Es gibt viele Arten, Havanna zu entdecken. Man kann in einem der großen Touristenhotels eine Sightseeing-Tour buchen. Man(n) kann sich auf eine der schwarzen Schönheiten einlassen, die sich vor dem „Habana libre“ in knallenger Bluse und superscharfem Mini als Stadtführerin, Tanzpartnerin und Bettgenossin andienen. Man kann auf eigene Faust losziehen. Ich habe mich für einen vierten Weg entschieden. Und der heißt Reinaldo.

Reinaldo, der mit seinem langen schwarzen lockigen Haar trotz seiner 50 Jahre recht jungenhaft aussieht, weiß über Havanna einfach alles. Er kennt die Geschichte und die Geschichten der Stadt, er kennt die oben und die unten, Politiker und Eierdiebe. Jahrelang hat er als Journalist gearbeitet. Heute ist er arbeitslos. Und das kam so:

Anfang der 80er Jahre, als die Schulrektoren in Kuba noch auf ordentlichen Haarschnitt achteten, hatte Reinaldo in einem Artikel der „Juventud Rebelde“ (Rebellische Jugend), dem Organ der kommunistischen Parteijugend, beiläufig das Recht auf lange Haare verteidigt. Hatte nicht auch der amtlich vergötterte Che Guevara einen Zopf getragen? – Eine Frage der Hygiene und Läuse?! – Und die Mädchen mit ihren langen Haaren? – Kurzum: Ein Beitrag, den man so oder ähnlich im Deutschland der 60er Jahre etwa im „Bravo“ finden konnte. Harmlos also, wenn Reinaldos Artikel in den folgenden Tagen nicht an Toilettentüren, Wänden und schwarzen Brettern zahlreicher Schulen aufgetaucht wäre und ein heimlicher Kleinkrieg zwischen Putz- und Klebekolonnen eingesetzt hätte. Vermutlich wurde der Chefredakteur vor sein Parteikollektiv zitiert. Reinaldo jedenfalls bekam eine Verwarnung. Als er kurz danach in einem Beitrag zum 30. Jahrestag der Revolution einige Gedanken zu viel anstellte, war er seinen Job los und erhielt eine Arbeit in der Nationalbibliothek zugewiesen. Dort initiierte er eine Petition für eine offene Debatte innerhalb der Partei – und wurde prompt entfernt. Fortan war er für die Reparatur von Liften zuständig. Und davon verstand er nun wirklich nichts. Und so ist er jetzt arbeitslos.

In der DDR war der Sozialismus brav, bieder und preußisch. Wie hätte es in deutschen Landen auch anders sein können?! In Kuba hingegen, in den Tropen, bei der Hitze, bei diesem Volk von Frohnaturen, die nicht gehen, sondern tänzeln, immer hüfteschwingend und lachend, in Havanna, das im Rhythmus von Rumba, Salsa und Cha-cha-cha schwingt – wie hätte da sozialistische Disziplin je durchgesetzt werden können? Wie oft haben wir es in Deutschland nicht gehört:  Kuba, das ist nicht Realsozialismus, sondern „socialismo tropical“ – tropischer Sozialismus eben, Sozialismus der sympathischen Art.

„Pustekuchen!“, sagt Reinaldo, der Deutschland West wie Ost kennengelernt hat, „Kuba ist in vielem preußischer als die sozialistischen Preußen.“ Angefangen beim Schlangestehen. „Hacer cola“, wie man auf spanisch sagt, wörtlich übersetzt „Schwanz machen“, war schon immer ein Markenzeichen des Sozialismus. Doch in Kuba sind die Schlangen nicht nur Ausdruck des Mangels, sondern auch Objekt staatlicher Organisierungskünste und Disziplinierungsstrategien. Man braucht nur eine „Kamel“-Haltestelle aufzusuchen. „Kamele“ heißen die zweihöckrigen Ungetüme, die von Zugmaschinen geschleppt werden. Es sind riesige Busse, deren Mittelteil tiefer liegt als der vordere und hintere Teil und deren Form tatsächlich an die Wüstentiere erinnert. Nun stehen in vielen Ländern der Welt die Menschen an Busstationen Schlange. Wenn sich in Havanna aber ein „Kamel“ nähert, haben sich längst zwei Schlangen gebildet, eine für die Sitzplätze und eine für die Stehplätze. Die Passagiere der Schlangen halten Zettel in der Hand – der erste die Nummer 1, der zweite die Nummer 2, und so weiter und so fort -, die von einem Herrn in gelber Jacke, dem „organizador de la cola“, dem Organisator der Schlange, beim Besteigen des „Kamels“ eingezogen und dann an die Schlange für den nächsten Bus wieder ausgeteilt werden.

„Bei Überlandfahrten muss man oft über Tage hinweg jeden Morgen neu anstehen“, sagt Reinaldo, intimer Kenner sämtlicher Tücken des „Cola“-Alltags, „und wer eines Tages nicht erscheint, verliert seine Nummer und damit seinen Platz in der Schlange.“ Ältere Leute stellen auch mal einen „colero“ an, einen Mann, der gegen Entgelt den Platz in der „cola“, in der Schlange, hält. Vor dem Kino steht manchmal „prohibido rotear“ – es ist verboten, dem Hintermann den Vortritt zu lassen. Wer an der Kasse angekommen ist, muss bezahlen und eintreten. Er darf nicht, weil er vielleicht noch auf den Freund wartet, den nächsten schon mal vorlassen.

„Das komplizierte Geflecht der „Cola“-Kultur mit ihren Tücken und Tricks, ihrem Chaos und ihrer Ordnung“, sagt Reinaldo mit dem Pathos des Philosophen und freut sich über die eigenen Formulierungen, „ist ein Strukturelement der kubanischen Gesellschaft.“ Seine Ausführungen über die vielen ungeschriebenen Regeln des Schlangestehens, mit der hier der Leser nicht weiter gelangweilt werden soll, geben in der Tat den Stoff für ein philosophisches Traktat her, das noch nirgends geschrieben wurde.

Neben den „Kamelen“ gibt es eine Vielfalt anderer öffentlicher Verkehrsmittel in Havanna. Wer sich von den eigentümlichsten Mischungen aus Schweiß, Parfum und anderen Ausdünstungen so wenig abgestoßen fühlt wie vom Druck fremder Schenkel, Bäuche und Busen, dem seien die „Guaguas“ empfohlen, die ständig vollgequetschten Busse. Wer bequemer reisen will, nimmt sich ein Turistaxi, ein modernes Auto mit Taxometer mit Dollaranzeige. Wesentlich billiger allerdings sind die illegalen Privattaxis, oft vorrevolutionäre Modelle der 50er Jahre, museumsreife, aber geräumige Oldies der Marken Buick, Chevrolet oder Dodge. Die historische Altstadt zwischen Kathedrale, Revolutionsmuseum und dem „Floridita“, dem Restaurant, in dem der große Schluckspecht und Schriftsteller Ernest Hemingway täglich seinen Daiquirí getrunken hat, kann man seit den Jahren der Benzinknappheit in der Rikscha erkunden. Es sind pittoreske, überdachte Karren, gezogen von einem Fahrrad. Unter ökologischen Gesichtspunkten gewiss ein sinnvolles Mobil. Aber wer lässt sich schon gerne als Weißer mithilfe der physischen Kraft der oft ausgemergelten Körper schwarzer Jugendlicher durch die Straßen kutschieren? Nach Guanabacoa, einen Vorort Havannas, fährt man für wenige Pesos im Pferdewagen. Die meisten Kubaner aber bewältigen größere innerstädtische Distanzen per Rad. Weit über eine Million Fahrräder sind seit dem weitgehenden Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs aus Russland und vor allem aus China importiert worden. Und da die Diebstähle offenbar auch in Kuba an der Tagesordnung sind, sind zahlreiche Parkhäuser eingerichtet worden. Auch die Tiefgarage des „Habana libre“ ist zur Hälfte für Räder reserviert.

Doch trotz tropischer Hitze, aufsässiger Touristenhaie und der oft recht weiten Wege empfehle ich, Havanna zu Fuß zu entdecken. Ich jedenfalls hätte sonst Bulso nie kennengelernt. Bulso, graue Mähne, Bart und Schnäuzer, ist ganz der Typ Bohémien. Fast jeden Tag sitzt er, nur mit Badehose und breitkrempigem Hut bekleidet, meistens ein Messer um den Unterschenkel geschnallt, auf der Mauer, die den Malecón, die achtspurige Uferstraße Havannas vom Ozean trennt, und sonnt seinen sehnigen Körper. Bei unruhiger See türmt sich die Gischt an der Mauer zu hohen Wellen auf, die sich dann in elegantem Bogen über den Malecón ergießen. Was sich im Gegenlicht der Sonne aus der Ferne als bezauberndes Schauspiel darbietet, entpuppt sich vor Ort als eine harte, peitschende Dusche.

Doch heute ist die See ruhig und Bulso arbeitet. Seit 38 Jahren lebt er vom Meer. Er taucht nach Münzen, die Passanten als Opfergabe an Yemayá, die Göttin des Meeres, ins Wasser geworfen haben. Denn wie alle Gottheiten des weit verbreiteten afrikanischen Santería-Kultes will auch Yemayá besänftigt werden. Wer sie vergisst, den überkommt Unheil. Bulso bringt Kindern das Schwimmen bei und rettet Menschen in Seenot. Manchmal fährt er auch mit einem Floß hinaus zum Fischfang. Mit dem Messer, so sagt er, verteidigt er sich vor allem gegen die Barracuda, gefährliche Raubfische. „Wie bitte?“ – „Barracuda und auch Haie.“ An den Beinen trägt Bulso viele Narben.

Nur acht Fahrbahnen trennen Bulsos Arbeitsstelle vom „Riviera“. Aber da war er noch nie drin. Zehn Dollar, einen durchschnittlichen kubanischen Monatslohn, kostet der Eintritt für den Palacio de la Salsa, den großen Saal des Luxushotels, wo sich spätabends Ausländer, Jineteras und die Jeunesse dorée treffen, bevor gegen Mitternacht das Konzert beginnt. Jineteras, übersetzt: Reiterinnen, werden die Prostituierten genannt, die sich vor den internationalen Hotels, am Strand oder eben auch hier vor dem Salsa-Palast Ausländer angeln. Es sind in der Regel ausgesprochen attraktive Frauen, meistens Mulattinnen, viele von ihnen mit guter Ausbildung und alle so gekleidet, dass zumindest ihr Äußeres keine Rätsel mehr aufgibt. Die Jineteras sind gesellschaftlich bei weitem nicht so geächtet wie ihre Kolleginnen in Deutschland. Man hat Verständnis für sie. Jeder versucht hier schließlich, irgendwie an Devisen zu kommen. „Trotzdem wurmt es eben die kubanischen Männer, wenn wir mit Ausländern ins Bett gehen, bloß weil die Dollars haben“, sagt Elvira nachsichtig, „das verletzt sie zutiefst.“ Und mit einem Lächeln fügt sie selbstsicher hinzu: „Immerhin nehmen ihnen die Ausländer gerade die schönsten Frauen weg.“ Elvira studiert Psychologie. Mit 16 Jahren hat sie ihr erstes Kind gekriegt, das nun ihre Eltern aufziehen. Ihr größtes Problem sei, sagt sie, dass sie sich in Kuba langweile. „Nimm mich mit“, bittet sie, als ich mich verabschiede, und ich bin mir nicht sicher, ob sie meint: Nimm mich mit nach Europa, oder: nimmer mich mit ins Hotelzimmer. „Nein, meine Frau wartet auf mich.“ – „Aber die ist bestimmt nicht so schön wie ich.“ – „Da bin ich mir nicht so sicher, jedenfalls bist du auch schön.“ – „Aber du hast noch nie mit einer Mulattin geschlafen, gib’s zu.“ – „Nein, noch nie.“ Zum Abschied überfällt sie mich mit einem Zungenkuss und sagt lachend: „Zumindest hast du jetzt schon einmal eine geküsst.“

Natürlich gibt es auch billigere Lokale als den berühmten Salsa-Palast. Ein bescheideneres Programm wird in jedem internationalen Hotel angeboten. Da kreuzen Bands und Bänkelsänger auf – alles vom Staat organisiert. Denn trotz aller Privatisierung, die in Havanna in vielen Bereichen Einzug gehalten hat, darf kein Hotel, keine Diskothek, kein Musikschuppen auf eigene Initiative und eigene Rechnung Musiker engagieren.

Einer würde auch umsonst auftreten, aber man lässt ihn partout nicht: Pedro Luis Ferrer. Seit Jahren erhält er vom Staat jeden Monat regelmäßig sein Salär: 400 Pesos, ein Gehalt, das weit über dem eines Chefarztes liegt, bloß arbeiten darf er dafür nicht. Das Regime bezahlt sein Schweigen. Trotzdem ist er neben den staatlich geförderten und international renommierten Sängern Silvio Rodríguez und Pablo Milanés der wohl bekannteste Musiker des Landes. Seine Kassetten, aufgenommen im Freundeskreis, werden kopiert, weitergereicht und zirkulieren zu Tausenden in Havanna. In Guaracha-Rhythmen singt der bärtige Barde, in gewisser Weise ein kubanischer Wolf Biermann, dem Regime die Leviten.

In seinen frechen, aber sanft und heiter vorgetragenen Liedern greift Pedro Luis Ferrer vor allem tabuisierte Themen auf. Da geißelt er die Diskriminierung der Schwulen und fordert eine Debatte über „die Machos, die ihre Frauen wie Sklaven behandeln“ oder singt von Mariacha, der Nutte, „die im Kindesalter von ihrem eigenen Vater vergewaltigt wurde, nie mit Puppen spielte und eines Tages im Alkohol aufwachte“. Und wenn er sein Lied vom Opa Paco singt, der vor langer Zeit unter gewaltigen Opfern ein großes Haus gebaut hat, an dem man nichts verändern darf, und der einen Revolver und ein Messer hat, so dass es besser ist, immer ja zu sagen, auch wenn man nein meint, dann weiß in ganz Kuba jede und jeder, wer dieser Opa ist.

In seinem Haus im Stadtteil Miramar treffe ich Pedro Luis Ferrer, den ich vor drei Jahren kennengelernt habe, ausgesprochen aufgeräumt an. Wir reden über Gott und die Welt, Castro und Kuba. Dann platzt er raus: „Stell dir vor, ich habe am nächsten Freitag einen Auftritt, im ‚Tocororo‘, du kommst wohl hoffentlich hin.“  Natürlich entgeht ihm mein Erstaunen nicht. Immerhin ist das „Tocororo“ ein absoluter Edelschuppen. Und ausgerechnet da will er auftreten, er, der sich nie korrumpieren ließ, er, der immer auf der Seite der Geknechteten und Entrechteten stand, er, der Revolutionär, der für die Bürokraten, die sich in Kuba Revolutionäre nennen, nur Verachtung übrig hat. Er errät meine Gedanken und sagt nur: „Ich muss auch an meine Gruppe denken.“ Seit Jahren übt die Band fast täglich im kleinen schalldichten Studio, das er sich zuhause eingerichtet hat. Nur natürlich, dass sie aus dieser Isolation ausbrechen will. Trotzdem, das heißt doch Perlen vor die Säue werfen, denke ich, und lasse mir zwei Plätze bestellen.

Das „Tocororo“ gehört zur Klasse der sündhaft teuren Restaurants, in denen es keine Speisekarte gibt. „Die Speisekarte bin ich“, lächelt der Kellner im goldbetressten Livrée mit sanfter Verbeugung und macht einige Vorschläge, wie man das Mahl beginnen könnte. Das Gedeck weist auf ein halbes Dutzend weiterer Gänge hin. Wir, eine Fotografin und ich, entscheiden uns für zwei Gläschen Weißwein und etwas Fisch und sind nach dem Appetithäppchen schon die ersten 50 Dollar los. Vorne singt Pedro Luis Ferrer, begleitet von seiner Band, sein Lied über „meine Freunde, die ins teuerste und luxuriöseste Restaurant gehen, dort im Dämmerlicht mit Champagner anstoßen, Languste, Garnelen und Beefsteak bestellen“, während andere versuchen, „ihren Hunger mit Bonbons zu stillen“. Niemand scheint auf seine Worte zu achten. Die Gäste, vorwiegend Geschäftsleute und Diplomaten, lassen sich unbeirrt Gang für Gang auftischen. Die Musik im Hintergrund rundet das Mahl ab.

Thomas Schmid, 1996 (vermutlich unveröffentlicht)

© Thomas Schmid