Rebellische Untertanen

Wenn er lacht, und er lacht oft, verzerrt sich für einen kurzen Augenblick die rechte Gesichtshälfte. Zur Begrüßung klappt Hamza Mahfoud sein Handy auf und zeigt ein Foto: Fünf Polizisten dreschen auf einen jungen Mann ein. „Das bin ich“, sagt er und lacht schon wieder, „zwei Tage lag ich danach im Koma, seither spüre ich auf der rechten Wange nichts mehr.“ Mahfoud, 25, gehört zum Führungszirkel der „Bewegung 20. Februar“, die nach der Jasmin-Revolution in Tunesien und der Revolte auf dem Tahrir-Platz in Kairo auch in Marokko für einen arabischen Frühling sorgte. 

Jede Woche bekommt Mahfoud zwei Schreiben der Staatsanwaltschaft, in denen ihm förmlich untersagt wird, an Demonstrationen teilzunehmen. Zweimal pro Woche demonstriert der diplomierte Philosoph, der Kant, Hegel und Nietzsche studiert hat, trotzdem: zuletzt am Samstag für die Freilassung von Mouad Belghouat und am Sonntag für den Boykott der Wahlen.

Mouad Belghouat alias el-Haket (der Empörte) ist ein Rapper, der schon seit dem 9. September ohne Anklage hinter Gittern sitzt. Die Wände seines engen, nun verwaisten Zimmers in der Wohnung seiner Eltern in Oukacha, einem heruntergekommenen Viertel an der Peripherie der marokkanischen Hafenstadt Casablanca, sind voll gekritzelt mit Solidaritätsadressen seiner Freunde. „Solange ich lebe“, dichtete el-Haket, „kann der König nicht hoffen, dass eines Tages sein Sohn das Königreich erben wird.“ Das ist in Marokko Majestätsbeleidigung. Aber in Oukacha kennen schon die Halbwüchsigen den frechen Sprechgesang des Rappers. Sie summen ihn auf der Demonstration, während Mahfoud auf die Schultern eines Mannes klettert, sich das Mikrofon reichen lässt, Parolen schreit, die von den tausend Menschen wiederholt werden, die Samstagnacht bei strömendem Regen durch Casablanca ziehen.

Der König ist populär

König Mohammed VI. hat im arabischen Frühling schnell reagiert. Am 20. Februar kam es in Marokko zu ersten Massendemonstration für Demokratie. Am 9. März kündigte der Monarch in einer öffentlichen Rede eine Verfassungsreform an, die Anfang Juli plebiszitär verabschiedet wurde. Doch es war keine Reform, nur ein Reförmchen. Der König ist weiter allmächtig. Er bestimmt den Regierungschef, der immerhin künftig der stärksten Parlamentsfraktion angehören muss. Er sitzt dem Hohen Rat der Justiz vor und dem Ministerrat, er ernennt die Gouverneure. Er ist Oberkommandierender der Armee, und über eine Holding kontrolliert er auch mehr als die Hälfte der Wirtschaft. Er herrscht gleich dreifach über die Marokkaner: als Staatschef über die Bürger, als König über Untertanen und als „Emir der Gläubigen“ über die Muslime.

Mahfoud hält die Reform für Blendwerk. Seine „Bewegung 20. Februar“ fordert eine parlamentarische Monarchie nach spanischem Muster. Einige möchten lieber gleich eine Republik. Aber in Marokko ist der König durchaus populär, zudem macht sich strafbar, wer öffentlich für die Abschaffung der Monarchie eintritt. Strafbar macht sich auch, wer öffentlich zum Boykott der Wahl an diesem Freitag aufruft. Mahfoud und Zehntausende in ganz Marokko sind trotzdem jeden Sonntag auf die Straße gegangen und forderten dazu auf, der Wahl fernzubleiben, weil sie nur ein undemokratisches Herrschaftssystem festige. Manchmal setzt das Regime gegen die Demonstranten Baltajias ein, bezahlte Schlägerbanden, oft in den untersten Gesellschaftsschichten rekrutiert. Meistens aber lässt es die Bewegung einfach gewähren und hofft, dass sie sich totläuft.

Abdelilah Benkirane empfängt in Rabat, der Hauptstadt. Er wirkt, vielleicht wegen seiner Leibesfülle, wie ein Patriarch alten Stils, herzlich und doch unduldsam. „Schießen Sie los, Deutscher“, muntert er, gut gelaunt, den Besucher zu Fragen auf. Vor der „Bewegung 20. Februar“ hat er großen Respekt. Sie habe es geschafft, eine Verfassungsreform zu erzwingen. Aber ihr Ziel einer parlamentarischen Monarchie teilt er nicht. Benkirane ist Chef der islamistischen PJD. Sie könnte die Wahlen gewinnen.

Doch die Aufregung über die Perspektive eines islamistischen Regierungschefs hält sich in Marokko in Grenzen. Die PJD hat durchaus fundamentalistische Züge, ist aber eine gemäßigte Partei und schon seit über einem Jahrzehnt ins politische System eingebunden. Wo sie auf lokaler Ebene regiert, wird ihr Pragmatismus bescheinigt. Vor allem aber ist sie, genau wie alle anderen Parteien, schrankenlos loyal zum König, ohne dessen Segen kein Gesetz rechtskräftig wird. Man kann Benkirane kein kritisches Wörtchen über den Monarchen entlocken.

Sollte die PJD nun doch nicht stärkste Partei werden und doch nicht den Ministerpräsidenten stellen, so ist das möglicherweise einem 83 Jahre alten Mann zu verdanken, der sich in der Öffentlichkeit nie zeigt: Scheich Abdessalam Yassine. Seine islamistische Bewegung Al Adl Wal Ihsan (Gerechtigkeit und Spiritualität), die sufistische Mystik und Politik verbindet, ist in der Gesellschaft stärker verwurzelt als jede Partei. Sie hilft in Armenvierteln, wo der Staat versagt, mit Nahrung, Medikamenten und Ratschlag. Früher haben wohl viele Anhänger der Bewegung, die keinen legalen Status hat und sich um Wahlen nie kümmerte, die islamistische PJD gewählt. Nun aber ruft Al Adl Wal Ihsan zum Boykott.

Offizieller Sprecher ist Fath Allah Arsalan. Er hockt in seiner Dschellaba, dem traditionellen Männergewand, auf einem Kissen und serviert Tee. An der Wand über ihm hängt, eingerahmt, eine Koransure. Der gelernte Literaturwissenschaftler hat eine sanfte Stimme. „Schon bevor es die PJD gab“, sagt er, „wollten wir eine Partei gründen. Aber man ließ uns nicht zu, weil wir uns weigerten, uns zu unterwerfen.“ Der König verlangte, dass der Scheich ihn als Emir der Gläubigen anerkennt. Schließlich ist Mohammed VI. ein Scherif, ein direkter Nachkomme Mohammeds, des Propheten. Das aber behauptet der Scheich von sich auch.

Ob Marokko eine Monarchie bleibe oder eine Republik werde, sei unwichtig, sagt Arsalan, die Stimme des Scheichs. Nicht die Form zähle, sondern das Ziel, das man anstrebt. Der Wille des Volkes sei wichtiger als der Wille des Königs. Deshalb auch unterstützt Al Adl Wal Ihsan, deren Mitgliederzahl auf 100.000 geschätzt wird, die „Bewegung 20. Februar“, die Demokratie will. 

So zogen am Sonntag durch die Innenstadt Casablancas etwa zehntausend Menschen, die zum Wahlboykott aufriefen. Angeführt wurden sie von Hamza Mahfoud und seinen Freunden. Aber viele vermutlich die Mehrheit der Demonstranten trugen Kopftücher oder Bärte.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.11.2011

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