Wälder und Wiesen wechseln sich in der sanft gewellten Hügellandschaft ab. Eine Herde Schafe hat sich vor der sengenden Hitze unter die ausladende Krone eines Ahornbaums gerettet. Da, wo sich der Bach staut, stehen drei schwarze Wasserbüffel bis zum Bauch im kühlenden Naß. Nichts trübt das friedliche Bild im Zentrum des Kosovo, da wo vergangene Woche eine serbische Großoffensive Zehntausende von Menschen in die Flucht getrieben hat – jedenfalls, wenn man die holprige unbefestigte Straße nicht verläßt.
Doch in den Wäldern leben überall Menschen. Oft haben sie sich am Rand großer Lichtungen niedergelassen, da wo das Vieh etwas zu futtern findet. Ramadan Thaci mit seiner 23köpfigen Großfamilie ist vor sieben Tagen aus Lubizhde geflohen. „Die Serben kamen, schossen drei Granaten ab und zündeten fünf Häuser an“, berichtet er, „innerhalb von Minuten ist das ganze Dorf geflohen.“ Tote habe es keine geben, nicht einmal Verletzte. Seine 20 Kühe und drei Büffel konnte der 70jährige Bauer nicht mehr retten, aber wenigstens alle Kinder. Die sitzen jetzt da auf den Teppichen im Wald, starren den Fremdling an. Zwei von ihnen sind krank. Medikamente gibt es keine. Aber wenigstens fühlen sie sich hier sicherer als im Dorf. Aber so ganz sicher ist die Lage auch hier nicht. Ramadan Thacis ältester Enkel putzt eine etwa 70 Zentimeter lange Granathülse eines 100-Millimeter-Geschosses. Es sei vor zwei Tagen ganz in der Nähe eingeschlagen, sagt er.
Noch hat keine internationale Hilfsorganisation den Weg hierher gefunden. Eine Woche lang scheiterten UNHCR, Rotes Kreuz, Ärzte ohne Grenzen an den serbischen Check-Points. Doch nachdem der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic am Freitag versprach, die humanitären Organisationen in die Flüchtlingsgebiete durchzulassen, kamen am Samstag die ersten 14 Laster mit Nahrung und Medikamenten bei Prizren, im Süden des von serbischen Streitkräften zurückeroberten Gebiets an. Hier im Zentrum des Kosovo, in der Nähe von Maljisevo, das bis vergangenen Dienstag eine Hochburg der UCK-Guerilla war und seither von serbischen Sondereinheiten besetzt ist, sind die weißen Fahrzeuge noch nicht aufgetaucht. Wenn es nicht bald geschieht, bahnt sich eine Katastrophe an. Über 100.000 Menschen sind im Lauf der Großoffensive der vergangenen Woche vertrieben worden. Vermutlich an die 20.000 von ihnen leben in den Wäldern. Einige holen noch täglich Nahrung aus ihren Dörfern, wo sie sich nicht mehr trauen zu leben. Doch viele haben nichts mehr. Wann die Vorräte an Paprika, Käse und Brot zu Ende gehen, ist eine Frage von wenigen Tagen. Zwar sind auf den Feldern, sofern das Getreide von serbischen Soldaten und Polizisten nicht mutwillig abgebrannt wurde, die Ähren überreif, doch getraut sich keiner die Ernte einzufahren.
Ramadan Veselaj ist mit Nahrungsmitteln und Nerven am Ende. Zweieinhalb Monate ist seine sechzehnköpfige Familie schon auf der Flucht. Am 17. Mai kam die Polizei nach Stapanice, in ihr Dorf, das fünf Fußstunden entfernt liegt. Um halb sieben Uhr in der Früh zündete sie drei Häuser an, der alte Veselaj wurde verprügelt, das Auto in Brand gesteckt, und die ganze Familie floh auf dem Pferdewagen. Der steht nun hier, zur Schlafstatt ausgebaut, mitten im Wald neben dem mageren Gaul und einer alten Holzwiege, in der ein Kleinkind geschaukelt wird und an deren Fußende drei Buchstaben eingeritzt sind: UCK. Zuerst hatte sich die Familie in einen noch nicht fertiggestellten Neubau in Llapceve einquartiert, von dort mußte sie nach Lubizhde fliehen. Am vergangenen Dienstag schließlich wurde sie erneut vertrieben und wohnt nun seit fünf Tagen hier im Wald. „Die Nachbarn helfen uns“, sagt Ramadan Veselaj und meint die Großfamilie, die sich paar Bäume weiter niedergelassen hat, „aber wir sind am Ende.“ Dem 40jährigen kullern die Tränen über die Wangen.
Schon nach zehn Minuten sind Hunderte aus den Wäldern zusammengeströmt, um die drei Journalisten zu sehen, die gekommen sind. Es ist ihr erster Kontakt zur Außenwelt seit einer Woche. Alle wollen sie zurück in ihre Dörfer, sobald es die Sicherheitslage erlaubt. Fragen über Fragen. Wo stehen die serbischen Geschütze? Wo sind die Soldaten? Ist jemand in Maljisevo zurückgeblieben? Alle sind sie geflohen, nachdem die schlecht bewaffnete UCK-Guerilla der mit Panzern anrückenden paramilitärischen serbischen Miliz das Feld überlassen mußte. Doch niemand spricht sich gegen die UCK aus, die sie nicht zu schützen vermochte. Alle haben sie ihre Männer und Brüder in der Guerilla. Alle gehen davon aus, daß die UCK nur einen taktischen Rückzug machte, um, sobald die Serben abziehen oder ihre Kräfte anderswo einsetzen, zurückzukommen. Bestimmt über tausend UCK-Kämpfer waren in und um Maljisevo vor einer Woche noch im Einsatz. Jetzt sind sie wie vom Erdboden verschluckt. Haben sie sich auch in den Wäldern versteckt? Haben sie ihre Waffen vergraben und sich unter die Flüchtlinge gemischt? Haben sie sich ins nahe Gebirge zurückgezogen oder sind sie nachts über die von Serben kontrollierte Überlandstraße, die Pristina und Pec, die beiden größten Städte des Landes verbindet, nach Norden entwichen, wo immer noch ein großes Gebiet von der Guerilla kontrolliert wird?
Aus den Flüchtlingen ist darüber nichts herauszubekommen. Hier gebe es keine UCK, sagen sie einhellig. Doch schon kurz danach kommt ein Auto aus dem Wald über die Lichtung gefahren, ohne Nummernschilder. Ein Mann in Zivil steigt aus, stellt sich als UCK-Kämpfer vor. Paßkontrolle am Waldrand. Die Namen werden notiert. Er fragt nach der Akkreditierung – nicht nach derjenigen, die das serbische Informationsministerium in Pristina ausstellt, sondern nach der Akkreditierung durch die UCK. „Haben wir nicht.“ Wo man sich ein solches Papier in diesen Zeiten besorgen kann, weiß der UCK-Mann, der ein gutes Deutsch spricht, allerdings auch nicht. Fragen beantwortet er nicht, stellt nur selber welche: „Was wollen Sie hier? Was haben die Flüchtlingen Ihnen erzählt?“ Er geht zu seinem Auto, nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, eine Kalaschnikow zwischen den Knien, und verschwindet im Wald.
Auf der andern Seite des Waldes liegt Ponorc. Das Dörfchen ist heil geblieben und die Leute sind nicht geflohen. Noch nicht. Doch niemand weiß, ob nicht schon heute die Serben kommen. Der ganze Ort ist überfüllt mit Flüchtlingen. Fetah Rudi, der Präsident der örtlichen Sektion der LDK, der Partei des Präsident Ibrahim Rugova, der im Kosovo äußerst populär ist, obwohl er sich immer wieder für den gewaltlosen Widerstand ausgesprochen hat, bittet in die „Oda“. Jedes Bauernhaus hier hat eine Oda – es ist ein türkisches Wort und bedeutet in der Türkei nichts anderes als „Zimmer“. Aber die Oda der Kosovo-Albaner ist ein großer mit einem Teppich ausgelegter, quadratischer Salon, der rundum auf allen vier Seiten mit langen Kissen ausgestattet ist. Die Oda ist der Raum der Männer. Hier wird palavert. Hier werden Gäste empfangen. Fetah Rudi ergreift das Wort. „Helft uns!“, bittet er, „in fünf Tagen sterben wir vor Hunger.“ Übertrieben? Mag sein. Oder auch nicht. Jedenfalls ist schwer verständlich, woher all die Nahrung für das mit Flüchtlingen völlig überfüllte Dorf kommen soll. Vor zwei Monaten schon haben die Serben den Strom abgestellt. Und ebenso lang ist nichts mehr von außen ins Dorf gelangt. Schon einige Leute hätten sich nach Maljisevo aufgemacht, um Nahrung zu suchen. „Fünf Männer sind nicht mehr zurückgekehrt“, berichtet Fedah Rudi, „wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist.“
Dann zeigt er uns das ganze Elend. Flüchtlinge, die im Pferdestall auf Stroh schlafen, eine Familie, die sich zwischen den Ziegelbergen eines Neubaus eingerichtet hat, Großfamilien, die sich in kleinen Gärten niedergelassen haben. Alte Männer mit der Plis, der traditionellen weißen Filzkappe, die wortlos vor sich hinstarren. Es herrscht eine gespenstische Ruhe. Die Menschen sind schlicht erschöpft.
Schließlich geleitet uns Fedah Rudi zum Dorf hinaus. Nach einer halben Stunde Fußweg kommen wir in den nächsten Wald, zu den nächsten Flüchtlingen. Dort stellt er uns Jakup Kastrati vor, den LKD-Chef von Maljisevo. Er ist wenige Stunden, bevor serbische Sondereinheiten seine Stadt kampflos übernahmen, als letzter geflohen. Der rüstige Mann, Lehrer von Beruf, führt uns von Familie zu Familie. Die Geschichten gleichen sich alle, nur die Namen der Familien und der Orte, die sie verlassen haben, scheinen verschieden. Zwei hochschwangere Frauen warten täglich auf ihre Niederkunft. Eine Krankenschwester wartet auch schon auf das Ereignis. Und sogar ein Arzt ist für alle Fälle zur Stelle. Doch haben die beiden außer ihrem Wissen nichts anzubieten. Es gibt keine Gebärzange, kein Verbandsmaterial, keine Medikamente, keine Spritze, nur eine Schere, um den Neugeborenen abzunabeln. Wenigstens haben die Menschen hier genug Trinkwasser. Die Quelle ist zehn Minuten entfernt. Vielen ist dies zu weit. Sie schöpfen aus dem Bach. Arben, der Arzt befürchtet in jedem Moment den Ausbruch einer Epidemie. „In jedem bewaffneten Konflikt gibt es doch Korridore für die humanitäre Hilfe“, meint er, „weshalb bloß bei uns nicht.“ Daß Milosevic nun versprochen hat, daß die UNHCR-Laster die serbischen Check-Points passieren dürfen, glaubt er nicht. Und wenn schon? „Hat er nicht vorgestern gesagt, daß die Offensive zu Ende sei? Sind nicht gestern wieder Dörfer beschossen worden?“
Auf dem Rückweg nach Pristina treffen wir auf zwei Häuser, die lichterloh brennen. Auf dem Hinweg waren sie noch heil. Auch ein Getreidefeld steht nun in Flammen. Ein Dutzend Panzer rollt uns entgegen mit aufgepflanzten Maschinengewehren, hinter denen Männer in Siegespose stehen. Wahrscheinlich werden sie nur strategische Stellen besetzen. Aber ob sie je gesehen haben, wie Flüchtlinge in Wäldern so leben?
Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 03.08.1998
(hier in ungekürzter Fassung)