Coca-Cola für Mexiko

Vicente Fox redet viel und sagt wenig. Insofern ist er kein ungewöhnlicher Politiker. Doch andererseits hat er es wie keiner geschafft, was er zu sagen hat, auch knapp auszudrücken. Mit zwei Buchstaben kämpfte er um die Macht: „Ya!“ – „Jetzt reicht’s!“ Zwei Buchstaben gegen 71 Jahre. So lange hatte die mexikanische Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) die Macht inne – in der modernen Weltgeschichte nur von der KPdSU übertroffen, die 74 Jahre schaffte. Nun hat der Vielredner mit der knappen Botschaft das Ende des Regimes besiegelt, das der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einst für eine „perfekte Diktatur“ gehalten hat. Am 1. Dezember wird Fox die Präsidentschaft Mexikos antreten. Es waren die ersten freien und weitgehend auch fairen Wahlen im größten spanischsprachigen Land der Welt.

Viele Wähler sehen ihn als Erlöser aus ihrer Not
Fox aber gibt Rätsel auf. Er hat für die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) kandidiert, bezeichnet sich aber gerne als einen Liberalen der linken Mitte. Auch fühlt er sich Blair oder Clinton verwandt. Jedenfalls steht er für eine „moderne“ Politik, was auch immer das heißen mag. Mit seinen einfachen Losungen und Lösungen (den Krieg in Chiapas werde er in 15 Minuten beenden, tönte er schon vor Jahren), mit seinem Charme und Charisma, mit seinem populären Outfit (Sombrero und Cowboystiefel), mit seinem losen Maul (den PRI-Kandidaten Labastida bezeichnete er als Weichling und Transvestiten), mit einer Körpersprache, die Entschlusskraft und Erfolg gleichermaßen signalisiert und die er wie kein anderer Politiker beherrscht, mit seinen zum V (für victoria) gespreizten Fingern hat er die Herzen von Millionen Mexikanern im Sturm erobert. Für viele ist er zum Erlöser aus ihren Nöten geworden, für andere Träger ihrer Hoffnung, dass sich nun wenigstens irgendetwas ändert.
Aufgewachsen ist der in Mexiko-Stadt geborene Vicente Fox, der am Tag des Wahlsieges seinen 58. Geburtstag feierte, in León, einer Stadt im Bundesstaat Guanajuato, dessen Gouverneur er von 1995 bis 1999 war. Guanajuato ist gewissermaßen die Vendée Mexikos. Hier entstand in den späten zwanziger Jahren als Reaktion auf die antiklerikale Politik des nachrevolutionären Regimes eine von fanatischen Priestern angeführte katholische Bauernbewegung, der Movimiento Cristero. Dessen bewaffnete Verbände zogen unter dem Ruf „Viva Cristo Rey!“ („Es lebe der Christkönig“) mordend und plündernd durchs Land. Und Guanajuato war Anfang der vierziger Jahre auch das Zentrum der klerikalfaschistischen Bewegung der Synarchisten, militanter Gegner von Präsident Lázaro Cárdenas, der eine Bodenreform durchgeführt und die nordamerikanischen Erdölkonzerne enteignet hatte. In diesem unruhigen erzkatholischen Milieu wuchs der junge Fox auf. Die Geschichten, die man sich über den Movimiento Cristero erzählte, hätten ihn sehr beeindruckt, bekannte er später. Und noch in jüngster Zeit schloss er seine öffentlichen Ansprachen mitunter mit dem pathetischen Diktum eines Priesters jener Bewegung: „Wenn ich vorangehe, folgt mir! Wenn ich anhalte, stoßt mich! Wenn ich zurückweiche, tötet mich!“
Fox, noch immer gläubiger Katholik, ging bei den Jesuiten zur Schule, studierte später Betriebswirtschaft, bevor er 1964 bei Coca-Cola als einfacher Lieferant anfing und schließlich als Generaldirektor des Getränkekonzerns für ganz Mexiko endete. Auch seine engsten Freunde waren überrascht, als er diese Spitzenstellung 1979 aufgab und sich aufs Landgut seiner Familie zurückzog, um sich zusammen mit seinen drei Brüdern um zwei Lebensmittelfirmen zu kümmern. Ein drittes gründete er als Gouverneur von Guanajuato – möglicherweise war es nur eine Scheinfirma zur Finanzierung seines Wahlkampfs für die Präsidentschaft. In den letzten Tagen vor der Wahl tauchten jedenfalls Indizien auf, die darauf schließen lassen, dass die Firma Fox Brothers nichts produzierte, sondern nur Gelder über Dreiecksgeschäfte mit Banken in den Vereinigten Staaten abwickelte. Allerdings lässt sich nicht ausschließen, dass es sich bei den Enthüllungen letztlich um eine Intrige des abgehalfterten PRI handelte. In Mexiko – „so fern von Gott und so nahe den USA“, wie der Volksmund sagt – grenzt es allemal an Landesverrat, sich mit dem großen Bruder im Norden gemein zu machen.
Katholik und Unternehmer – bei Fox scheinen es zwei Seelen in einer Brust zu sein. Als katholischer Gouverneur von Guanajuato bestellte er den nationalen Präsidenten des fundamentalistischen „Verbandes der Familienväter“ zum Erziehungsminister. Der setzte prompt eine sexualfeindliche Bildungspolitik durch, brandmarkte außerehelichen Geschlechtsverkehr als Verstoß gegen die Regeln der zivilen Gesellschaft und stigmatisierte die Homosexuellen. Und als in Chihuahua, einem damals ebenfalls vom PAN regierten Bundesstaat, der Gouverneur einem vergewaltigten 14-jährigen Mädchen die Abtreibung verbot, begrüßte dies Fox mit den Worten: „Dieses Mädchen wird eines Tages ihren Sohn abgöttisch lieben.“
Im PAN, dem Fox erst 1988 beitrat, stieß sein Wahlkampf nicht nur auf Zustimmung. Ganz unbefangen revidierte der Kandidat Parteipositionen, die er sich einst zu Eigen gemacht hatte, und lehnte nun etwa eine Privatisierung der Erdölindustrie und religiösen Unterricht an den staatlichen Schulen rundweg ab. Gewichtige Kreise des Partei-Establishments, die um die konservative Tradition bangen, misstrauen dem künftigen Präsidenten.
Wie weit sich der Wahlsieger von seiner Partei emanzipieren will und kann, wird sich noch erweisen. Als Erstes hat er eine Regierung auf breiter Basis angekündigt. Auch die linke Opposition der Partei der Demokratischen Revolution von Cuauhtémoc Cárdenas, die landesweit nur etwa 17 Prozent der Stimmen erhielt, aber in der 18-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt weiterhin stärkste Partei ist, hat er zur Regierungsbeteiligung eingeladen. Sie wird das Angebot wohl ablehnen.
Ein kluger Schritt ist die Offerte trotzdem. Denn im Parlament wird die neue Regierung vermutlich über keine Mehrheit verfügen. Dies galt zwar auch schon für die alte, noch amtierende Regierung des PRI. Doch der ging es ja weniger um die Gestaltung der Politik als um die Verwaltung von Pfründen. Und dafür brauchte sie keine parlamentarischen Mehrheiten. Wenn der rechte Fox Mexiko tatsächlich ins 21.Jahrhundert führen will, braucht er ein Übereinkommen mit der Linken, um den zu erwartenden Widerstand im Staatsapparat zu brechen. Den PRI aber kann er getrost seiner letalen Krise überlassen.

Thomas Schmid – © DIE ZEIT 2000