Im Hauptquartier der Guerilla

Zunächst hörte es sich wie eine gewöhnliche Propagandameldung an. „Großoffensive der serbischen Streitkräfte auf Positionen der UCK in Zentralkosovo“, meldete das halbamtliche Media Centar Pristina und trompetete erste Erfolge gleich hinterher. Doch diesmal ist es wirklich ernst. Die albanische Guerilla, die für die Unabhängigkeit der serbischen Provinz kämpft, wird von allen Seiten bedrängt. Die Straße zwischen Pristina und Pec, den beiden größten Städten des Kosovo, wird zum erstenmal seit Monaten wieder auf ganzer Länge von den Serben kontrolliert. Von Malisevo aus, wo die UCK ihr Hauptquartier hat, sind in der Ferne vier dicke Rauchsäulen zu sehen. An der von den Serben zurückeroberten Straße brennen vier Dörfer.

Nach Malisevo zu kommen, ist alles andere als einfach. Die serbische Polizei, die im ganzen Land Check-Points eingerichtet hat, hat alle Überlandstraßen, die ins Gebiet der UCK führen, gesperrt. Journalisten werden zurückgewiesen – „zu Ihrer eigenen Sicherheit“. Doch schließlich finden wir – drei Journalisten und eine Übersetzerin – jemanden, der uns auf Feld- und Waldwegen an den serbischen Stellungen vorbeiführt. Schon 200 Meter hinter der von Serben kontrollierten Straße springen zwei UCK-Kämpfer aus den Büschen. Wieder Paßkontrolle. Der bärtige Mann mit läßig umgehängter Kalaschnikow ist genauso korrekt und genauso wichtigtuerisch wie der Serbe auch. Aber er läßt uns durch.

Das erste Dorf, das wir erreichen, heißt Krajmirovci. Es ist leer. Nur ein alter Mann, der die landesübliche weiße Filzmütze trägt und am Stock geht, was ihn nicht hindert, eine Kalaschnikow mit sich zu schleppen, wankt durch die brütende Hitze. Seine Familie sei, wie alle aus dem Dorf, in die Berge gegangen, sagt er. Und er selbst? Der Mann zuckt die Schultern. Mehr ist aus ihm nicht herauszukriegen.

In Sedlare, dem nächsten Dorf, haben sich zwei Dutzend Flüchtlinge versammelt. Sie kommen aus Lapusnik, einem der brennenden Dörfer an der Straße zwischen Pristina und Pec. Mit hundert Panzern sei die Armee in sein Dorf eingerückt, nachdem die Artillerie die Stellungen der UCK zerschossen habe, berichtet Gashi Qenkim, der bis zum Dezember des vergangenen Jahres im bayrischen Coburg gearbeitet hat. Nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war, war er der Ausreiseaufforderung nachgekommen und in seinen Heimatort zurückgekehrt. Er habe sein Haus brennen sehen, sagt er, und auch weiße gepanzerte Fahrzeuge, die den Truppen Arkans gehören, des berüchtigten Führers der irregulären Verbände, die schon in Kroatien und Bosnien gewütet haben. Gashi Qenkims Frau und seine beiden Kinder sind im Wald versteckt. Seine sechs Kühe auch.

Kurz bevor wir auf der holprigen unbefestigten Straße den Wald erreichen, stellen sich drei UCK-Guerilleros in den Weg und wollen die Akkreditierung sehen, nicht die offizielle der serbischen Seite, sondern die der UCK. Daran hat natürlich keiner gedacht. Schließlich gibt es in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, noch kein UCK-Büro. Das Dokument gebe es unten im Dorf bei der Post, sagt einer der bewaffneten Albaner, in perfektem Deutsch. Doch unten bei der Post weiß niemand von einer UCK-Stelle, die eine Akkreditierung ausstellt. Nach langen, nervenden Debatten lassen uns die drei UCK-Kämpfer oben am Waldrand doch noch durch.

Und dann sehen wir das, was uns die Guerilla wohl nicht zeigen wollte: die Folgen ihrer militärischen Schwäche. „Natürlich hat die UCK mit ihren Kalaschnikows gegen hundert Panzer keine Chance“, hatte Gashi Qenkim in Sedlare ganz nüchtern und ohne jeden Vorwurf gesagt, „die UCK kann uns und unsere Kinder nicht beschützen.“ Nun kommen sie zu Tausenden den Weg durch den Wald herunter, auf Dutzenden von Treckern mit Brückenwagen, auf denen sich Frauen und Kinder drängen. Sie haben Schirme aufgespannt, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Männer laufen neben den Wagen her, mit Teppichen und Matratzen auf den Schultern. Kühe und Pferde trotten im Troß mit. Wo wollen sie hin? Hinunter. Viele wissen nicht, daß auch die andere Straße, im Süden, die Pristina und Prizren verbindet, von den Serben kontrolliert wird. Auch der Ausgang gegen Westen versperrt, seit die Serben Orahovac zurückerobert haben. Die Flüchtlinge sitzen in der Falle.

Tausende kommen den Weg herunter und Tausende lagern bereits weiter oben im Wald. Ihre Autos und Traktoren haben sie irgendwo zwischen den Bäumen geparkt. Überall steht Vieh herum. Einige sind nun den dritten Tag auf der Flucht und haben sich schon eine Kochstelle eingerichtet. Sie alle kommen aus einem halben Dutzend Dörfern, wo sie zusammen mit der UCK gelebt haben. Die wenigen Soldaten der albanischen Guerilla, die ihren schwarzen Uniformen oder in Tarnkleidung herumstehen, sind, anders als die Flüchtlinge, nicht gerade gesprächig. Fühlen sie sich in ihrer Ehre verletzt, weil sie all diese Menschen, die so viele Hoffnungen in sie gesetzt haben, nicht verteidigen konnten? Es ist schwierig zu erraten, was sich hinter den finsteren Mienen abspielt.

Nach Malisevo, wo die UCK ihr Hauptquartier hat, sind es weitere drei Stunden Autofahrt durch eine Hochebene, von der man deutlich die Rauchsäulen über den brennenden Dörfern sieht. Im Dorf selbst gibt es nur noch Polizisten und Soldaten der UCK. Alle Fahrzeuge tragen das gelbe Kennzeichen der Guerilla. Die Zivilbevölkerung ist in den letzten Tagen geflohen. Doch bevor wir uns ein Bild von der Lage machen können, werden wir von der UCK-Polizei angehalten und zum Gespräch im Leitungsstab befohlen. Das Gespräch entpuppt sich bald als Verhör. Fragen unsererseits werden nicht beantwortet. Die Taschen werden durchsucht. Schließlich sitzen wir allein im Raum, den wir, wie mehrmals betont wird, nicht verlassen dürfen. „Sind wir festgenommen oder gar verhaftet?“ – „Nennen Sie es, wie sie wollen“, sagt einer der Uniformierten, die alle halbe Stunden kommen, um uns durchzuzählen. Nach vier Stunden kommt einer und fragt bloß: „Fleisch oder Fisch?“ Das Essen ist aus der Konserve und wird im Blechnapf serviert. Danach sind wir frei. War es Wichtigtuerei oder Ausdruck von Paranoia? Die UCK-Soldaten sind weiträumig umzingelt. Die Front ist im Norden, Westen und Süden zehn bis 15 Kilometer entfernt, im Osten etwas weiter.

An eine Rückkehr nach Pristina ist nicht mehr zu denken. Es ist dunkel geworden. UCK-Soldaten weisen uns am Morgen den ungefährlichsten Weg ins serbisch kontrollierte Gebiet. Auf der Hauptstraße nach Pristina rollt uns ein langer Konvoi Soldaten entgegen. Die Großoffensive geht weiter.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 29.07.1998 (dort unter anderem Titel erschienen)