Fidel Castro ist nicht nur Staatschef, Parteichef und Regierungschef, er ist auch Blogger. Wöchentlich lässt er seine „Gedanken des Chefkommandanten“ ins Netz stellen, auch wenn nur wenige Kubaner Zugang zum Internet haben. Im neuesten Beitrag schreibt er: „Ich bin physisch nicht mehr in der Lage, direkt zu den Einwohnern der Gemeinde zu sprechen, die mich als Kandidat aufgestellt haben.“
Kuba wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament. Für die 614 Mandate bewerben sich 614 der Kommunistischen Partei genehme Kandidaten. Das neue Parlament wird im März aus seiner Mitte den neuen Staatschef und den neuen Regierungschef wählen. Castros Kandidatur fürs Parlament ist also Voraussetzung für seine Wiederwahl als Staatschef. Doch spricht alles dafür, dass der schwer kranke Revolutionär, der in den 49 Jahren seiner Herrschaft zehn US-Präsidenten erlebt hat, die Macht nun auch formell an seinen fünf Jahre jüngeren Bruder Raúl abgibt.
Raúl, schon 76 Jahre alt und also allenfalls eine Übergangsfigur, übernahm die Amtsgeschäfte vor anderthalb Jahren, als sich Fidel ins Krankenhaus zurückzog. Zu einer demokratischen Öffnung oder gar einem Aufstand gegen das Regime, wie die Exilgemeinde in Miami hoffte, kam es damals allerdings nicht – erst mal änderte sich gar nichts.
Doch keimt nun seit einigen Monaten Hoffnung. Kurz vor Jahresende beteuerte Fidel, er hänge nicht an der Macht und wolle einer jüngeren Generation nicht im Wege stehen. Danach kündete Raúl Wirtschaftsreformen an. Von einer Demokratisierung, einer politischen Öffnung, einer öffentlichen Diskussion über die anstehenden Probleme kann nicht die Rede sein – auch wenn der Interimsstaatschef schon vor einem halben Jahr zu einer Debatte über notwendige strukturelle Änderungen des Systems aufgerufen hat. Es gibt weiterhin keine freie Presse im Land, nur streng kontrollierte Parteiorgane und Staatsfernsehen.
Doch das Informationsmonopol der Macht wird immer offensiver durchbrochen – im Internet. Fidel Castro ist nicht der einzige Blogger Kubas. Seit drei Jahren schon gibt es die digitale Zeitschrift Consenso in der oppositionelle Kreise eine ernsthafte Diskussion über die Zustände und die Zukunft Kubas führen. In der neuesten Ausgabe steht unter dem Titel „Im Gespräch mit dem Feind“ ein Interview mit Michael Parmly, de facto US-Botschafter in Kuba. Geführt hat es der Redakteur Reinaldo Escobar, der als Journalist vor zwei Jahrzehnten beim Regime in Ungnade fiel. Seine Lebenspartnerin Yoani Sánchez, die ebenfalls der Redaktion angehört, hat seit zehn Monaten einen eigenen Blog.
Dieser Blog ist für kubanische Verhältnisse sensationell. Die 32-jährige Literaturwissenschaftlerin nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie erzählt von der Mangelwirtschaft, von der Verlogenheit der Macht, vom Alltag im kubanischen Absurdistan. An Heiligabend schrieb sie: „Am Kopf des Tisches wird ein Stuhl stehen, der seit Weihnachten 2003 unbesetzt ist. Es ist der Platz für Adolfo Fernández Saínz, im schwarzen Frühling zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt (…) Ich erinnere mich an den Tag, als wir es meinem Sohn Teo erzählten. Mein Mann sagte: ‚Teo, dein Onkel Adolfo ist im Gefängnis, weil er ein sehr mutiger Mann ist’, worauf ihm mein Sohn in seiner kindlichen Logik antwortete: ‚Dann seid ihr beide also frei, weil ihr ein wenig feige seid.’“
Diese Woche berichtete die inzwischen wohl beliebteste Bloggerin Kubas von ihrem Freund Cuco, der das bekannteste Privatrestaurant ihres Stadtviertels führte, dann aber das Lokal schließen musste, weil ihm hohe Steuern aufgebürdet wurden – „und der Karneval der Düfte, die wir neu entdeckt hatten, verschwand in die Dunkelheit“. Die Woche zuvor erzählte sie von ihrem Freund Gerardo, der zusammen mit seiner Verlobten auf der Straße von einer Gang überfallen wurde, ohne dass von all den Personen, die auf den Bus warteten, jemand eingegriffen hätte. Auf der Polizeistation erfuhren sie dann – „während die Blutergüsse ihre Haut verdunkelten“ –, dass ein Spaziergang zu nächtlicher Stunde in den schwach beleuchteten Straßen des Zentrums von Havanna eine Verrücktheit sei.
Yoani Sánchez beschreibt den grauen Alltag in einer oft poetischen Sprache. Und sie versucht die großen Probleme durchs Prisma kleiner, persönlich erlebter Geschichten zu beleuchten. Sie wünscht sich den Tag herbei, an dem sie nicht mehr die Milch einem illegalen Hausierer abkaufen muss, an dem sie nicht mehr die Linie der Legalität überschreiten muss, um Erdnüsse zu ergattern, an dem sie nicht mehr die „Rebellische Jugend“ (Zeitung der Jugendorganisation der Partei) bei einem Alten, der seine Rente aufbessern will, zu überhöhtem Preis kaufen muss.
Es gibt in Kuba inzwischen eine stattliche Anzahl von Blogs. Die meisten liegen auf Regierungslinie oder sind anonym. Sánchez hingegen kämpft mit offenem Visier. Sie nennt ihren wahren Vor- und Nachnamen. Und auf ihrem Blog erscheint sie mit Foto. Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihre Seite schon besucht. Während im vergangenen Oktober erst elf Personen Kommentare zu ihren Beiträgen abgaben, waren es im Dezember bereits 1.036. Allein in der ersten Januarhälfte schon über 900. Das hat sie Kollegen renommierter Medien zu verdanken. Die spanische Tageszeitung El País porträtierte sie, und Wallstreet Journal widmete ihr jüngst fast die gesamte erste Seite.
Die meisten Besucher und Kommentatoren mögen wohl in den USA, Lateinamerika oder der kubanischen Diaspora in Europa leben. Auf Kuba haben zwar offiziell 900.000 Menschen eine E-Mail-Adresse. Doch im Computer können sie fast alle nur im sogenannten Intranet kubanische Websites aufrufen. Allerdings haben viele Akademiker und Geschäftsleute aus beruflichen Gründen Zugang zum Internet. Und nicht wenige verkaufen ihren Zugangscode auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen – für etwa 50 Euro im Monat, was zwei kubanischen Monatslöhnen entspricht.
Der Bloggerin Sánchez ist das zu teuer. Außerdem will sie der Staatssicherheit keinen Vorwand für eine Beschlagnahmung ihres Computers und Schließung des Blogs liefern oder gar für eine Festnahme. So hat sie andere, nicht illegale Wege gefunden, um ihre Beiträge ins Netz zu speisen. Was sie produziert, ist Literatur sui generis – und Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Natürlich verdient sie dabei keinen Heller. Ihr bescheidenes Einkommen erzielt Sánchez über Sprachkurse. Sie spricht ausgezeichnet deutsch. Sie ist einst, angeödet vom verkrusteten System des tropischen Sozialismus, in die reiche Schweiz emigriert – und nach wenigen Jahren freiwillig ins arme Kuba zurückgekehrt. „Ich will nicht in einem andern Land leben“, sagt sie heute, „sondern in einem andern Kuba.“
Raúl Castro, der heutige Machthaber, sprach von notwendigen strukturellen Änderungen. Ein Zitat seines kranken Bruders prangt heute auf zahlreichen Spruchbändern Havannas: „Revolution bedeutet, all das zu ändern, was geändert werden muss.“ Darin sind sich Yoani Sánchez und Fidel Castro wohl einig. Nur, was denn geändert werden muss, das sieht die junge Bloggerin bestimmt anders als der alte Blogger.
Thomas Schmid – ZEIT online 19.1.2008