rozaje, die Stadt in Montenegro, wo sich inzwischen tausende Flüchtlinge befinden, erreichen. Von dort auch werden einige Lebensmittel hergebracht. Die Grenze ist zwar bewacht, aber über die Berge findet sich, anders als in der engen Schlucht unten, immer ein Weg in sicheres Gelände. Notfalls werden auch sie – wie so viele vor ihnen – aus dem Tal fliehen. Doch hoffen sie alle, daß sie noch vor Einbruch des Winters wieder in ihre Dörfer zurückkehren können.
Unten, in Veliki Stupelj, stehen immer noch die schwer bewaffneten Sonderpolizisten mit ihren schußsicheren Westen. Das Ultimatum ist inzwischen abgelaufen. Nichts ist passiert. Vielleicht wurde der Angriff nur aufgeschoben, weil rechtzeitig eine höhere Gewalt eingeschritten ist: Es gießt ununterbrochen in Strömen. Vielleicht war auch die Drohung mit dem Ultimatum nur ein weiteres Mittel, den Bauern im Rugova-Tal Angst einzujagen. In perfektem Englisch sagt derselbe Polizist am Dorfeingang wieder, es sei gefährlich, weiter zu gehen und läßt uns schließlich – „auf Ihre eigene Verantwortung“ – doch durch. Und wieder setzt just im Augenblick, als wir uns den Häusern nähen, ganz in der Nähe eine endlose Schießerei ein. Und wieder geht kein serbischer Polizist in Deckung.
Am nächsten Tag berichtet in Pec ein Verwandter der „Geiseln“ von Veliki Stupelj, die festgehaltenen Personen seien am Vorabend freigekommen.
Thomas Schmid, „Der Bund“ (Bern), 04.09.1998
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