Die Stadt an der Grenze

Come in, amigo! Come in! Chicas bonitas! Have a look! Table dance! Come in!“ Die Türsteher vor den Dancings, Topless-Bars und Striptease-Schuppen an der Avenida Revolución, der Hauptstraße von Tijuana, gehen zur Attacke über, sobald ein Gringo in ihr Blickfeld eintaucht. Jeden Abend kommen aus dem kalifornischen San Diego, wo es gesitteter und prüder zugeht, wo man erst ab 21 Jahren Alkohol ausgeschenkt kriegt, Horden von jungen Männern in die mexikanische Grenzstadt. In den engen, dunklen Gassen, nur wenige Häuserblocks von den Etablissements der Avenida entfernt, drängeln sich die Prostituierten, viele von ihnen eher Mädchen als Frauen. Aus den zahlreichen Spelunken plärren mexikanische Corridos, Mariachi-Musik, auch karibische Rhythmen. Hier muss sich der spanisch-französische Rock-Sänger Manu Chao herumgetrieben haben, als er reimte: „Welcome to Tijuana – tequila, sexo y marihuana!“

Das offizielle Tijuana begrüßt die amerikanischen Touristen anders. „Welcome to Tijuana, no policeman is authorized to accept money“, heißt es auf einem großen Straßenschild an der Avenida Revolución – „kein Polizist hat das Recht, Geld anzunehmen“. Die Stadtregierung warnt vor den eigenen Gesetzeshütern. Aus gutem Grund. Der Polizei geht der wohl verdiente Ruf voraus, korrupt bis in die Knochen zu sein. Eine Buße wegen Falschparkens kostet, wenn der Delinquent auf eine Quittung verzichtet, die Hälfte. Wer sich nicht ausweisen kann, muss mit zur Polizeistation – oder lässt einen Schein springen. Man gibt eben dem Polizisten eine „mordida“, einen „kleinen Bissen“, und wird in Ruhe gelassen. Mexikaner können ein Lied davon singen.
Doch jüngst ging es nicht mehr nur um diese gewissermaßen folkloristische Seite der Korruption. Am 10. Januar fanden Soldaten der mexikanischen Armee im Antidrogendezernat der Polizei von Tijuana fast fünf Tonnen Marihuana, deren Beschlagnahmung nirgends deklariert war, und zwei Männer, die offiziell gar nie festgenommen oder gar verhaftet worden waren. Es stellte sich heraus, dass José Miguel Uribe, Chef der Antidrogenpolizei, versprochen hatte, die beiden Brüder Otoniel und Jaime Díaz García, die zwei Tage zuvor mit ihrem Laster und der heißen Ware in eine Polizeikontrolle geraten waren, gegen Bezahlung von 2,5 Millionen Dollar samt ihrem Marihuana wieder auf freien Fuß zu setzen. „Ich hab dir schon gesagt, dass ich sie freilasse und dir die Ware zurückgebe, aber rück heraus, was ich von dir gefordert habe“, sagte er in einem abgehörten Telefongespräch mit einem Mann im fernen Guadalajara. „Gib mir Zeit“, bat jener, „ich werde zahlen.“ Uribe und sechs weitere Polizisten wurden festgenommen. Sie müssen sich nun wegen Erpressung und Entführung verantworten.
In politischen Kreisen der Hauptstadt sorgte die Razzia der Armee in Tijuana für ein mittleres Erdbeben. Wenige Tage danach löste die Generalstaatsanwaltschaft sämtliche Antidrogendezernate im ganzen Land auf. Doch in Tijuana zuckt man die Schultern. Niemand glaubt, dass es den Drogenbossen nun ernsthaft an den Kragen geht. Zu hohe Tiere sind ins Geschäft verstrickt. Da geht es um viel Geld, um sehr viel Geld. Allenfalls handelte es sich um eine Abrechnung zwischen Schurken. So der Tenor am Tequila-Tisch. Wie war das noch mit Joaquín Guzman Loera, den sie „El Chapo“ nannten? Über 50 Jahre haben sie dem Drogenboss aufgebrummt. Der ist im Hochsicherheitsgefängnis ganz nach Gusto ein- und ausgegangen, hat draußen zu einem Weihnachtsessen 50 Leute eingeladen. Eines Tages kehrte er einfach nicht mehr in den Knast zurück. Es ist etwa ein Jahr her. Nicht einmal das präzise Datum seiner Flucht kennt man, wenn man denn von einer Flucht überhaupt sprechen kann.
Das sind die Geschichten, die man in Tijuana hört und die auch den Stoff für die Narco-Corridos liefern. Die Corridos sind die traditionellen mexikanischen Balladen, in denen es meistens um Liebe, Ehre, Verrat und Tod geht. Ihre Protagonisten sind lokale Kaziken oder große Revolutionäre wie Emiliano Zapata oder Pancho Villa. Bei den Narco-Corridos, die auf tausenden CDs und Kassetten, Originalen wie Raubkopien, in Tijuana zirkulieren, geht es um Aufstieg und Fall von Drogenbossen, um schnellen Reichtum und schnellen Tod, um korrupte Polizisten und bestochene Richter, um schöne Frauen und harte Jungs. „Wenn du Geld hast, kaufe Waffen“, heißt es in einem Song der Gruppe „Canelos de Durango“, „und wenn du kannst, gleich die Regierung.“ Die „Tigres del Norte“ erzählen in ihrem „Circo“ die Geschichte der Brüder Carlos und Raúl, und jeder weiß, dass sie mit Nachnamen Salinas de Gortari heißen und einer von ihnen anfang der 90er-Jahre Präsident Mexikos war, während der andere wegen Wäsche von Drogengeldern noch immer einsitzt.
Fernsehen und Radio haben sich auf Druck der Regierung verpflichtet, keine Narco-Corridos mehr auszustrahlen. Man wolle der Verherrlichung von Gewalt und Drogenkriminalität keinen Vorschub leisten, heißt es offiziell. Ja, es gebe sogar Drogenbarone, die Corridos in Auftrag gäben, um von ihrem Ruhm zu künden, munkelt man, oder in den gesungenen Texten seien geheime Botschaften verborgen. „Alles vorgeschobene Argumente“, argwöhnt José Manuel Valenzuela, der unter dem Titel „Jefe de jefes“ (Boss der Bosse) gerade ein dickes Buch über die Narco-Corridos veröffentlicht hat, „Stein des Anstoßes ist vielmehr, dass in den Balladen immer wieder die Korruption der Behörden und die Kumpanei zwischen Regierung und Drogenmilieu thematisiert werden.“
Was verboten ist, macht bekanntlich gerade scharf. So zirkulieren nun Kassetten der „Tucanes de Tijuana“, der bekanntesten Corrido-Band der Stadt, mit einem roten Aufdruck: „prohibidos“, „verboten“. Zu kaufen sind sie ganz legal, überall in der Stadt, auch gegenüber dem Eingang zur Kathedrale, da wo Marienbildchen, Rosenkränze und Gipsfiguren von Jesús Malverde feilgeboten werden. Der war ein „Bandolero“, ein Out-law, ein Sozialrebell, ein Straßenräuber, der, von seinem besten Freund verraten, im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa 1909 erschossen wurde. Irgendwann mal hat er sich die Fama erworben, bei Reichen gestohlen und bei Armen verteilt zu haben. Und heute gilt er – niemand weiß genau, weshalb – als Schutzpatron der Rauschgiftdealer.
Manuel Cordero kennt die dunklen Seiten der Stadt wie kein Zweiter. Seit 26 Jahren arbeitet der drahtige Mann als Kriminalreporter. In der Lokalzeitung „El Sol de Tijuana“ schreibt er täglich eine Seite. Da geht es um Raub, Entführung, Vergewaltigung, Bestechung und natürlich immer wieder um Drogengeschäfte. Für seine Recherchen über den Mord am Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio in Tijuana im März 1994 hat er den nationalen Journalismus-Preis erhalten. Er wurde auch schon vor die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zitiert, um seine Aussagen über jene Polizisten zu bezeugen, die einem Bankräuber die kleine Zehe verbrannt hatten.
Informanten hat Manuel Cordero viele. Jahrelang hat er schließlich die Schüler der Polizei- und Militärakademie in asiatischen Kampfsportarten ausgebildet, ihnen gezeigt, wie man sich verteidigt, den Gegner festnimmt oder knock-outet. Ob er nicht Angst hat, dass ihn eines Tages das Schicksal von Hector Félix „El Gato“ ereilt? Der populäre Chefredakteur der in der Grenzstadt erscheinenden Wochenzeitung „Zeta“ hatte die Nase zu weit in den Sumpf der Korruption hineingesteckt und wurde 1988 erschossen. Seither wird er in dutzenden Corridos als Held besungen, „dessen Feder von Tijuana bis Madrid gefürchtet war“. Todesdrohungen erhält Manuel Cordero immer wieder. Einmal haben Unbekannte sogar auf sein Auto gefeuert. „Noch vor zehn Jahren waren wir Reporter alle bewaffnet, aber heute steckt keiner mehr seinen Revolver ein, wenn er auf die Straße geht“, sagt der Journalist, „a quien le toca, le toca.“ Wen es trifft, den trifft es.
Tijuana hat den Ruf, die kriminellste Stadt Mexikos zu sein. Alle scheinen aufs schnelle Geld aus zu sein. Nicht nur die Drogendealer und die Prostituierten profitieren von der Grenzlage der Stadt. Über tausend Zahnärzte haben sich hier niedergelassen und spekulieren auf Patienten aus San Diego, wo es ein Vermögen kostet, sich das Gebiss reparieren zu lassen. Hunderte von Apotheken leben von einer amerikanischen Kundschaft, die abhängig von Medikamenten ist und sich hier zu Billigpreisen eindeckt. Und Viagra gibt es – große Lettern an den Schaufenstern verkünden es – rezeptfrei.
Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten ins Uferlose gewachsen und zählt heute 1,3 Millionen Einwohner. Und jeden Tag treffen neue Zuwanderer aus dem Süden des Landes ein, die einfach nur auf eine Möglichkeit warten, irgendwo landeinwärts, in der Wüste, über den Grenzzaun zu steigen oder durch ein Loch zu schlüpfen. Auf dem zentralen Busbahnhof lungern Dutzende von „Coyotes“ oder „Polleros“ (Geflügelhändler) herum, wie die Schlepper hier genannt werden. Jedes Jahr überqueren etwa eine Million Mexikaner und Mittelamerikaner illegal die 3 141 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, die einzige Grenze, wo Erste und Dritte Welt aufeinander treffen. Etwa 350 000 von ihnen, so wird geschätzt, bleiben in den USA, die Mehrheit aber kommt zurück, wenn die Erntezeit auf den Plantagen Kaliforniens und Arizonas zu Ende ist, und versucht es in der nächsten Saison wieder. Und jährlich schieben die USA rund 250 000 Mexikaner über die Grenze ab. Im vergangenen Jahr waren es allein bei Tijuana über 50 000.
Rund 2 200 Migranten sind seit 1994, seit der Operation „Gatekeeper“ („Torwache“), an der Grenze gestorben. Damals verstärkten die USA die Grenzanlagen. In Tijuana und der näheren Umgebung, da wo früher die meisten Migranten durchschlüpften, gibt es kein Durchkommen mehr. Die Border Control patrouilliert im Streifen zwischen den zwei parallel verlaufenden Grenzzäunen mit Nachtsichtgeräten. Videokameras und Bodensensoren melden verdächtige Bewegungen. So weichen die Menschen eben in die Wüste aus, wo die Kontrolle laxer ist. Und seither gibt es auch viel mehr Tote an der Grenze. Viele erfrieren bei den ungewohnten nächtlichen Temperaturen in der Wüste, weil sie keine warme Kleidung besitzen. Andere verdursten oder ersticken in Containern oder geschlossenen Lastwagen, in denen sie von Schleppern an die Grenze gefahren werden.
Bevor sie sich auf den Weg in die Wüste machen, suchen viele noch einen kleinen Friedhof im Zentrum der Stadt auf, der nur durch eine Straße vom Grenzzaun getrennt ist. Dort liegt Juan Castillo begraben oder „Juan Soldado“, wie er genannt wird, der Schutzpatron der Migranten. Der Soldat wurde 1938 wegen der Vergewaltigung und Ermordung der neunjährigen Consuela Camacho verurteilt und füsiliert.
Am überdachten Grab von Juan Soldado liegen Blumen, Haarbüschel, Nahrungsmittel, Musikkassetten und Wasserflaschen. Der Heilige soll weder Hunger noch Durst leiden. Viele Votivtafeln zieren die Grabesstelle. Leute berichten von Wünschen, die in Erfüllung gegangen sind, und von Wundern, die sich ereignet haben. Viele haben ein Foto hinterlassen oder einfach einen Zettel mit einer Botschaft, verfasst in ungelenker Schrift. Es sind Männer, die Juan Soldado bitten, ihnen zu helfen durchzukommen. Es sind Frauen, die ihn anflehen, er möge ihnen ihre verschwundenen Männer zurückbringen. Hat Juan Soldado wirklich ein Mädchen vergewaltigt und ermordet? „Nein, es war ein General“, sagt der Friedhofswärter, „aber es musste eben ein Sündenbock her, um die Stadt, die nach dem Verbrechen in Aufruhr war, zu beruhigen.“ Historie und Wunsch vermischen sich zur Legende – wie in den Corridos, wie im wirklichen Leben von Tijuana.
Heute steckt keiner mehr den Revolver ein, wenn er auf die Straße geht. Wen es trifft, den trifft es.

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 26.04.2003