Mitten im Gewirr der engen Gassen der Medina von Marrakesch, just gegenüber der Medrese Ben Youssef, der einst grössten Koranschule des Maghreb, steht das „Dar Bellarj“, zu deutsch „Haus der Störche“. Es ist ein alter Fondouk, wie die Karawansereien in Marokko genannt werden. Hier wurden einst kranke Vögel gepflegt. Es war eines der letzten Tierspitäler Nordafrikas. Auf die heutige Verwendung weist ein Schild auf der Aussenmauer hin: „Fondation pour la Culture au Maroc“. Die Stiftung wurde vor drei Jahren von der Thurgauer Architektin Susanne Biedermann gegründet. Zweimal jährlich trifft sich hier im Patio des Gebäudes die „Bürgerkarawane“.
Auch diesmal ist wieder eine bunte Mischung zusammengekommen:
Hanane Regraguia, eine wunderschöne Frau aus der Küstenstadt Essaouira, 62 Jahre alt, im farbigen Gewand der Berberinnen, eine Malerin, die als Jugendliche heimlich malte. „Die Malerei war mein geheimer Garten“, sagt die Frau, die als Mädchen nicht auf die Strasse durfte und eines Tages durch das Fenster den Traummann ihres Lebens erblickte, aber natürlich mit einem andern verheiratet wurde. Über den Schicksalsschlag half ihr der „geheime Garten“ hinweg.
Jamila Hassoune, 37 Jahre alt, eine Buchhändlerin aus Marrakesch, von der noch die Rede sein wird.
Mohamed Ali Khoumani, der Touristen Wüstentrips auf Kamelen anbietet.
Fatna El Bouih, eine heute 46 Jahre alte Mittelschullehrerin, die sich als 17-jährige der unabhängigen und deshalb illegalen Schülergewerkschaft anschloss und Flugblätter verteilte, was sie mit Folter, sieben Monaten Geheimhaft und fünf Jahren Gefängnis bezahlte.
Bäuerinnen, die Teppiche knüpfen; Ex-Häftlinge, die Gerechtigkeit und Aufklärung einfordern; Studentinnen, Hausfrauen, Künstlerinnen, die Marokko verändern wollen.
Die „Bürgerkarawane“ besteht vor allem aus Frauen. Aber auch Männer werden willkommen geheissen.
Und dann sind da die Gäste: Unter anderen Greta Tüllmann, eine Frau aus München mit feuerroten Haaren, die seit 13 Jahren in Eigenregie eine kluge Zeitschrift herausgibt, die den kurzen Titel „ab 40“ trägt und sich an nicht mehr ganz junge Frauen richtet; Bianca Bäumler, eine polyglotte Deutsch-Amerikanerin vom „Institute for Cultural Diplomacy“, wie ihre Visitenkarte verkündet; Odile Gordon-Lennox von der Genfer Organisation „Frauen für den Frieden“; Elisabetta Bartuli, Spezialistin für orientalische Literatur aus dem norditalienischen Vicenza. Auch der Reporter der „Weltwoche“ ist zu Gast.
Wo so viel unterschiedliche Lebenswelten aufeinander treffen, bedarf es der Vermittlung. Fatima Mernissi, die berühmteste Schriftstellerin und bekannteste Intellektuelle Marokkos, schafft es spielend. Sie bringt zusammen, stellt vor, vernetzt Erfahrungen. Seit kurzem hat sie eine eigene Web-Site (www.mernissi.net). Dort sind ihre zahlreichen Bücher über Frauen, Islam, Zivilgesellschaft und Demokratie, übersetzt in 26 Sprachen, aufgelistet. Dort könnte sie ja auch, meint sie, über einen Link Fatima El Geddars Teppiche anbieten – zu kaufen via Internet, hundert Dollar das Stück. Die Augen der Weberin, die ihr Haar unter einem Kopftuch versteckt hält, leuchten auf. „Das ist nicht viel“, belehrt sie Mernissi, „immerhin arbeitest du ja einen Monat lang an einem Tepprich.“ In Taznakht, einem gottvergessenen Nest im Hohen Atlas, sind hundert Dollar ein Vermögen.
Fatima Mernissi, die als Soziologin an der Universität Rabat arbeitet, ist zweifellos eine charismatische Persönlichkeit: klug, optimistisch und – trotz ihrer 60 Jahre – unglaublich vital. Sie redet gern, kann aber auch zuhören und nachfragen. Sie ist gewissermassen die Mutter der Bürgerkarawane, oder ihre Mentorin zumindest. Denn mindestens so viel Verdienst an der „Caravane civique“, die sich Mitte April zum sechsten Mal in Marrakesch zusammengefunden hat, um in die Berberdörfer im Hohen Atlas aufzubrechen, kommt einer andern Frau zu: Jamila Hassoune, die in der Stadt einen kleinen, aber feinen Buchladen führt. Sie stammt aus Figuig, einem Dorf, das irgendwo in der marokkanischen Wüste liegt, „da wo ein Buch so selten ankommen wie der Regen“.
Irgendwo in den Bergen des Hohen Atlas sind sich die beiden Frauen begegnet. Das war 1996. Fatima Mernissi war im Auftrag der Weltbank unterwegs, um über ländliche Entwicklung und Demokratisierung zu recherchieren. Jamila Hassoune zog mit ihren Büchern durch die Gegend – in ihrer Klappermühle über holprige Strassen oder mit dem Maulesel über steile Pfade in abgelegene Weiler. 1995 hatte sie den „Literaturclub für junge Leute auf dem Land“ gegründet. Seither streift sie regelmässig durch den Hohen Atlas, um die Dörfer mit Büchern zu versorgen – auch mit Schulbüchern, weil viele Kinder bloss deshalb nicht zur Schule gehen, weil ihre Familien das Geld fürs Lehrmaterial nicht aufbringen. Jamila Hassoune macht Sonderpreise. In Marokko beträgt die Analphabetenrate 50 Prozent, das ist weit mehr als in Algerien oder Tunesien, den beiden andern Maghreb-Staaten. Auf dem Land beträgt sie sogar 80 Prozent und bei den Frauen auf dem Land über 90 Prozent.
„Seit fast einem halben Jahrhundert ist Marokko unabhängig, aber für uns hat der Staat in all diesen Jahren nichts getan“, wettert Ahmed Bouysek, „bis vor drei Jahren hatten wir weder fliessendes Wasser noch Elektrizität noch eine Schule“. Mit unverhohlenem Stolz zeigt er der Karawane, die nach Tagadir, in sein Dorf, gekommen ist, was die „Association“, deren örtlicher Präsident er ist, alles aufgebaut hat. Von der Plattform des Wasserreservoirs herab spricht er zu der bunten Truppe aus Marrakesch, die vor der zauberhaften Kulisse des Dschebel Toubkal, des höchsten Bergs von Marokko, andächtig zuhört. „Vor einem Jahr noch schleppten die Frauen in regenarmen Zeiten das Wasser von einer zwei Wegstunden entfernten Quelle ins Dorf. Und heute?“ Seitdem ein 76 Meter tiefes Loch gebohrt wurde, um das Grundwasser anzuzapfen, hat jedes dieser armseligen Häuser aus gestampftem Lehm seinen eigenen Wasserhahn. Umgerechnet 60 Rappen bezahlen die Dörfler für die ersten tausend Liter. Mit steigendem Konsum steigt der Preis überproportional an. Doch die Leute sind ohnehin gewohnt, mit dem kostbaren Nass sparsam umzugehen.
In Aguerd, einem Dorf in 1.800 Meter Höhe, das nur über einen einstündigen Fussmarsch zu erreichen ist, gibt es noch immer kein fliessendes Wasser in den Häusern. Aber immerhin wurde von einer Quelle hoch oben in den Bergen ein zwei Kilometer langes Rohr verlegt. Und nun darf am gemeinsamen Brunnen jede Familie alle 18 Tage zehn Minuten lang ihre Kanister und Töpfe füllen. Vor einem Jahr erst wurden das Dorf ans Stromnetz angeschlossen. Seither gibt es auch Fernsehen und an fast allen Häusern eine Satellitenschüssel. „Nur wenn wir die Isolierung der Dörfer durchbrechen“, sagt Saadia Jabale, „wird es uns gelingen, die Abwanderung der Jugendlichen zu stoppen und eine eigene Entwicklungsdynamik auf dem Land in Gang zu setzen.“ Die 25jährige Wirtschaftswissenschaftlerin aus Marrakesch macht sich jeden Tag in die Berge auf und wandert oft stundenlang durch die einsame Berglandschaft, um eine Reihe von Projekten zu betreuen, die sie in den entlegensten Dörfern auf die Beine gestellt hat. Die schwarze Berberin, deren langes Haar in Dreadlocks über den Rücken fällt, kommt aus dem Süden Marokkos, doch versteht sie auch die Berber-Dialekte im Hohen Atlas, wo viele bis heute des Arabischen nicht mächtig sind. Ihr Lieblingsprojekt in Aguerd ist ein „biologischer Garten“, in dem mit verschiedenen Gemüsearten experimentiert wird und auch der Amaranth wächst, eine Pflanze aus den südamerikanischen Anden, die neben zahlreichen Vitaminen fast alle Spurenelemente vereinigt, die der menschliche Körper braucht.
In den letzten fünf Jahren ist im Hohen Atlas, einem der rückständigsten Gebiete des rückständigen Marokko, fast ohne jede staatliche Hilfe ein erstaunlicher Entwicklungsprozess in Gang gekommen. Über 50 Dörfer wurden ans elektrische Netz angeschlossen, erhielten eine Wasserversorgung, ein Schulwesen und Zugang zu ärztlicher Versorgung. All dies ist das Werk von „associations“, privaten Hilfswerken, so genannten Nichtregierungsorganisationen (NGO), die in Marokko im letzten Jahrzehnt zu Tausenden entstanden sind. Die Strukturanpassungsprogramme“, die die internationalen Finanzinstitutionen den Ländern der Dritten Welt als Bedingung für Kredite aufzwingen, bedeuten immer auch, dass sich der Staat aus dem Wirtschaftsleben und aus dem gesellschaftlichen Sektor zurückzuziehen hat, sagt die Soziologin Fatima Mernissi, die selbst lange für die Weltbank gearbeitet hat. In Marokko springen immer mehr NGOs in die Lücke. Ihre Arbeit fällt auf umso fruchtbareren Boden, als sie hier unter den Berbern auf noch weitgehend intakte Sozialstrukturen trifft. Die „Tiwizi“, kollektive Arbeit zu gemeinsamem Nutzen, ist in der Dschema’a, der traditionellen Dorfgemeinschaft, fest verankert.
Aber natürlich brauchen auch die NGOs Geld für ihre Projekte. Die Anschubfinanzierung kommt vielfach aus Frankreich, nicht vom Staat, sondern von der „Association Migrations et Développement“. Die Vereinigung wurde bereits 1986 gegründet – von marokkanischen Gastarbeitern, die nach einer Fabrikschliessung in Savoyen auf der Strasse standen und wenig Lust verspürten, nach Marokko in ein Leben ohne Elektrizität und ohne fliessendes Wasser zurückzukehren. Neben der finanziellen Hilfe schickt die Organisation der Exil-Marokkaner, die inzwischen zahlreiche Zweigstellen unterhält, auch technische Experten in die Heimat.
Es herrscht Aufbruchstimmung in den Dörfern des Hohen Atlas. Die Erfolge mögen bescheiden sein. Aber für die lange Zeit so vergessene Bergbevölkerung sind sie wichtig. Die „Bürgerkarawane“ kehrt abends wieder nach Marrakesch zurück. Man hat versprochen, Ärzte zu schicken, neue Bücher zu bringen, wieder zu kommen. Seit Jahren versucht Fatima Mernissi, die städtische Zivilgesellschaft mit der ländlichen Realität zu konfrontieren. Die nächste Karawane wird bereits vorbereitet. Die renommierte Schriftstellerin, die Intellektuelle mit internationaler Reputation aus der Grossstadt, steigt regelmässig zu den Analphabeten in den Berge hoch. Die Berber aus dem Hohen Atlas hingegen sagen immer noch „in Marrakesch oben“, wenn sie von der Stadt in der Ebene sprechen. Verkehrte Welt.
Thomas Schmid, April 2002 (vermutlich unveröffentlicht)
© Thomas Schmid