ALAMAR. Plattenbauten, so weit das Auge reicht. Alamar, ein Vorort Havannas, wurde in den 70er-Jahren im Osten der kubanischen Hauptstadt aus dem Boden gestampft. Die neue Stadt wurde dem Neuen Menschen gewidmet. Dem Neuen Menschen, wie ihn Che Guevara so eindringlich beschworen hatte: selbstlos, nur dem Gemeinwohl verpflichtet, „in seine Fabrik verliebt“ und notfalls eine „eiskalte Killermaschine“. Antonio José Ponte, der sich nach seinem Ausschluss aus dem kubanischen Schriftstellerverband 2007 ins Exil absetzte, beschrieb Alamar so: „Der einzige Schmuck dort war der rechte Winkel. Für Gärten und Parks war später Zeit. Es war besser, wenn sich erst mal kein Baum zwischen den Gebäuden erhob, zwischen den Genossen sollte Offenheit herrschen.“
Heute ist Alamar eine typische Schlafstadt und hat 150 000 Einwohner. Es gibt keinen Friedhof, keine Kirche, keine Industrie, nur ein Kino, das seit einem Jahr geschlossen ist, weil das Dach einzustürzen droht. Die Leute hier sind vorwiegend schwarzer Hautfarbe, viele sind aus dem Oriente, dem Osten des Landes, zugewandert. Man nennt sie „Palästinenser“. Oft leben sie illegal in Alamar, weil es in Kuba keine Niederlassungsfreiheit gibt. Die Binnenwanderung ist gesetzlichen Restriktionen unterworfen. Sonst würde Havanna, wo die Versorgung besser ist als in der Provinz, das Überleben leichter, das Klima offener und das kulturelle Angebot größer, wohl längst aus allen Nähten platzen.
Gegen das Tabu des Rassismus
Alamar, wo vor 30 Jahren auch zahlreiche politische Flüchtlinge aus südamerikanischen Diktaturen Zuflucht fanden, hat keine Neuen Menschen hervorgebracht. Aber die Betonwüste, in der einige Oasen von Kiefern für farbliche Abwechslung sorgen, hat doch Früchte getragen. Sie wurde zur Wiege der kubanischen Rap-Kultur. Hier tauchten die ersten kubanischen Rapper auf, die Raperos. Schwarze Jugendliche hatten eine künstlerische Form und ein Milieu gefunden, in dem sie ihrem Unmut Luft machten. Es war zu Beginn der 90er-Jahre. „Die Raperos waren die ersten, die das Tabu des Rassismus brachen“, sagt Balesy Rivero, der selber der Band Grupouno angehörte und 1995 das erste Rap-Festival von Alamar organisierte. „Warum hältst du mich an, Polizist? Ist es, weil ich schwarz bin?“, heißt es in einem berühmten Song. Es gibt auch im revolutionären Kuba tradierte Vorurteile gegenüber den Schwarzen, die in der Regel den unteren Gesellschaftsschichten angehören, während andererseits in Politbüro und ZK, in Staatsrat und Ministerrat die helle Hautfarbe eindeutig dominiert.
Balesy Rivero hat sich inzwischen vom Rappen aufs Dichten verlegt. Er gehört dem Künstlerkollektiv Omni Zona Franca an, in dem sich in Alamar eine Gruppe von Malern, Musikern, Dichtern und Performern zusammengeschlossen hat. Das Kollektiv trifft sich regelmäßig im Kulturzentrum der Stadt, wo ihr ein Atelier und ein Versammlungsraum überlassen wurden. „Wir arbeiten unabhängig vom offiziellen Kulturbetrieb“, beteuert Amaury Pacheco, ein Konzeptkünstler mit Dreadlocks, lila Stofffetzen über dem nackten Oberkörper und einem olivfarbenen Rock, der bis zu den Knöcheln reicht. Pacheco zeigt auf dem Laptop Videoclips über seine Straßenaktionen und Performances. Eine trägt den Titel „Drei Stunden Rede“ – eine Anspielung auf den Dauerredner Fidel Castro. Die Polizei setzte dem Spektakel ein Ende.
Reynor ist zu Besuch ins Kulturzentrum gekommen, ein 1,90 Meter großes Energiebündel mit scheppernder Stimme, wahrscheinlich eine Spätfolge jahrelanger Überbeanspruchung seiner Stimmbänder. In Alamar kennen sie ihn alle. Reynor war Leader der Rap-Band Explosión Suprema, die hier Geschichte geschrieben hat. Heute lebt er mehr in Spanien – er ist mit der andalusischen Hip-Hop-Sängerin La Mala Rodríguez verheiratet – als in Alamar, wo seine Mutter noch immer in einem Plattenbau wohnt.
„Wir sangen von den wirklichen Problemen, von den engen Wohnungen, von Hunger, von sexuellen Nöten und Prostitution, von Gewalt und der Angst der Schmuggler vor der Polizei“, erinnert sich Reynor, „und all das in einer derben Gossensprache. Man nannte uns Motherfucker, weil wir das Wort so oft benutzten.“
Den Behörden wurde es bald zu bunt, und die Explosión Suprema wurde nirgends mehr zugelassen. Da alle öffentlichen Räume, ob Konzerthallen, Schulen, Sporthallen, Straßen oder Strände, dem Staat gehören, war das ein Auftrittsverbot. „Doch wir haben uns durchgesetzt“, sagt Reynor, „weil wir das hinausschrien, was die Jugend hier, die schwarze Unterschicht, hören wollte. Fast alle Raperos waren Schwarze. Wir waren sehr aggressiv, schnörkellos, underground.“ In den besten Zeiten gab es wohl über 500 Rap-Bands allein in Havanna.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Um die Raperos ist es etwas einsam geworden. Ihr hämmernder Sprechgesang wurde längst vom Reguetón verdrängt, wie die kubanische Variante des Reggaeton heißt. Es ist eine Musikrichtung, die auf Reggae aufbaut, in Panama entstand, über Puerto Rico nach Kuba gelangte und sich hier mit Salsa und Timba vermischte. Salsa und Son hören allenfalls noch die Alten und Touristen. Der Rap hat sich in eine Nische zurückgezogen.
Längst hat der Reguetón (oder Cubatón) den öffentlichen Raum erobert. Seine Ohrwürmer, entstanden in Alamar, hört man heute auch in den feineren Vierteln Havannas. „Der Reguetón“, sagt Reynor etwas abschätzig, „ist Kommerz, in gewisser Weise zwar provokativer als Rap. Aber ich bleibe beim Rap. Ich werde den Rap nie verraten.“ Die meisten Reguetoneros waren früher Raperos. Viele Raperos witterten im Reguetón eine Zukunft, Musik, die sich versilbern lässt.
Allein in Alamar, von wo aus der Reguetón die Insel erobert hat, gibt es heute etwa 70 Reguetón-Bands. Los Alcaldes (Die Bürgermeister) ist eine von ihnen. Ihr Studio haben die vier jungen Männer, die alle ein blaues T-Shirts mit Che-Guevara-Porträt tragen, im vierten Stock eines Plattenbaus. Der Aufnahmeraum, eine Kabine, ist mit Eierschachteln gegen Lärm abgeschirmt. In einem zweiten Raum stehen ein Desktop, ein Laptop und ein Mischpult. Das ganze Studio ist auf zehn Quadratmetern untergebracht. Schon an die 50 Auftritte hatten die Alcaldes, die sich erst vor anderthalb Jahren zusammengefunden haben, in Alamar. Doch Gagen gibt es keine. Eintritt wird nicht bezahlt. Mal spielt man in einer Turnhalle, mal in einem Versammlungsraum, mal auf dem Dach einer Zisterne. Immer mit staatlicher Genehmigung.
Den Erfolg des Reguetón erklärt Bandleader Rodanse so: „Rap regt zum Denken an, Reguetón zum Tanzen. Rap ist underground, Reguetón ein Fest.“ Der Rap war politisch anstößiger. „Doch in gewisser Hinsicht ist Reguetón eben provokativer“, meint wie Reynol auch Yosbel, der Sänger der Band. „In welcher Hinsicht?“ – „Sinnlicher.“
Knapp verhüllte Pobacken
Dann legt er eine DVD mit der Aufnahme eines Konzerts ein. Was Yosbel als „sinnlich“, bezeichnet, könnte man auch mit „obszön“ übersetzen. Nur knapp verhüllte weibliche Pobacken, die sich zuckenden männlichen Hüften entgegenrecken. Simulierte Paarung. Die Texte sind nicht weniger deutlich. „Das ist es, was die Leute eben sehen wollen“, sagt der 20-jährige Rodanse achselzuckend, als ob er eigentlich lieber Opern komponieren und Arien singen würde.
Spätestens nächstes Jahr wollen die Alcaldes den Sprung von Alamar ins 15 Kilometer entfernte Havanna schaffen. „Und übernächstes Jahr spielen wir in Miami“, frotzelt Yosbel und glaubt wohl selbst nicht daran. Immerhin, schon zwei CDs hat die Band produziert, jeweils in einer Auflage von hundert Stück. Die Musiker verkaufen oder verschenken sie an Freunde, die sie wiederum kopieren und weiterverkaufen. Zehntausende, vielleicht hunderttausende CDs mit Reguetón zirkulieren in Kuba. In den Musikgeschäften findet man sie kaum.
Nur wenige Gruppen wie Gente de Zona (Leute aus dem Kiez), Eddy K oder Maxima Alerta (Höchste Alarmstufe) haben den Durchbruch geschafft. „All die Jungen hier, die auf Reguetón machen, viele von ihnen noch Kinder“, hatte Reynor gesagt, „träumen von einer Karriere wie jener Alexanders.“ Alexander ist Komponist und Sänger von Gente de Zona. Für ein Konzert der Band, die auch schon auf Europa-Tournee war, zahlt man heute in Kuba in der Regel mehr als den durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet zwölf Euro.
Alexander, aufgewachsen in Alamar, wohnt heute in La Playa, einem Nobelviertel von Havanna. Der Traum vieler junger Musiker aus Alamar ist nicht nur die große Bühne, sondern eine Zukunft jenseits der tristen Plattenbauten, in denen der Neue Mensch entstehen sollte.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.11.2009