Im Nebel der Erinnerung

Seit 27 Jahren informiert Elizardo Sánchez die Weltöffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen in Kuba. Er berichtet über Verhaftungen, Prozesse, politische Gefangene, Hungerstreiks, kurzum über alles, was der Dauerredner Fidel Castro immer verschweigt. Weltweit genießt der Präsident der kubanischen Menschenrechtsorganisation, der achteinhalb Jahre in Gefängnissen verbracht hat und trotzdem im Land geblieben ist, hohe Achtung. Spitzenpolitiker aller Kontinente haben ihm ihre Aufwartung gemacht. Am vergangenen Donnerstag nun schlug das Regime zu.

Das Informationsministerium lud die Auslandskorrespondenten zu einer Filmvorführung ein, die nur wenige Minuten dauerte. Auf dem Videoband, das ihnen vorgespielt wurde, ist deutlich zu erkennen, wie ein Offizier der Staatssicherheit dem Menschenrechtler eine Medaille überreicht – für seine „wertvollen Dienstleistungen in der Auseinandersetzung mit dem Yankee-Imperialismus“, wie einer aus der Gruppe von Geheimdienstlern im Film sagt. Sánchez nennt sie „Genossen“, und alle zusammen singen sie die kubanische Nationalhymne.
Mit der Vorführung des Videos wollte das kubanische Regime den Beweis für eine Behauptung antreten, die es drei Wochen zuvor in die Welt gesetzt hatte. Mitte August hatten Lázaro Barredo, Kommentator der Gewerkschaftszeitung Trabajadores, und Arleen Rodríguez, Chefredakteurin der Zeitschrift Tricontinental, einer verdutzten Öffentlichkeit ihr Buch Camaján („Gauner“) vorgestellt. Darin schimpfen sie Elizardo Sánchez einen Landesverräter, der im Sold der USA stehe, CIA-Informant sei, Beweise für angebliche Menschenrechtsverletzungen fabriziere, mit der terroristischen Mafia von Miami verbandelt sei, auf großem Fuß lebe und ausländische Hilfsgelder für „gewisse irdische Vergnügen mit wechselnden Damen“ ausgebe. Und dann kommt der Coup: Just dieser ruchlose Gauner sei im Dezember 1997 an die kubanische Staatssicherheit herangetreten, um ihr seine Dienste anzubieten. Sánchez habe der Staatssicherheit seither wertvolle Informationen über die Dissidenten und ihre Verbindungen zum Exil in Miami und zur US-Interessenvertretung in Kuba geliefert.
Elizardo Sánchez, der neben Osvaldo Payá bekannteste Dissident Kubas, ein Spitzel des Regimes? Als die beiden Journalisten vor drei Wochen ihr Buch vorstellten, waren sich unvoreingenommene Beobachter einig, dass es sich um ein übles Machwerk handelt. Zu dreist waren die Lügen, zu ideologisch die Sprache der Giftspritzer, zu obszön die Unterstellungen. Der Kurzfilm vom vergangenen Donnerstag jedoch habe in diplomatischen und oppositionellen Kreisen wie ein Bombe eingeschlagen, behauptet der Korrespondent der renommierten spanischen Zeitung El País, der seit über zehn Jahren aus Havanna berichtet. Man ist verunsichert, seit jüngst 75 Dissidenten, unter ihnen zahlreiche unabhängige Journalisten, zu Haftstrafen zwischen 6 und 28 Jahren verurteilt wurden und danach Néstor Baguer, der Präsident der Unabhängigen Journalistenvereinigung Kubas, sich selbst als Kronzeuge der Anklage enttarnte.
Sánchez sprach umgehend von einer „Schmierenkomödie“, deren einziges Ziel es sei, die Opposition in Misskredit zu bringen. Dass er mit Beamten der Staatssicherheit seit Jahren in Kontakt stand, hat er nie bestritten. „Ich würde selbst mit dem Teufel sprechen“, rechtfertigte er sich immer, „wenn es meinem Land nützen würde.“ Dass er den Geheimdienstlern Informationen lieferte und seine Mitstreiter verriet, dementiert er jedoch. Auf das kompromittierende Video angesprochen, sagte Sánchez, er habe nur nebulöse Erinnerungen. Er entsinne sich eines Treffens mit der Staatssicherheit, bei dem er kaum wahrnahm, was ablief. Vielleicht habe man ihm irgendetwas ins Glas geschüttet.
Ausflüchte eines in die Ecke Gedrängten? Eine unabhängige Untersuchung der Umstände, unter denen das Video gedreht wurde, ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich, und so sind Zweifel an der Version der Regierung angebracht.Der kubanische Geheimdienst, der auf der Insel omnipräsent ist, steht, was die Techniken der „Diversion“ betrifft, dem verblichenen DDR-Staatssicherheitsdient jedenfalls in nichts nach.
Osvaldo Payá, der vom EU-Parlament mit dem Sacharow-Preis gekrönte kubanische Dissident, hält die neue Strategie des Regimes für einen Ausdruck purer Verzweiflung. Er fügt aber vorsichtig hinzu, er werde sich nicht zum Richter über Sánchez aufschwingen, es sei jedoch dessen Angelegenheit, den Sachverhalt aufzuklären. Jahrzehntelang habe Castro bestritten, dass es in seinem Reich überhaupt eine ernst zu nehmende Opposition gibt, so Payá. Nun sehe sich das Regime gezwungen, „Bücher und auch Videos zu veröffentlichen, nur um die Oppositionellen zu diffamieren“. Der Dissident Vladimiro Roca, Sohn des Gründers der heute in Kuba allmächtigen Kommunistischen Partei, spricht von einem durchsichtigen Manöver, mit dem Castro die Opposition spalten wolle. Auf seiner Insel hat der Diktator jedenfalls das Gegenteil erreicht: Die Dissidenten rücken zusammen.
Allenfalls unter den ideologischen Hardlinern der kubanischen Exilgemeinde in Miami fällt Castros Saat auf fruchtbaren Boden. Der prominente Menschenrechtler war ihnen schon lange suspekt. „In Wirklichkeit diente Elizardo Sánchez immer mehr den Interessen des Regimes als denen der Opposition“, sagt Ninoska Pérez, die Präsidentin des Rats für die Freiheit Kubas. Immerhin war der heutige Sozialdemokrat im kommunistischen Kuba Professor für Marxismus, bis er 1968 gefeuert wurde, weil er den Einmarsch der Sowjettruppen in Prag nicht gutheißen wollte. Stets kritisierte er das US-Wirtschaftsembargo gegen Kuba. Ja, Elizardo Sánchez hat sogar die ketzerische Ansicht vertreten, Castro könne, da er bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung noch immer Rückhalt genieße, bei einem Übergang zur Demokratie durchaus eine wichtige politische Rolle spielen. Da irrt wohl der Dissident. Nichts spricht dafür, dass der máximo líder eines Tages die Macht teilen wird. Seine neuesten Manöver deuten sogar darauf hin, dass er die moderate Opposition mehr fürchtet als die radikalen Antikommunisten in Miami. Castro bleibt sich treu. Eher wird er Kuba mit sich in den Abgrund stürzen, als von seiner Revolution abzulassen.

Thomas Schmid – DIE ZEIT 18.09.2003 Nr.39