Neben den Arkaden stand ein Mann der Presse Rede und Antwort. Er war von weißer Hautfarbe und hob sich von den anderen ab. Er war schwarz gekleidet und trug einen Wollumhang, der ihn ziemlich korpulent erscheinen ließ. Wie alle andern auch verbarg er sein Gesicht mit einer schwarzen Wollmaske. Über seiner Brust kreuzten sich zwei Patronengurte, zudem trug er ein leichtes automatisches Gewehr. Am Gürtel steckte ein Funkgerät. Die Personen, die um ihn herumstanden, hörten, dass seine Leute ihn Kommandant oder Subkommandant nannten. Er war anders als alle andern.
Ein Tourist schaute ihn besorgt an. „Werdet ihr uns gehen lassen?“ fragte er. „Weshalb wollt ihr denn weg?“ fragte der Mann mit der Wollmaske ironisch zurück, „amüsiert euch doch in der Stadt.“ Einige fragten lautstark, ob sie mit dem Auto nach Cancún fahren könnten. Alle redeten nun durcheinander. Ein Führer einer Touristengruppe schrie genervt, er müsse nun seine Leute zu den Ruinen von Palenque bringen und könne nicht weiter warten. Da verlor Marcos seine Geduld, aber nicht seinen Humor. „Der Weg nach Palenque ist gesperrt“, sagte er, „entschuldigen Sie bitte die Störung, aber das hier ist eine Revolution!“
So schildert der Publizist Carlos Tello Díaz das, was sich am Neujahrstag 1994 in San Cristóbal des las Casas im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas abspielte. Hunderte schlecht bewaffneter Indios hatten – zur allgemeinen Verblüffung – das hübsche Kolonialstädtchen besetzt. Niemand hatte von der Existenz einer Guerilla in Mexiko etwas geahnt. In Berlin war die Mauer gefallen, in Nicaragua hatten die Sandinisten die Wahlen verloren, in El Salvador hatte die Guerilla einen Frieden geschlossen – und nun diese Desperados in Chiapas. Sie schienen aus einer andern Zeit zu kommen, das Kapitel „Guerilla“ war doch längst abgeschlossen. Wer aber sind diese Zapatisten, diese vermummten Krieger, die vor sieben Jahren die Weltöffentlichkeit überraschten und die in diesen Tagen fast auf dem gleichen Weg wie einst Emiliano Zapata, quasi in den Fußstapfen des großen Revolutionärs, allerdings auf Rädern, auf Mexiko-Stadt marschieren? Sind es „bewaffnete Reformisten“, wie Jorge Casta eda, mexikanischer Außenminister, meint? Oder sind es „demokratische Revolutionäre“, wie der französische Soziologe Alain Touraine behauptet? Oder „Libertäre mit patriotischer Gesinnung“, wie der französische Schriftsteller und Ex-Guerillero Régis Debray vermutet? Und wer ist Marcos? Ein postmoderner Guerillero oder ein Altlinker? Ein Genie oder ein Scharlatan? Weshalb zeigt Marcos sein Gesicht nicht? Über die Bedeutung der Maske in der mexikanischen Mythologie ist viel geschrieben worden. In den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist in Mexiko-Stadt eine populäre Figur aufgetaucht, der „Superbarrio“, ein maskierter Held der kleinen Leute. Marcos selbst gibt eine einfache Erklärung für die Maskierung: „Jeder kann sich eine Wollmütze überziehen und sich in Marcos verwandeln.“ Man verbirgt das Gesicht, um der Sache ein Gesicht zu geben. Die Maske gleicht Unterschiede aus und stiftet kollektive Identität. Sie ist längst zum Markenzeichen geworden. Benetton ließ bei Marcos schon anfragen, ob er dessen maskiertes Konterfei vermarkten dürfe. Mag sein, dass am Anfang auch Sicherheitsgründe eine Rolle spielten, dass Marcos sich maskierte, weil er nicht erkannt werden wollte.
Doch seit bald sechs Jahren scheint das Geheimnis um die Identität des „Subcomandante“ gelüftet. Marcos heißt – aller Wahrscheinlichkeit nach – mit bürgerlichem Namen Rafael Guillén. Das wird vom Mann mit der Maske selbst allerdings vehement bestritten. Als der französische Soziologe Yvon Le Bot ihn fragte, weshalb er es nicht zugebe, flüchtete sich Marcos in die Domäne, die er am besten beherrscht, die Ironie: „Weil ich nicht er bin. Allem voran gibt es da ästhetische Probleme. Man hat mir mit dieser Behauptung meine weiblichen Brieffreundschaften ruiniert. Ich war attraktiv, und jetzt sagen sie, ich sei der da. Nun muss ich meine Bewunderinnen überzeugen, dass ich nicht so hässlich bin wie der da. Es war wirklich starker Tobak. Ich habe mein Sexappeal noch nicht wiedergewonnen.“
Rafael Guillén, das angeblich so hässliche Alter Ego von Marcos, wurde 1957 als Sohn eines einfachen Möbelhändlers in der mexikanischen Hafenstadt Tampico geboren, studierte später Philosophie, vor allem die Franzosen Derrida, Foucault und Althusser, und unterrichtete schließlich an einer Universität in der Hauptstadt grafische Kunst. Politisch engagierte er sich im Umkreis einer kleinen linksextremen Organisation, die sich in den 70er-Jahren zu bewaffnen begann, aber militärisch zerschlagen wurde, bevor sie irgendeine Bedeutung erlangte. Einige Mitglieder dieser Organisation gründeten 1983 im Urwald von Chiapas die „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“ (EZLN). Rafael Guillén verschwand um diese Zeit aus dem öffentlichen Leben. Marcos schloss sich 1984 der Guerilla an. Zehn Jahre verbrachte er im Urwald und im Hochland, bevor er sich am Neujahrstag 1994 mit seinem „kleinen Heer von Verrückten der Hoffnung“ (Marcos) in San Cristóbal de las Casas den Touristen zeigte. Die mexikanische Öffentlichkeit war völlig überrascht. Nichts hatte auf die Existenz einer Guerilla im eigenen Land hingedeutet. Keine Zeitungsmeldungen, keine Flugblätter, keine Überfälle, keine Entführungen.
Doch hatten Armee und Geheimdienst bereits Monate zuvor die Guerilla aufgespürt. Vermutlich griff die Regierung nicht ein, weil sie die Verhandlungen über den Beitritt Mexikos zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) nicht gefährden wollte. Militärische Auseinandersetzungen hätten das Bild eines stabilen Lands beschädigt. NAFTA, das war – so jedenfalls propagierte es das Regime – das Ticket zum Eintritt in die Erste Welt. Just am 1. Januar 1994, als das Abkommen in Kraft trat, meldete sich nun unüberhörbar die Dritte Welt zurück – „es war die erste symbolische Revolte gegen die Globalisierung“, stellte Ignacio Ramonet, Herausgeber von „Le Monde diplomatique“, fest, der jüngst – wie vor ihm schon Régis Debray, Yvon de Bot, Manuel Vazquez Montalban, Carlos Monsivais, Oliver Stone, Danielle Mitterrand und viele andere – ins Hauptquartier von Marcos im Urwalddorf La Realidad gepilgert war.
Über seine zehn Jahre klandestiner Existenz im Urwald und Hochland von Chiapas hat Marcos selbst ausführlich berichtet. Unter dem Einfluss der Ideen Che Guevaras, der sandinistischen Revolution und der Guerilla in El Salvador wollte eine kleine Gruppe – ausschließlich Weiße und Mestizen – einen bewaffneten Aufstand entfachen, um in Mexiko schließlich die Macht zu übernehmen und ein sozialistisches Regime einzuführen. Sie scheiterte. Die Indios, mit denen sie nach einem Jahr Überlebenskampf unter widrigsten Umständen im Dschungel in Kontakt trat, waren am revolutionären Projekt nicht interessiert. Es sei ein kultureller Schock gewesen, erinnert sich Marcos. Erst nach Jahren kam es zur Zusammenarbeit zwischen dem isolierten Guerillatrupp und Gemeinschaften der Ureinwohner. Schließlich schlossen sich immer mehr Indios den Zapatisten an.
Marcos, bis heute der militärische Führer der Guerilla, behauptete Yvon Le Bot gegenüber, nicht nur der formale, sondern auch der faktische Oberbefehl liege seit langem bei den Führern der Dorfgemeinschaften, eben denjenigen, die jetzt zusammen mit ihm als Kommandanten auf Mexiko City marschieren. Diese hätten damals – unter dem Eindruck der Repression und nach einer Verfassungsrevision, die den Großgrundbesitz begünstigte – der zögerlichen Guerilla ein Ultimatum gesetzt: Spätestens am 1. Januar 1994 müsse der Krieg beginnen. Allerdings bemerkte der Subcomandante auch kritisch von sich in der dritten Person sprechend: „Das Gewicht von Marcos im Innern der Organisation ist größer als man wahrnimmt. Die Leute in den Gemeinschaften meinen, Marcos gehöre ihnen, sie hätten ihn gemacht, quasi geboren, sie lieben ihn wie einen eigenen Sohn.“
Der Krieg im Januar 1994 dauerte zwölf Tage. Dann rief die Regierung einseitig einen Waffenstillstand aus. Die Armee hätte die bis heute rudimentär bewaffneten Zapatisten vernichten können. Doch die Politiker wollten den politischen Preis nicht bezahlen. Der massive Einsatz der Armee gegen die indianische Bevölkerung schien zumindest in einem Wahljahr nicht opportun. Die Zapatisten ihrerseits starteten eine politische Offensive. Und nun schlug die wirkliche Stunde von Marcos. Geradezu genial verstand er es, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen, mit Pathos und Poesie die Intellektuellen für sein Anliegen zu gewinnen und via Satellitentelefon und Laptop über Internet Anhänger im Inland wie Ausland zu mobilisieren. Seine Sprache, die immer wieder Anleihen bei der Maya-Mythologie nimmt, aber auch auf Elemente christlicher und guevaristischer Heilsbotschaften zurückgreift, hat eine breite Fangemeinde gefunden.Von der Machtübernahme in Mexiko träumt Marcos schon lange nicht mehr. Im Kern geht es den Zapatisten um eine Demokratisierung des Landes, das 71 Jahre lang von ein und derselben, schließlich durch und durch korrupten Partei regiert wurde. Demokratisierung das heißt Kampf gegen den Ausschluss der Minderheiten und Rückeroberung der Politik durch die Gesellschaft. Zu den Minderheiten zählt der Subcomandante, einziger Weißer in der Kommandostruktur der Guerilla, nicht nur die Indios, sondern – und er betont es auf seinem Marsch durch Mexiko fast bei jeder Rede – auch die Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transsexuellen. Es ist keine Konzession an den urbanen Zeitgeist. Marcos ist ein Überzeugungstäter – auch in seinem Urwaldnest La Realidad, auch vor tausenden Ureinwohnern in San Cristóbal de las Casas redete er von den Transsexuellen. In traditionellen Dorfgemeinschaften, in denen die Frauen noch weniger zählen und noch mehr geschlagen werden als im übrigen Mexiko, in denen sie oft ihren Ehemann nicht selbst aussuchen können und regelrecht verkauft werden, mag sich das seltsam anhören. Aber vermutlich hat sich auch der Diskurs über die Rechte der Frauen anfänglich seltsam angehört. Inzwischen hat sich ihre Position, zumindest da, wo die Zapatisten das Sagen haben, deutlich verbessert.
Dass die alte Staatspartei nach 71 Jahren die Macht abgeben musste, dürfen die Zapatisten auch als ihren Erfolg verbuchen. Mit dem neuen Präsidenten Vincente Fox, der sie in seiner Umarmung ersticken will, werden sie es schwieriger haben. Marcos weiß, dass er verliert, wenn es Fox gelingt, den Konflikt auf Chiapas und das Verhandlungspaket auf die Interessen der Ureinwohner zu begrenzen. Denn da ist der Präsident zu einem Kompromiss bereit. Und so wird sich schon am Dienstag, wenn auf dem Zocalo, dem großen Platz vor der Kathedrale der Hauptstadt, Hunderttausende dem maskierten Marcos zujubeln werden, die Frage stellen: Was nun? Eine Rückkehr zu einer militärischen Strategie bietet keine Perspektive. Die Zapatisten sind eine Guerilla ohne militärische Schlagkraft. Marcos weiß das selbst am besten. „Wir stehen vor dem Dilemma“, sagte er schon vor vier Jahren, „dass das, wofür wir kämpfen, sich nur verwirklichen kann, wenn wir als bewaffnete Kraft verschwinden. Wir müssen zu einem friedlichen Weg übergehen.“ Und wie sieht Marcos seine eigene Zukunft, falls eines Tages der Konflikt so oder so gelöst ist? „Ich glaube nicht, dass ich zu meinem Leben, das ich geführt habe, bevor ich in die Berge ging, zurückgehen kann.“
Wenn sie auf dem Zocalo dem maskierten Marcos zujubeln, wird sich die Frage stellen: Was nun?
Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 10.03.2001