Eine Maske geht auf Reise

San Cristobal de las Casas ist eine Perle kolonialer Architektur. Das malerische Städtchen in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat von Mexiko, ist zudem bekannt für seinen indianischen Markt. Frauen in den farbigen Trachten der Tzotziles und Tzeltales verkaufen ihre bunten, gewobenen Stoffe, Bilder des 1917 ermordeten Revolutionsführers Emiliano Zapata und auch allerlei Kitsch. Der Renner sind zur Zeit die kleinen Puppen mit Poncho und Wollmaske – in der Hand ein hölzernes Gewehr. Subcomandante Marcos in Kleinformat. Das Geschäft läuft gut. Denn die Kunden sind in diesen Tagen nicht die Rucksack- und Neckermann-Touristen, die von hier aus zu den Maya-Tempeln von Palenque aufbrechen, sondern Internationalisten, Globalisierungsgegner und Politpilgerer, die gekommen sind, um den Marsch der Zapatisten nach Mexiko-Stadt zu begleiten. Hier starteten am Sonntag die 23 indianischen Kommandanten der „Zapatistischen Armee der nationalen Befreiung“ (EZLN), unter ihnen vier Frauen, und der legendäre (weiße) Subkommandant Marcos, der eigentliche Führer der Guerilla, zu einer 3.000 Kilometer langen Fahrt durch zwölf Bundesstaaten im Süden Mexikos, um ihr Anliegen Millionen von Mexikanern zu unterbreiten und es am 11. März in der Hauptstadt Parlamentariern verschiedener Parteien vorzutragen.

Samstagabend. Über zehntausend Menschen sind auf dem großen Platz vor der Kathedrale zusammengeströmt, viele von ihnen tragen Wollmasken. Es sind Indios aus den „autonomen Gemeinden“ der Zapatisten. Auf Lastwagen sind sie nach stundenlanger Fahrt über holprige Straßen aus dem Hochland und dem Bergdschungel von Chiapas nach San Cristobal gekommen. Vor der Tribüne ist ein doppelter Sicherheitskordon vermummter Männer und Frauen in Stellung gegangen. Eine Ehrengarde pflanzt zwei Fahnen auf, die grün-weiß-rote Mexikos und die schwarze der Guerilla. Um zehn Uhr nachts schließlich – mit fünf Stunden Verspätung – treffen die 23 Kommandanten und der Subkommandant ein: die einen in Uniform, die andern in indianischer Tracht, alle unbewaffnet, aber mit schwarzer Wollmaske. Nur ein schmaler Sehschlitz lässt ihre Augen frei.  Ein gespenstischer Anblick.

„Wir sind die rebellische Würde, wir sind das vergessene Herz des Vaterlandes“, donnert Marcos, „wir sind nicht mehr die dunkle Hand, die um Almosen bittet, um euer Gewissen zu beruhigen.“ Viele Indios verehren den weißen Mann, der so spricht, der vor 17 Jahren seinen bequemen Job an der Universität und sein bürgerliches Leben in der Hauptstadt aufgegeben hat, um ihre Armut zu teilen und im Dschungel eine Guerilla aufzubauen. Am Neujahrstag vor sieben Jahren, am Tag, an dem der nordamerikanische Freihandelsvertrag in Kraft trat, besetzten seine schlecht bewaffneten Truppen San Cristobal und ein halbes Dutzend weitere Orte in Chiapas. Die Touristen waren verschreckt, die Mexikaner verblüfft. Niemand hatte zuvor von dieser Guerilla auch nur das Geringste gehört. Am nächsten Tag war sie wieder so schnell und geräuschlos in den Bergen verschwunden, wie sie gekommen war. Es war wie ein Spuk. Seither ist Marcos, dessen wahre Identität erst ein Jahr nach der fulminanten Ouvertüre von einem abtrünnigen Guerillero  enthüllt wurde, eine Legende. Seine Kommuniques „aus den Bergen des mexikanischen Südostens“ oder „aus dem Lacandonen-Urwald“, mal witzig, mal poetisch und immer voll Spott, füllen inzwischen drei Buchbände. Der „Subcomandante“, von seinen Fans kurz „Sub“ genannt, hat längst auch die Herzen der mexikanischen Intelligenz erobert und ist zu einem Star der weltweit vernetzten Globalisierungsgegner geworden.

Es ist schon seltsam. Da baut einer eine Guerilla auf, erklärt den Machthabern den Krieg, eröffnet ihn auch und redet nun, von Polizei und Armee unbehelligt, in einer von der Regierung kontrollierten Stadt. Noch absurder: Der Präsident des Landes begrüßt den Marsch der Guerillakommandanten, vergleicht ihn sogar mit den „großen Märschen von Martin Luther King“ und lässt ganzseitige Zeitungsinserate schalten, in der er die Bevölkerung aufruft, die durchziehenden Zapatisten willkommen zu heißen. Man habe schließlich dasselbe Ziel: den Frieden. Vincente Fox, der nach 71 Jahren Dauerherrschaft der korrupten PRI vor drei Monaten seine Präsidentschaft angetreten hat, will die Guerilla sogar auf ihrem langen Weg nach Mexiko polizeilich beschützen lassen. Das wiederum lehnt Marcos ab – schon aus Gründen des Image. Vergeblich. Er kann sich gegen die unerwünschte Eskorte nicht wehren. Und so werden wohl neben den 111 weiß gekleideten Italienern, die sich Marcos als Leibwächter angeboten haben, und neben den vielen Zapatisten aus In- und Ausland, die die 24 Kommandanten begleiten, auch Polizei und Geheimdienst versuchen, das Leben des „Sub“ zu schützen. Nicht auszumalen, was in Mexiko abliefe, wenn ein Attentat Erfolg hätte.

Fox hat deutlich gemacht, dass die Regierung zu einem Dialog bereit ist. Doch Marcos bleibt hart: Verhandelt wird erst, wenn alle zapatistischen Gefangenen frei sind, die Armee sieben von 259 Armeestellungen geräumt hat und ein Gesetz, das der indianischen Bevölkerung mehr Rechte eingesteht, vom Parlament gebilligt ist. Inzwischen sind mehr als die Hälfte der Gefangenen freigelassen, vier der geforderten sieben Armeestellungen geräumt, und der Präsident hat dem Parlament ein Gesetz zur Verabschiedung zukommen lassen. Mehr konnte Fox kaum anbieten. Er muss sein Gesicht wahren, steht unter dem Druck seiner eigenen konservativen Partei und vor allem auch der Armee, die wohl am liebsten  eine militärische Lösung durchsetzen würde. Eine solche wäre angesichts der militärischen Schwäche der Guerilla durchaus möglich. Aber die politischen Kosten wären hoch. Und deshalb will Fox einen Frieden. Allerdings zum Sparpreis und am liebsten sofort. Marcos hat weniger Eile. Auch er will den Frieden, doch erst wenn politische Veränderungen durchgesetzt sind. Er weiß, wie schwach seine Guerilla ist, und so setzt er auf eine politische Lösung. Mit seinem Marsch auf Mexiko will er die Gesellschaft mobilisieren und seine Verhandlungsposition stärken.

In Yabeteclum, einem Dörfchen, das zwei Autostunden von San Cristobal entfernt liegt, erklärt Padre Pedro Arriaga unter einem Mangobaum einer Gruppe von zwei Dutzend Katechisten, die Bedeutung der „Zapatour“, wie der Marsch der Zapatisten im Volksmund inzwischen heißt. „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“, liest er aus dem Markus-Evangelium vor und ergänzt: „Er will auch in Würde leben.“ Jesuit gehört zu den „Abejas“, den „Bienen“, wie sich die Gruppen engagierter Katholiken hier nennen, die der Theologie der Befreiung verpflichtet sind. Die „Abejas“ sind zwar Pazifisten, verhehlen aber ihre Sympathien für das zapatistische Lager nicht. „Der Krieg ist keine Lösung“, sagt Padre Pedro, „er hat viele indianischen Gemeinschaften zerrissen.“

Der Beweis für die These des Paters liegt wenige Kilometer oberhalb von Yabeteclum. „Willkommen in der neuen autonomen aufständischen Gemeinde Polho“, verkündet ein großes Schild am Straßenrand. Ein blaues Eisentor versperrt den Zugang zum Dorf. Einige junge Männer halten Wache. Einer verlangt den Ausweis, geht weg, kommt nach einer halben Stunde mit einem Zettelchen wieder. Darauf steht: „Was wollen Sie wissen?“ und „wer hat Sie hergeschickt?“ Mit der schriftlichen Antwort verschwindet er, kehrt wieder zurück und verlangt schriftliche Präzisierungen. Schließlich kommt das Gespräch mit Bartolo Gutierrez Vazquez, dem Präsidenten der autonomen Gemeinde zustande. Die Militärs hätten den Dorfladen geplündert und die Leute bedroht, berichtet der Tzetzal-Indio in seiner weißen Tunika, „nur weil wir Zapatisten sind“. Regierungskredite im Rahmen der öffentlichen Hilfsprogramme gebe es keine mehr, jedenfalls nicht für zapatistische Gemeinden. Und das Dorf hätte sie nötiger denn je. In Polho, das 950 Einwohner zählt, haben sich 6.400 Vertriebene aus andern Dörfern angesiedelt.“ Nein, Waffen hätten sie keine, und die EZLN sei weit weg, „aber Zapatisten sind wir nun mal alle.“ Einige wenige, die es nicht waren, so gibt er schliesslich zu, seien gegangen. „Einfach so oder wurden sie vertrieben?“ – „Sie sind gegangen.“

Unweit oberhalb von Polho liegt das Dörfchen Acteal. Es ist heute dreigeteilt. Der unterste Dorfteil ist mit einem Seil abgesperrt. Die Zapatisten lassen keinen herein. Die Verantwortlichen, die eine Erlaubnis erteilen könnten, seien bei der Kaffeeernte, so die lapidare Begründung. Der mittlere Teil ist das Revier der „Abejas“. Am Eingang steht ein großes steinernes Monument, das an das Massaker vom Dezember 1997 erinnert. Damals ermordeten Paramilitärs 21 Frauen, neun Männer und 15 Kinder. Einige der Opfer wurden in der kleinen Kirche erschossen, wo sie aus Sicherheitsgründen geschlafen hatten. Die Schusslöcher in den Holzwänden und im Dach aus Eternit sind noch deutlich zu sehen. Im Revier der „Abejas“ leben 600 Menschen, 500 von ihnen wurden aus den umliegenden Dörfern vertrieben. Viele Flüchtlinge können ihr altes Haus von bloßem Auge erkennen. Es steht am Abhang auf der gegenüberliegenden Seite des Tales, vielleicht ein Kilometer entfernt. „Dort herrschen die ‘Mascaras rojas’ (rote Masken)“, sagt Juan Perez, der dem Leitungsgremium des Dorfteils angehört, „eine paramilitärische Truppe, die zwischen Zapatisten und ‘Abejas’ nicht unterscheidet.“ Mit ihnen gemeinsam haben sie nur, dass auch sie Tzotzil-Indios sind.

Im obersten Dorfteil wohnen die PRI-Familien, die Anhänger der früheren Regierungspartei. Sie sollen mit den Paramilitärs von der andern Talseite verbandelt sein. Soldaten stürmen mit Gewehr im Anschlag herbei – nicht wegen des fremden Besuchs, sondern um den zufällig herbeikommenden General Canovas zu begrüßen. Der ist oberster Befehlshaber der Konfliktzone im Hochland. „Paramilitärs gibt es nicht“, behauptet er, „das angebliche Massaker von Acteal war in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen Indios. Da ging es um Landbesitz und auch um politische und religiöse Konflikte.“ Doch wurden im Zusammenhang mit dem „angeblichen Massaker“ 95 Paramilitärs verhaftet und über 30 verurteilt, unter ihnen ein General der Armee, ein Mestize. Die übrigen waren fast alle Tzotziles – „Menschen mit dunklem Blut und der Farbe der Erde“, wie Marcos es in einer lyrischen Anwandlung ausdrückt.

Sonntagmorgen. An der Ausfallstraße von San Cristobal de las Casas warten Tausende von diesen „dunkelblütigen und erdfarbenen Menschen“, die von einer zutiefst rassistischen Gesellschaft, die sie am liebsten ins Museum verbannen möchte, immer nur ignoriert wurden. Sie sind vermummt gekommen, um den Tross der zapatistischen Guerilla-Kommandanten zu verabschieden – vor allem den weißen Marcos, dem sie es zu verdanken haben, dass sie – wenn auch vorrangig als Störenfriede – überhaupt wieder wahrgenommen werden.

Thomas Schmid, „Die Weltwoche“, 01.03.2001