Das Wahrzeichen von Guanajuato ist der alte Kornspeicher. Eine majestätische Treppe führt von der Plaza zum mächtigen Steinquader hinauf, der mit seinem grauem Gemäuer und den winzigen Fenstern etwas Bedrohliches ausstrahlt. Fast ein Jahrhundert lang hat der imposante Bau als Gefängnis gedient. Nun ist er nur noch steinerner Zeuge längst vergangener Zeiten – und Kulisse für Veranstaltungen unter freiem Himmel. Die breite Treppe bietet sich geradezu als Zuschauertribüne an. Unten auf dem Platz ruft der Redner zu einem zweiten Sturm auf den Kornspeicher auf: „Diesmal für die Demokratie!“
Der Bundesstaat Guanajuato mit gleichnamiger Hauptstadt ist die „Wiege der Unabhängigkeit Mexikos“, und der erste Sturm auf den Kornspeicher fand 1810 statt. In Dolores, einem kleinen Dorf rund 200 Kilometer nordwestlich von Mexiko-Stadt, rief Hidalgo, der Pfarrer, seinen berühmten Spruch aus: „Es lebe Mexiko! Tod den Spaniern!“ Es war der Startschuss für die mexikanische Unabhängigkeitsbewegung. Die Einnahme des Kornspeichers von Guanajuato war der erste militärische Erfolg der Aufständischen. Die spanischen Soldaten und Zivilisten, die sich im Gebäude verschanzt hatten, wurden gnadenlos niedergemetzelt.
Unten auf dem Platz ruft der Redner: „Wenn sie euch etwas anbieten, nehmt es an, aber danach wählt nach eurem Gewissen.“ Es ist Wahlkampf in Mexiko. Am kommenden Sonntag wird ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Und in Mexiko sind Wahlen traditionell mit Geschenken verbunden. „Hidalgo presente! Cuauhtemoc presidente!“ schreit es von der Treppe her dem Redner entgegen. Und überall werden die gelben Fahnen mit der Sonne der Azteken geschwenkt, dem Symbol der „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD) von Cuauhtemoc Cardenas, der verspricht, das Regime der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI) abzulösen. Seit 71 Jahren regiert die PRI ununterbrochen das Land und kommt damit nahe an den Weltrekord der modernen Geschichte heran. Nur die KPdSU hat es bislang länger geschafft. Die sowjetischen Kommunisten regierten 74 Jahre.
Nun gibt es tatsächliche zum ersten Mal seit 71 Jahren eine reelle Chance, dass die PRI, eine Spätgeburt der ersten großen Revolution dieses Jahrhunderts (1910-1920), die von Emiliano Zapata und Pancho Villa angeführt wurde, die Macht verliert. Doch die Gefahr fürs Regime kommt nicht mehr von Cuauhtemoc Cardenas, dem bereits legendären Führer der linken Opposition, der vor zwölf Jahren vermutlich nur wegen des massiven Wahlbetrugs nicht Präsident wurde, sondern von Vicente Fox, der die rechte Opposition der „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) anführt, die sich mit der kleinen Grünen Partei zur „Allianz für den Wechsel“ zusamengeschlossen hat. Während Cauhtemoc Cardenas um die 20 Prozent der Stimmen erhalten dürfte, wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Vicente Fox und Francisco Labastida, dem Kandidaten der herrschenden PRI, erwartet.
Guanajuato ist nicht nur die „Wiege der Unabhängigkeit Mexikos“, sondern auch eine Hochburg des PAN. Von 1995 bis 1999 war Vicente Fox hier Gouverneur. Auf dem Berg oberhalb der Stadt steht das weithin sichtbare Monument des „Cristo Rey“, des Christkönigs.
Als Reaktion auf die antiklerikale Politik der nachrevolutionären Zeit entstand hier in den 20er Jahren eine von fanatischen Priestern angeführte katholische Bauernbewegung, das „movimiento cristero“, dessen Verbände unter dem Ruf „Viva Cristo Rey“ mordend und plündernd durchs Land zogen. Und als Reaktion auf die Politik von Lazaro Cardenas, dem Vater des heutigen Führers der linken Opposition, der als Präsident die Agrarreform beschleunigte und die ausländischen Erdölkonzerne enteignete, entstand hier in den 30er Jahren die klerikal-faschistische Bewegung der so genannten Synarchisten. In diesem katholisch-konservativen Milieu wurzelt zu einem Teil auch die 1939 gegründete PAN, die sich allerdings von Anfang an – in jenen Zeiten nicht selbstverständlich – für den legalen Weg der Machteroberung entschieden hat. Zu einem andern Teil hat die größte Oppositionspartei Mexikos allerdings durchaus laizistische Wurzeln und vertrat schon bald die Interessen der Industriellen von Monterrey, der Metropole des mexikanischen Nordens.
In diesem Guanajuato ist der 1942 geborene Vicente Fox aufgewachsen. Zur Schule ging er bei den Jesuiten, später studierte er Betriebswirtschaft. 1964 bis 1979 arbeitete er bei Coca-Cola – zunächst als Lieferant der kleinen Läden seiner Heimatstadt León, zuletzt als Direktor des Getränkekonzerns für ganz Mexiko. 1979 zog er sich überraschend auf das Landgut seiner Familie zurück und betrieb zusammen mit seinen Brüdern drei Firmen zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. 1988 erst trat er in die PAN und damit in die Politik ein. In jenem Jahr kandidierte sein heutiger Rivale Cuauhtemoc Cardenas, der ein Jahr zuvor aus der PRI ausgetreten war, bereits zum erstenmal für die Präsidentschaft.
Während Cardenas, der nun zum drittenmal gegen die ewig herrschende PRI antritt, das Image des aufrichtigen Kämpfers für eine bessere Welt, aber auch das des ewigen Verlierers anhaftet, ist Fox der Typ des Selfmademans und Winners, und er hat Charisma. In ländlichen Gebieten präsentiert er sich mit Vorliebe in Cowboy-Stiefeln und mit Sombrero. Sein hemdsärmeliges Auftreten und seine deftige Sprache kommen bei den Leuten an. Er wettert gegen die Korruption des PRI-Regimes, gegen die hohen Preise und die Ineffizienz der Bürokratie. In 15 Minuten werde er, wenn er denn einmal Präsident sei, das Problem in Chiapas lösen, behauptet er. Dort, im Süden des Landes, herrscht seit sechs Jahren Krieg auf niedriger Flamme. Nein, Fox würde die Guerilla der Zapatisten nicht militärisch ausrotten, sondern mit ihr zu einer vernünftigen Regelung kommen. Behauptet Fox.
Wer ist dieser Fox? Jorge Castaneda kann sich zur Zeit vor Besuchern kaum retten. Vor seinem Haus in Mexiko-Stadt stehen die Fernsehteams und Reporter Schlange. Der Sozialwissenschaftler und Autor einer auch auf deutsch erschienen umfassenden Biographie Che Guevaras war in den 70er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei, 1988 Berater von Cuauhtemoc Cardenas und ist heute der wichtigste Berater von Vicente Fox. Seine eigene politische Wende begründet Castaneda ganz pragmatisch: „Fox ist der einzige, der den PRI-Kandidaten schlagen kann, Cardenas hat keine Chance. Fox ist offen und dynamisch, er steht für die Zukunft, Cardenas für die Vergangenheit.“ Und was wird in Mexiko passieren, wenn Fox die Wahl gewinnt? „Das ganze morsche politische System der PRI wird zusammenbrechen, dieses Geflecht von Korruption, Abhängigkeiten und Gefälligkeiten, das sich über Staat und Partei, über die parastaatlichen Gewerkschaften und Bauernverbände, überall in der Gesellschaft eingenistet hat. Und erst der Kollaps ermöglicht einen Neuanfang.“
Der konservative Fox weiß, dass er nur Präsident werden kann, wenn genügend Anhänger der PRD von Cardenas, die in der 18 Millionen zählenden Hauptstadt als stärkste Partei den Bürgermeister stellt, ihm seine Stimme geben, um die PRI zu entmachten. Seit Tagen geht der er deshalb auf Stimmenfang im linken Lager. So entdeckte er nun die Berechtigung des Protests der 68er-Bewegung, der in Mexiko in einem schrecklichen Massaker endete, bei dem die Armee Hunderte von Demonstranten erschoss. Und sein Berater Castaneda stellt fest, dass es zwischen Cardenas und Fox kaum programmatische Differenzen gebe. „Fox ist nicht die PAN“, betont er. Das stimmt. Fox ist zwar ihr Mitglied und Kandidat, aber er weiß, dass er nur gewinnen kann, wenn er auch jenseits des traditionellen konservativen Lagers zum Hoffnungsträger wird. Und das weiß auch die PAN-Führung, weshalb sie murrend akzeptiert, dass Fox seinen eigenen Wahlkampf macht. So lehnte der nun eine alte PAN-Forderung, die er sich vor einigen Jahren noch halbwegs zu eigen gemacht hatte, ab und versprach öffentlich, unter seiner Regierung werde der staatliche Erdölkonzern Pemex nicht privatisiert. Und während die PAN seit Jahrzehnten den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen fordert, spricht sich Fox nun – anders als früher – öffentlich dagegen aus.
Der Schriftsteller und Historiker Carlos Monsivais, einer der bedeutendsten Intellektuellen Mexikos, warnt vor Fox. Er sei im Grunde ein katholischer Fundamentalist und zugleich Vertreter eines extremen Neoliberalismus. „Wenn Fox die Wahl gewinnt, wird es zu einer gefährlichen Polarisierung der mexikanischen Gesellschaft kommen.“ Der Kandidat der Rechten sei mental stark vom katholischen Milieu in Guanajuato geprägt. Dass er beim Start in den Wahlkampf, wie einst Hidalgo im Krieg gegen die Spanier, die Standarte der Jungfrau von Guadelupe, der Nationalheiligen Mexikos, in die Arme schloss, sei ein Signal an die Kirchenhierarchie gewesen, dass sie unter seiner Regierung verlorene Machtpositionen zurückgewinnen werde. Am deutlichsten aber zeige sich Fox’ Fundamentalismus in der Frage der Abtreibung. Da ist der Kandidat der PAN kompromisslos. Er will Abtreibung auch nach Vergewaltigung und auch bei medizinischer Indikation unter Strafe stellen.
Monsivais befürchtet, dass nach einem Wahlsieg der Konservativen ein intolerantes Klima über Mexiko hereinbricht. Schließlich wurde in einigen der von der PAN regierten Bundesstaaten den im öffentlichen Dienst angestellten Frauen untersagt, im Minirock zur Arbeit zu erscheinen. Und in Merida, einer Stadt im Süden Mexikos, verbot der PAN-Bürgermeister eine Ausstellung von Aktfotografien. Fox, der noch vor wenigen Jahren die Homosexualität als eine „widernatürliche Degenerationserscheinung“ gegeißelt hatte, weiß um dieses Image, also ließ er jüngst in der vornehmlich von kritischen Geistern gelesenen Tageszeitung „La Jornada“ eine ganzseitige Anzeige schalten: „Wir sind nicht gegen Striptease, auch nicht gegen Nackte, und noch viel weniger gegen Homosexuelle.“ Doch Monsivais hält Fox für einen Schwätzer, der heute dies und morgen jenes verspricht, die Wähler als Klienten behandelt und ihnen wie ein Handelsvertreter nach dem Munde redet. Wird der Schriftsteller also PRI wählen, die einzige Möglichkeit, die PAN zu stoppen? „Um Himmels willen“, stöhnt er auf, „noch einmal sechs Jahre PRI, das überschreitet meine Toleranzschwelle.“
Das hieße sechs Jahre Francisco Labastida. Der PRI-Mann, der das Erbe von Präsident Ernesto Zedillo antreten soll, dessen Wiederwahl die Verfassung ausschließt, spricht gerne von der „neuen PRI“, um sich von der alten korrupten Garde abzusetzen. Doch er steht für Kontinuität. Er ist zwar der erste PRI-Kandidat, der nicht durch traditionellen „Fingerzeig“, d.h. vom amtierenden Präsidenten bestimmt wurde, sondern durch Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild. Aber er hat eine typische Parteikarriere hinter sich. Wie Fox 1942 geboren, wurde Labastida schon als 20jähriger Beamter im Finanzministerium, mit 40 Jahren war er Energieminister, später Gouverneur des Bundesstaates Sinaloa im Norden Mexikos, danach Landwirtschaftsminister und Innenminister. Die Beamtenlaufbahn scheint ihn geprägt zu haben. Ihm geht jedes Charisma ab. Er wirkt nur langweilig.
Trotzdem ist es durchaus möglich, dass sich der schmächtige PRI-Kandidat gegen den polternden Zweimetermann Fox durchsetzt. Ein traditioneller Wahlbetrug – Urnenklau, mehrfache Stimmabgaben, falsche Auszählung der Stimmen – ist zwar weitgehend ausgeschlossen. Zum erstenmal in der mexikanischen Geschichte organisiert eine von der Regierung unabhängige Wahlbehörde mit 40.000 fest angestellten Mitarbeitern die Präsidentschaftswahlen. In einem Land mit 100 Millionen Einwohnern, wovon 59 Millionen wahlberechtigt sind, hat sie knapp 800.000 Personen zur Arbeit in 114.000 Wahllokalen ausgebildet. Eine imposante Arbeit, die weithin für einen sauberen Wahlgang sorgen wird. Doch in dessen Vorfeld hat nun der PRI-Apparat auf dem Land, wo die Partei vielerorts vom Fußballverein bis zum Rathaus alles kontrolliert, bundesweit eine Kampagne gestartet, die eine strafbare Nötigung miteinkalkuliert. In zahlreichen Dörfern haben Vertreter staatlicher Sozialprogramme den Bauern angekündigt, ihnen würden die Leistungen – Sozialhilfe, Kredite, Lieferungen von Saatgut – gestrichen, falls sie nicht PRI wählten. Vielerorts verlangten in den letzten Wochen PRI-Kader von Bauern ihre Wahlausweise, um sich Namen und Nummern zu notieren, was einer gesetzlich unerlaubten Einschüchterung gleichkommt. Auf dem Land werden vermutlich Millionen PRI wählen, einfach um keine Schwierigkeiten mit der örtlichen Macht zu kriegen.
Am Samstag war der Zocalo, der große Platz im Zentrum von Mexiko-Stadt, wo Labastida eine Woche zuvor 100.000 Anhänger versammelt hatte, in blau-weiß gekleidet, den Farben der PAN. Vor 150.000 jubelnden Fans ergriff Fox bei seiner Schlußkundgebung des Wahlkampfs eine Metallfigur von Hidalgo, dem Dorfpfarrer von Dolores, der einst die Standarte der Heiligen Jungfrau von Guadelupe getragen hatte. Er beschwörte seine Gegner aus dem linken Lager zum letzten Mal, ihm ihre Stimmen zu geben, um die PRI zu stürzen, und versprach ihnen: „Das Erbe des Generals Lazaro Cardenas ist nicht in Gefahr, die Souveränität über das Erdöl ist nicht in Gefahr, der laizistische Staat ist nicht in Gefahr.“ Er bot Cuauhtemoc Cardenas an, eine gemeinsame Regierung zu bilden und die Verantwortung für den Übergang zur Demokratie gemeinsam zu übernehmen.
Am Sonntag leuchtete der Zocalo gelb wie die Sonne der Azteken. Über 200.000 Personen waren zur Schlußkundgebung von Cardenas gekommen. Der Führer der linken Opposition stellte sein Regierungsprogramm vor, das unter anderem die Auflösung der jüngst geschaffenen Präventiven Bundespolizei vorsieht und die Rückkehr der Armee in die Stellungen, die sie vor dem 1. Januar, dem Beginn des Aufstands der zapatistischen Guerilla, hatte. Fox’ Angebot einer Zusammenarbeit lehnte Cardenas rundweg ab: „Wir verfolgen diametral entgegengesetzte Ziele.“
Am selben Wochenende, als in der Hauptstadt Hunderttausende auf den Zocalo strömten, zog Guillermo Velazquez im Bundesstaaat Guanajuato, der „Wiege der Unabhängigkeit Mexikos“, von Dorf zu Dorf. Seit 20 Jahren schon tourt der Troubadour mit seiner Truppe „Los Leones de la Sierra de Xichu“ (die Löwen der Xichu-Berge) durchs Land. Sie steht in einer Jahrhunderte alten regionalen Tradition, tritt auf Kirmes und Hochzeiten auf und singt Balladen im „Huapango arribeno“, dem in der Gegend gewachsenen Musikgenre. Es sind Balladen, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden und manchmal auch von der Zukunft berichten. „Es gibt tausend Arten, die Stimmen der Armen zu kaufen“, heißt es im gesungenen Bericht, den die Truppe von Dorf zu Dorf trug, „aber lasst euch nicht einschüchtern.“ Vor 10 Jahren noch hätten die Bänkelsänger mit solchen Worten ihren Kopf riskiert – wie die rund 400 Mitglieder der PRD von Cardenas, die in einem Jahrzehnt politischen Attentaten zum Opfer fielen. Aber Mexiko ist längst auf dem Weg zur Demokratie. Das korporativ-paternalistisch-autoritäre PRI-System ist am Ende – auch wenn die Staatspartei noch einmal gewinnen sollte.
Thomas Schmid, „Die Zeit“, 29.06.2000
(erschienen unter dem Titel „Hoffen auf den Kollaps“