In der Altstadt von Havanna, just gegenüber der Kathedrale, steht ein unscheinbares Gebäude, errichtet im spanischen Kolonialstil. Der Innenhof ist von Säulen umgeben. Vor einem ockerfarbenen Vorhang steht ein kleines Podest, darauf ein Stehpult. Links von diesem eine Soldatin, rechts ein Soldat, beide in der olivgrünen Uniform der Truppen des Innenministeriums. Der Reihe nach treten verschiedene Personen vors Mikrophon. Einer spricht von der Diktatur in Kuba und den politischen Gefangenen und fordert die über hundert Anwesenden auf, die Hand zu heben, wenn sie der Meinung seien, die Dinge müssten sich ändern. Alle heben die Hand. Der nächste beendet sein kurzes Statement mit den Worten „Freiheit! Freiheit! Freiheit!“ Ein anderer sagt nur: „Ich habe Angst, viel Angst.“ Ein weiterer Redner hält eine flammende politische Predigt, bis er schon nach einer Minute vom Soldaten von der Bühne gezerrt wird. Schließlich haucht eine junge Frau ins Mikro: „Ich möchte, dass eines Tages die Meinungsfreiheit in Kuba keine Performance ist.“
Die Szene, abrufbar auf YouTube, fand vor einem halben Jahr statt. Die international bekannte kubanische Künstlerin Tania Bruguera hatte auf der Biennale von Havanna zu einer Performance eingeladen. Die neugierigen Besucher überraschte sie mit dem Angebot, jede und jeder von ihnen habe nun genau eine Minute Zeit, vor dem Mikrophon zu sprechen – und zwar völlig frei. Alles sei erlaubt, eine Zensur finde nicht statt. Die anwesenden Kulturfunktionäre waren offenbar überrumpelt. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten, zumal noch ein Witzbold mit schwarzer Kapuze über dem Kopf vors Mikrophon trat und höhnte: „Eine solche Veranstaltung gehört verboten!“
Für Claudia Cadelo, die Frau, die sich öffentlich gewünscht hatte, dass die Meinungsfreiheit in Kuba keine Performance sei, hatte die Geschichte ein Nachspiel. Die 26-jährige Lehrerin teilt sich mit ihrem Freund, einem Rock-Musiker, und einem Hund im Stadtteil Vedado, im modernen, aber bereits ziemlich heruntergekommenen Zentrum von Havanna, eine enge Zweizimmerwohnung. Darum beneidet sie mancheiner. Denn Wohnraum ist in der kubanischen Hauptstadt ein rares Gut. Viele erwachsene Paare sind gezwungen, bei den Eltern zu leben.
Ein halbes Jahr nach ihrem Auftritt bei der Performance, so berichtet Cadelo, wollte sie im Museum der Bildenden Künste ein Konzert des Chansonniers Pedro Luis Ferrer besuchen, der auf der Insel einst jahrelang Auftrittverbot hatte. Ein Mann, der sich als Museumsdirektor ausgab, stellte sich ihr in den Weg. Der Dialog, der folgte, steht im Internet: „Claudia, ich bedaure, man hat uns angewiesen, dich nicht hineinzulassen.“ Cadelo: „Sind Sie sich im Klaren, welch erbärmliche Rolle man Ihnen zugewiesen hat?“ Der Museumsdirektor: „Ja. Und ich bedaure es.“ Es tritt eine Frau dazwischen: „Keine erbärmliche Rolle! Du bist eine Provokateurin, du kannst hier nicht rein. Du hast an der Performance von Tania Bruguera teilgenommen.“ Cadelo: „Wissen Sie, was eine Performance ist?“ Die Frau: „Du bringst mir nicht den nötigen Respekt entgegen.“ Cadelo: „Señora, Ihnen fehlt es an Respekt mir gegenüber, und das nur, weil ich hier rein will.“ Der Zutritt wurde ihr verwehrt.
Cadelo veröffentlichte den Disput in ihrem Blog „Octavo cerco“ („Achter Kreis“), benannt nach einem Lied des polnischen Dissidenten Jacek Kaczmarski, in dem ein verzweifelter Künstler die sieben Kreise der Hölle hinabsteigt und am Ende seines Wegs einsam und mutterseelenallein der höchsten Macht gegenübersteht. Eine Horrorvision, die heute manchen Kubaner quälen mag, wie zu Zeiten Dante Alighieris die Imagination von Feuerzangen und siedendem Pech die braven Christen schreckte. „Manchmal schlage ich am Morgen die Augen auf und denke: Nun fällt das Regime“, sagt Cadelo, „manchmal wache ich auf und bin mir sicher: Das dauert noch weitere 50 Jahre.“ Auch so eine Horrorvision.
„Als Raúl Castro die Macht von seinem schwer erkrankten Bruder Fidel übernahm, hofften viele Kubaner, es werde nun zu einer Öffnung des Systems kommen“, meint die Bloggerin, „hat er doch in seiner Antrittsrede das Wort Sozialismus kein einziges Mal verwendet.“ Aber im wesentlichen sei dann doch alles beim Alten geblieben. Cadelo sagt, sie sei wie alle Kubaner eine potenzielle Emigrantin. Andererseits wolle sie nun doch den Film bis zum Ende sehen. Immerhin ist Raúl schon 78 Jahre alt…
Auch noch etwas anderes mag eine Rolle spielen. Würde sie – sofern man sie überhaupt ausreisen ließe – ins Exil gehen, fiele ihre Wohnung an den Staat. Verkaufen darf sie sie nicht. Es gibt keinen Wohnungsmarkt in Kuba, jedenfalls keinen legalen. Unter der Hand werden Wohnungen trotzdem gegen harte Devisen weitergereicht. Es gibt so gut wie für alles einen Schwarzmarkt: für geschmuggelte Zigarren, für Viagra-Pillen, für Hummer, ja sogar für Autos und auch für den Internet-Zugang. Legalen Zutritt zum World Wide Web hat nur eine ganz schmale Schicht von politischen Funktionären, Geschäftsleuten und Wissenschaftlern. Viele von ihnen verkaufen den Zugangscode gegen eine stattliche Monatsgebühr.
Zuhause hat Cadelo keinen Zugang zum Internet. Würde sie sich einen besorgen, könnte dies dem Regime den Vorwand liefern, ihren Blog zu schließen. „Wer sich auf die Korruption einlässt“, sagt sie, „macht sich zudem auch erpressbar.“ So lädt sie ihre am Küchentisch auf dem Laptop niedergeschriebenen Gedanken, Eindrücke, Informationen jeden zweiten Tag auf einen UBS-Stick, läuft zu einem internationalen Hotel mit Internet-Anschluss und schickt die Beiträge an einen Freund im Ausland, der ihren neuesten Post ins Internet hängt. Da berichtet sie dann über das Elend in den illegal errichteten Siedlungen, die es offiziell gar nicht gibt, weshalb sie auch weder Strom noch fließendes Wasser haben. Oder sie stellt ein Foto von Luis Eligio ins Netz, der jüngst in polizeilichen Gewahrsam genommen wurde, weil auf seinem T-Shirt stand: „Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit“.
Zwar ist in Kuba Cadelos Blog (octavocerco@blogspot.com), der auch in englischer, französischer und portugiesischer Sprache erscheint, gesperrt, doch wird er auf der Insel trotzdem mehr gelesen, als den Machthabern lieb sein kann. In Kuba zirkulieren Abertausende von CDs mit Musik, die man nirgendwo kaufen kann, mit TV-Filmen, die heimlich per Satellitenschüssel empfangen wurden, und mit Blogs, die offiziell gesperrt sind.
Ob sie von der Seguridad, der kubanischen Stasi, bespitzelt wird? Ob ihr Telefon angezapft wird? „Das ist mir egal“, sagt Cadelo achselzuckend, „aber ich denke, die können ja nicht alle und alles abhören. Die müssen doch auch sparen.“ Dann klingelt der Apparat. Es ist Pablo Pacheco. Cadelo legt ein Aufnahmegerät neben den Telefonhörer und deckt beides mit einem Baseballcap ab, um Nebengeräusche auszuschalten. Pacheco ist unabhängiger Journalist und sitzt in Ciego de Ávila – über 400 Kilometer östlich von Havanna – im Gefängnis. Im Jahr 2003 wurden 75 unabhängige Journalisten und Menschenrechtler zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Noch immer sind 50 von ihnen in Haft, unter ihnen Pacheco. Er wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt – auf Grundlage des „Gesetzes zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit“, das die Zusammenarbeit mit den USA bei deren Bemühen, in Kuba die Konterrevolution zu fördern, unter Strafe stellt. Pacheco hatte für eine inoffizielle kubanische Presseagentur in Ciego de Ávila gearbeitet. Amnesty international geht davon aus, „dass seine Verhaftung und Verurteilung politisch motiviert waren und sich gegen seine legitimen journalistischen Aktivitäten und die friedliche Ausübung seiner Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit richteten“, und hat ihn als „gewaltlosen politischen Gefangenen“ adoptiert.
Vielleicht darf er deshalb seine Texte durchtelefonieren, um seinen eigenen Blog „Voz tras las rejas“ („Stimme hinter Gittern“) zu speisen. Heute meldet er sich mit einem Beitrag über das Konzert des kolumbianischen Rock-Sängers Juanes zu Wort, der zusammen mit einer Reihe weiterer international bekannter Musiker Ende September in Havanna vor über einer Million Menschen auf dem Platz der Revolution aufgetreten ist. Der Häftling kritisiert die engstirnigen Exilkubaner, die Juanes vorwarfen, sein Konzert habe das kommunistische Regime aufgewertet. „Wenn uns Juanes mit seiner Musik erfreut, tut er es nicht, um Obama, Uribe, Chávez oder Raúl Castro zu gefallen“, diktiert Pacheco ins Telefon, „wenn wir uns der Welt gegenüber öffnen wollen und wenn wir wollen, dass sich die Welt uns Kubanern gegenüber öffnet, müssen wir lernen, tolerant zu sein.“ Möge sich Kuba der Welt öffnen und die Welt sich öffnen für Kuba! Die Sätze kennt jeder Kubaner. Papst Johannes Paul II. hatte sie 1998 auf dem Platz der Revolution gesprochen. Er hatte fast so viele Zuhörer wie Juanes gehabt.
Heute wird Cadelo den Beitrag Pachecos weiterleiten. Das nächste Mal wird der Häftling vielleicht bei Eugenio Leal anrufen, dem Chemiker, Theologen und bekennenden Freimaurer, der in seinem Blog „Veritas“ Meinungsforschung betreibt – dies in einem Staat, in dem es keine seriöse Daten über die Akzeptanz von Politik und Politikern gibt und der seine Statistiken weithin geheim hält. So hat Leal mit seinen 15 Mitarbeitern beispielsweise 338 zufällig ausgewählte Personen befragt, was sie sich von Raúl Castro und was von Barack Obama erhoffen. Bei 487 Personen fragte die Gruppe nach, ob sie mit dem kommunistischen System Kubas zufrieden oder unzufrieden sind, ob sie es verbessern (42%) oder abschaffen (51%) wollen.
Pacheco könnte sich auch bei Miriam Celaya melden, die ihren Blog „Sinevasión“ (etwa: ohne Ausflucht) nennt, seit sie nicht mehr unter Pseudonym, sondern unter ihrem wirklichen Namen schreibt. Oder bei Reinaldo Escobar („Desde aquí“ – „von hier aus“), der immer wieder genüsslich mit scharfer Zunge und Esprit die absurden Auswüchse eines moribunden Systems schildert. Oder auch bei der inzwischen weltbekannten und vielfach preisgekrönten Bloggerin Yoani Sánchez („Generación Y“). Sie alle haben sich in der Bloggerplatform „Voces cubanas“ („Kubanische Stimmen“) zusammengeschlossen und auch Pacheco in ihren Kreis aufgenommen.
In Kuba sind sämtliche Massenmedien einer strikten Kontrolle unterworfen. Fernsehsender und Radio gehören dem Staat. Der Besitz von Satellitenschüsseln ist strafbar. Es gibt drei Zeitungen mit nationaler Verbreitung: Die „Granma“, das Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, das mit dem „Neuen Deutschland“ zu Zeiten der DDR vergleichbar ist und aus dem man über das real existierende Kuba so gut wie gar nichts erfährt; dann gibt es „Trabajadores“, das Organ der Gewerkschaftszentrale, das ebenso informativ ist wie das Blatt der Partei; und schließlich „Juventud Rebelde“ („Rebellische Jugend“), das Organ der Parteijugend, das auf der Straße vornehmlich alte Männer zur Aufbesserung ihrer kargen Rente verkaufen. In dieser medialen Einöde kommt den rund 40 unabhängigen Blogs, die unter Klarnamen in Kuba selbst produziert werden, eine zunehmende Bedeutung zu.
„Die Technologie“, schreibt Claudia Cadelo in ihrem neuesten Post, „wird auf der Insel immer deutlicher zur größten Gefahr: Computer, UBS-Sticks, SIM-Karten sind die neuen Helden auf den schwarzen Listen der Staatssicherheit (…) Für den Staat ist das Internet nicht ein Medium der Kommunikation im Dienst der Bürger, sondern eine Waffe der ‚Konterrevolution’. Wir sind an einem Punkt angekommen, bei dem sich der Fortschritt in ein Risiko für den Status quo verwandelt hat.“
Das stimmt gewiss. Doch ist ungewiss, wie die Verteidiger des Status quo, der Machtapparat, der bislang geradezu obsessiv alle und alles seiner Kontrolle zu unterwerfen versucht, mit diesem Risiko umgehen wird. Werden die mutigen Blogger als diejenigen in die Geschichte eingehen, die eine Bresche für die Informationsfreiheit geschlagen und einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft den Weg geebnet haben, oder werden sie die nächsten Opfer einer versteinerten Revolution sein?
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.10.2009
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