„Für uns Serben wird kein Platz sein“

Am Ortseingang von Perane ist Schluss. Zwei junge Soldaten der jugoslawischen Armee versperren den Weg. Irgendwo in den bewaldeten Bergen hinter ihnen sind weiterhin acht ihrer Kameraden in Gefangenschaft der albanischen UCK-Guerilla. In Perane, einem Dörfchen bei Podujevo, 35 Kilometer nördlich von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, haben am Sonntag Heckenschützen der UCK die Rückkehr vertriebener Serben verhindert. Sagt die eines Seite. In Perane haben serbische Polizisten einen jungen Albaner erschossen. Behauptet die andere Seite. Doch nun ist Perane abgeriegelt. Die beiden Soldaten aber wissen gar nicht, wo Perane liegt. Sie stammen aus der fernen Vojvodina, dem nördlichsten Zipfel Serbiens. Sie tun hier nur ihren Dienst und haben Angst. „Noch drei Monate und dann habe ich meine Zeit um“, sagt der eine, „hoffentlich überlebe ich diese drei Monate.“ Schließlich rufen die beiden die Polizei, die den Zutritt zum Dörfchen erlaubt.

Eine alte Bäuerin treibt eine Sau und drei Schafe quer durch einen Garten. Ein alter Mann verschwindet in seinem Haus. Aber erst stellt man sich in einer solchen Situation am besten der Polizei vor. Die wartet ein halbes Dutzend stark vor vier gepanzerten Jeeps und ist ausgesprochen freundlich. „Die Terroristen hätten hier sämtliche Serben vertrieben“, meint einer, „nein, wir haben nichts gegen die Albaner, wir kämpfen nicht gegen sie, sondern nur gegen die Terroristen.“ Die Terroristen, das sind die bewaffneten Männer der UCK, die ihren nächsten Posten in 600 Meter Entfernung haben. „Wir haben immer gut zusammengelebt“, betont ein serbischer Bauer, der von der Polizei hergerufen worden ist, um dem Journalisten die Wahrheit zu sagen, „nur eben gebe es da leider die Terroristen.“ 28 serbische und 13 albanische Familien haben hier früher gewohnt. Die Serben sind geflüchtet. Doch kommen sie inzwischen wenigstens tagsüber zurück, um unter Polizeischutz ihre Tiere zu füttern. Und die Albaner? Auch sie sind geflohen. Doch zwei albanische Familien sollen geblieben sein. „Können wir sie sehen?“ – „Gewiss, dort drüben.“

Dort drüben tritt ein alter Mann mit dem für Albaner typischen Plis, der weißen Filzkappe, vor das Tor seines Gehöfts. Ein Gespräch unter vier Augen ist jedoch nicht möglich. Freundlicherweise oder sicherheitshalber ist das halbe Dutzend Polizisten mitgekommen. Und auch der serbische Bauer. Er legt dem Albaner den Arm um die Schulter: „Wir sind Freunde.“ – „Ja“, bestätigt der andere. Im Übrigen redet er nur gut über die Polizei. Das offene Tor lässt den Blick auf ein stattliches Haus frei. Dort verschwindet eine Frau mit zwei Kindern. In der Regel wird man als Fremder bei den einfachen Leuten auf dem Dorf zum Kaffee ins Haus gebeten. So will es das traditionelle Gesetz der Gastfreundschaft. Doch nichts geschieht. Wahrscheinlich will der Mann keinen Ärger mit der Polizei. Die hat einen zweiten Albaner hergerufen. „Sag ihm, wie wir dich behandeln“, fordert ein Polizist den Greis unverblümt auf. „Gut“, gibt der knapp zur Antwort. Wahrscheinlich stimmt es sogar, und Fakt bleibt, dass acht Albaner im von serbischer Polizei kontrollierten Dorf nächtigen, aber kein einziger Serbe.

Und was ist mit dem 15-jährigen Albaner, der am Vortag erschossen wurde? Nein, davon wüssten sie nichts, sagen die Polizisten. Zwei Stunden nach unserem Gespräche werden ihn OSZE-Beobachter in Perane bergen. Dass die Albaner seine Stadt „ethnisch säubern“ wollen, daran hat Milovan Tomčić nicht den geringsten Zweifel. Der Bürgermeister von Podujevo vergleicht seine Stadt mit Hebron. „Dort aber genießen die 400 jüdischen Siedler den Schutz des Staats Israel vor der palästinensischen Übermacht“, meint er, „für uns tut Belgrad viel zu wenig.“ ‚Belgrad‘ hängt über seinem Schreibtisch. Auf dem Konterfei strahlt Milošević das Image des biederen Händlers aus, dem man sofort einen Gebrauchtwagen abkaufen würde. Tomčić ist zugleich örtlicher Chef von dessen Sozialistischer Partei. Von 78 Dörfern, die zum Gemeindebezirk Podujevo gehören, seien inzwischen 46 „ethnisch gesäubert“, behauptet er. Das 47. sei nun Obrandža.

Das Dorf liegt zwei Kilometer außerhalb der Stadt und wird von der UCK kontrolliert. Da seien gerade die letzten beiden Serbinnen, Vera und Raja Miličević, zwei Schwestern im Alte von 60 und 69 Jahren geflüchtet, sagt der Bürgermeister. In Obrandža war an Weihnachten ein serbischer Rentner getötet worden. Der Serbe habe auf einen UCK-Trupp gefeuert und sei erschossen worden, nachdem er sich nicht ergeben habe,hatte die  albanische Guerilla danach in einem Pressekommunique bekannt gegeben . Mit ihm sei der letzte noch verbliebene Serbe des Dorfes hingerichtet worden, hatte damals die serbische Seite behauptet.

Auch in der Stadt würde radikal gesäubert, meinen die Serben vor dem Eingang zum Bürgermeisteramt. Nur noch jeder zehnte Serbe sei geblieben. Tomčić nennt Zahlen. Von den 99.070 Einwohnern des Bezirks Podujevo seien 1.560 Serben gewesen, davon hätten 850 in der Stadt gewohnt, die 30.000 Einwohner zählt. Geflohen seien aus dem gesamten Bezirk rund 500. Wenn die aber vor allem aus den Dörfern geflohen sind, müssen die Serben aus der Stadt fast alle geblieben sein. Die mathematische Logik läßt keinen andern Schluß zu. Das gibt denn schließlich auch der Bürgermeister nach hartnäckigem Nachfragen zu.

Trotzdem, auch in der Stadt haben die Serben Angst. Als die serbischen Streitkräfte unter der Drohung von Nato-Bomben im Oktober ihre Sondertruppen reduziert und sich aus vielen Stellungen zurückgezogen haben, ist die UCK nachgestoßen. Die unsichtbare Front verläuft nun wenige hundert Meter hinter den letzten Häusern am Stadtrand. Im vergangenen Herbst sind vor dem Schulhaus drei Sprengsätze explodiert, und seit einem Jahr schon kam es immer wieder vor, dass Wohnungstüren von Serben mit einem weißen Kreuz gekennzeichnet wurden. An einigen Türen sind sie – nur nachlässig überpinselt – noch gut sichtbar. Ein böses Omen, und einige fürchten offenbar eine Bartholomäus-Nacht, wenn es dann eines Tages so weit ist. „Die Albaner überwachen jeden Schritt von uns Serben“, behauptet der Bürgermeister zum Abschied, „aber wenn wir gehen müssen, kommen wir eines Tages bestimmt wieder zurück.“

Dass für sie in einem autonomen oder gar unabhängigen Kosovo kein Platz ist, steht für die allermeisten Serben fest. „Über hunderttausend Serben haben die Provinz zwischen 1974 und 1989, als sie politisch weitgehend autonom war, verlassen“, sagt Momcilo Trajković in Priština und führt dies auf den politischen Druck zurück, den die albanische Mehrheit damals auf die serbische Minderheit im Kosovo ausgeübt habe. Dann schaffte Milošević die Autonomie ab und die Albaner fanden sich als Minderheit in Serbien wieder, dessen Vizepremier Trajković wurde – bis Milošević ihn nach zehn Monaten fallen ließ.

Heute führt Trajković die „Serbische Widerstandsbewegung“ an. Für den Potentaten in Belgrad hat er kein gutes Wort übrig. Der habe das Kosovo in den Ruin geführt und sei ein Diktator. Das wirkliche Problem des Kosovo, sagt Trajković, sei nicht ethnischer Natur, sondern eines der Demokratie. Deshalb gebe es, solange Milošević an der Macht sei, für das Kosovo keine Lösung. Das Kosovo sei eine multiethnische Region, in der Platz für Albaner wie Serben sein müsse. Dass diese Region aber sich von Serbien lossagt, kommt für ihn nicht infrage. Die Serben würden eher auswandern denn als Minderheit in einem albanischen Staat leben. Zusammen mit dem serbisch-orthodoxen Bischof Artemije, der der Diözese Prizren vorsteht, hat Trajković am Montag zu einer Demonstration aufgerufen, um auf die Not der Serben des Kosovo hinzuweisen. „Wir sind zwischen Hammer und Amboss“, sagt er. Der Amboss ist die Diktatur Miloševićs, der Hammer der albanische „Terrorismus“.

Mirko und Marko, zwei Studenten, der eine in Wirtschaftswissenschaft, der andere in Jus, treffen sich fast jeden Abend im „Galerie Club“. Es ist eine einfache von Serben besuchte Bar in Priština. Natürlich gehen sie zur Demonstration, keine Frage. „Erstens, weil wir Serben sind, zweitens weil wir wissen wollen, was die uns zu sagen haben“, sagt Mirko. „Wir wollen die Weltöffentlichkeit auf unser Schicksal aufmerksam machen“, meint Marko. Ihr Schicksal, das ist der Terror der UCK und das verknöcherte Regime in Belgrad. „Aber man soll nicht immer fragen, wer schuld an der Situation ist“, warnt Mirko, „da können wir 20 Jahre lang darüber reden, ohne uns einig zu werden.“

Über das Schicksal derr Albaner – zerstörte Dörfer, alltägliche Demütigung – machen sich keine Gedanken. Der schlechteste Frieden sei immer noch besser als der beste Krieg, sagt Marko schließlich etwas pathetisch. Das Wichtigste sei die Gleichberechtigung, betont er und beklagt, dass fast alle Geschäfte und die schönsten Häuser in der Hand der Albaner sind, die zudem noch die teuersten Autos fahren. „Wenn die an die Macht kommen“, sagt er, „werde ich gehen.“ Er fürchtet, dass schon allein die demographische Entwicklung die Albaner begünstigt, „die haben ja neun Kinder und manchmal noch mehr.“

Miodrag, der am Tresen der Bar arbeitet und Agrikultur studiert hat, geht nicht zur Demo. „Da kann man von beiden Seiten missbraucht werden“, meint der 23jährige.Die Schuld an der tristen Lage im Kosovo weist er den Führern in beiden Lagern zu und der internationalen Gemeinschaft, die den Streit im Kosovo bewusst fördere. Er erwartet schon bald den Ausbruch eines neuen Kriegs. Vor sieben Jahren noch dachte er, Albaner und Serben könnten zusammenleben. Die Hoffnung hat er inzwischen begraben. „Wenn ich früher in einen albanischen Laden ging“, berichtet er, „fragte man mich, ‘was darf es sein?’ Heute sage ich, was ich brauche und man  stellt es mir wortlos hin.“ Früher hatte er mal albanische Freunde, heute hat er nicht einmal mehr albanische Bekannte. „Wir leben in getrennten Welten“, stellt er fest, „die letzte Bar, in der Albaner wie Serben verkehrten, hat für zwei Jahre dicht gemacht.“

Weshalb das so gekommen ist, darüber hat sich Miodrag offenbar kaum Gedanken gemacht. Er schaue lieber nach vorne, meint er. Und da sieht es schwarz aus. Eine Zukunft für sich sieht er im Kosovo nicht. „Es wird eine Situation hier kommen“, prophezeit er, „da werden wir Serben hier nicht mehr leben können.“ Er selber würde am liebsten schon heute abhauen. „Doch für uns Serben sind ja alle Grenzen dicht.“

Thomas Schmid, „Die Tageszeitung“, 13.01.1999

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