Es ist eine der größten unterirdischen Städte der Welt. Man kann sie im Auto erkunden oder im Minibus. An wichtigen Kreuzungen sorgen Ampeln dafür, dass es zu keinen Verkehrsunfällen kommt. Die Straßen heißen Boulevard Merlot, Rue Chardonnay oder Rieslingstraße. Doch sie sind nicht von Häusern gesäumt, sondern von Fässern aus Eichenholz. In den kleinen Fässern reifen je 650 Liter Wein, in den großen 8.000. Und endlose Straßenzüge längs überall Flaschen, so weit das Auge reicht. „Es sind über 1,2 Millionen“, behauptet Aurelia, die junge Frau, die Touristen durch das Labyrinth führt. Sie trägt eine dicke Steppjacke. Es ist recht kühl im Untergrund.

Der riesige Weinkeller liegt in Cricova, fünfzehn Kilometer außerhalb von Chisinau, der Hauptstadt von Moldau. Es ist eine Kalkmine. Die 120 Kilometer Stollen wurden von deutschen Kriegsgefangenen gegraben. Kalk wird kaum mehr abgebaut. 80 Kilometer des Tunnelsystems dienen heute der Lagerung von Wein. Im Kalkgestein, 80 Meter unter der Erdoberfläche, bei einer jahraus jahrein gleichen Temperatur von 13 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 97 Prozent herrschen offenbar ideale Bedingungen für den Rebsaft.

Auch Angela Merkel und Vladimir Putin haben hier Wein gelagert, beide ungefähr 300 Flaschen, mit denen sich Moldaus Regierung für Staatsbesuche bedankte. Ihre beiden Fächer, 275 und 291, sind beschriftet. Sie liegen keine fünf Meter auseinander. Ein anderes Fach trägt den Namen Hermann Göring und birgt rund 400 Flaschen. Es ist weißer, trockener Moselwein des Jahrgangs 1935, von Soldaten der Roten Armee als Kriegsbeute abtransportiert. Zur Kollektion des Reichsmarschalls gehört auch der älteste in Cricova konservierte Wein. Es ist eine Flasche aus dem Jerusalemer Weingut Mogit David, ein süßer Roter, Jahrgang 1902, ein Wein für Pessach, das jüdischen Osterfest. Heute sind Görings Weine wohl ungenießbar und trotzdem einige Millionen wert – wie auch der „1er cru classé“ aus dem Weingut Château Mouton-Rothschild bei Bordeaux, Jahrgang 1936, der eine Straße weiter gelagert ist. „6.000 Dollar die Flasche“, schätzt Aurelia auf Nachfrage. Man darf einen Touristen mit seinen Fragen nie alleine lassen.

An einer Mauer sind die Fotos der Berühmtheiten versammelt, die sich durch die Tunnel fahren ließen und in den verschiedenen Degustiersälen mit ihrem Interieur aus Glamour und Kitsch an den wertvollen Säften nippten: Israel Außenminister Avigdor Lieberman, die Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, Entwicklungsminister Gerd Müller, Schachgroßmeister Anatoli Karpov und Juri Gagarin, der erste Mensch, der sich in den Weltraum katapultieren ließ und der später sagte, es sei ihm einfacher gefallen, die Erdanziehungskraft hinter sich zu lassen als den Weinkeller von Cricova.

Cricova erinnert an die guten alten Zeiten, als Moldau,  heute das ärmste Land Europas, eine der reichsten Republiken der Sowjetunion war. Das kleine Land war damals der größte Weinproduzent der UdSSR – noch vor Georgien. Seit dem Kollaps des kommunistischen Reiches, 1991, ist die Weinproduktion Moldaus jedoch auf die Hälfte gesunken, aber bis 2005 wurden noch 85 Prozent des moldauischen Weines nach Russland exportiert, und 70 Prozent des in Russland konsumierten Weins stammten aus Moldau. Dann untersagte Russland 2006 zum ersten Mal den Import von Wein aus Moldau. Nachdem das Embargo ein Jahr später wieder aufgehoben war, pendelte sich der moldauische Anteil am russischen Weinmarkt bei nur noch 22 Prozent ein.

Vor einem Jahr verhängte Russland zum zweiten Mal ein Embargo gegen moldauischen Wein. Es ist noch immer in Kraft. Der Leiter der russischen Aufsichtsbehörde für Lebensmittelqualität begründete den Schritt damit, die moldauischen Weine würden die hygienischen Anforderungen nicht mehr erfüllen. In diesem Jahr wurde – wegen Nichtbeachtung der russischen Veterinär- und Sanitärauflagen – auch Fleischimporte untersagt. Auch Obst und Gemüse darf Moldau seit einigen Monaten nicht mehr nach Russland exportieren. Begründung siehe oben.

Die wahren Gründe für die russischen Maßnahmen, die den kleinen Agrarstaat hart treffen, liegen auf der Hand. Mit dem Weinembargo wollte der Kreml Moldau vor einer weiteren Annäherung an die Europäische Union warnen. Die jüngsten Exportverbote sind eine direkte Antwort auf das Assoziationsabkommen mit Moldau, das die 28 EU-Staaten im Juni und Moldau seinerseits anfangs Juli unterzeichnet hatten. Das EU-Parlament stimmte dem Abkommen vor zwei Wochen zu. Jetzt muss es noch von den Parlamenten der einzelnen EU-Staaten unterzeichnet werden, dann kann es in Kraft treten.

Wird es Putin gelingen, Moldau auf dem Weg nach Westen aufzuhalten oder gar das Land unter seine eigenen Fittiche zu nehmen? Am kommenden Sonntag wählen die Moldauer ein neues Parlament. Vom Ausgang der Wahlen hängt ab, ob Moldau seinen Weg fortsetzt oder unter dem Druck des Kreml zurückrudert – wie einst die benachbarte Ukraine, bevor die Maidan-Revolution dort dann die Rückkehr zum Westkurs erzwang. Mit den Folgen ihrer erneuten Zuwendung zur EU kämpft die Ukraine bis heute.

Chisinau ist keine schöne Stadt. Sie lädt nicht zum Flanieren ein. In diesen regnerischen, kalten Herbsttagen erst recht nicht, wo man gezwungen ist, auf den Bürgersteigen zwischen großen Pfützen zu hüpfen. 70 Prozent der Stadt waren nach dem Erdbeben von 1940, den Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg und den Bombardements zerstört. Abgesehen von der Kathedrale und dem Rathaus, die unter zaristischer Herrschaft gebaut wurden, und dem Nationaltheater, einem Baus aus der Zwischenkriegszeit, als Moldau zu Rumänien gehörte, bestimmen vor allem die Plattenbauten und die pompösen Paläste der Macht aus der Sowjetzeit das Stadtbild.

Aber nicht nur in der Architektur ist der Kreml präsent. Vielerorts zieren große rote Wahlplakate mit dem Konterfei Putins die Straßen.  Sie zeigen den russischen Machthaber zusammen mit Igor Dodon, dem Chef der Sozialistischen Partei Moldaus. Darunter steht die simple Botschaft: „Zusammen mit Russland“. Dodon will das Assoziationsabkommen mit der EU aufkünden und sucht den Anschluss an die im Mai dieses Jahres gegründete Eurasische Wirtschaftsunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan. Seine Partei, gegründet 1997, könnte zum ersten Mal den Sprung ins Parlament schaffen.

Als stärkste Partei werden wohl wieder die Kommunisten, die heute in der Opposition sind, aus der Wahl hervorgehen. Die vom langjährigen Staatspräsidenten Vladimir Voronin geführte Partei hatte einst für eine eurasische Zollunion votiert, sich dann für die Hinwendung zur EU entschieden, beharrte aber auch auf einer Verbesserung der Beziehungen zu Russland, forderte eine Neuaushandlung des Assoziationsabkommens mit der EU und blieb schließlich der Abstimmung zu dessen Ratifizierung einfach fern. Eine Wischiwaschi-Haltung, die den Kreml geradezu zu Pressionen einlädt.

Es kann durchaus sein, dass die drei mehr oder weniger liberalen Parteien der heutigen proeuropäischen Regierungskoalition bei den Wahlen keine Parlamentsmehrheit mehr zustandekriegen. „Unsere Politiker wollen nicht Politik gestalten“, sagt der Analyst Igor Botan, „sondern sich schlicht bereichern, die politische Rente einstreichen.“ Vorsitzender der Demokraten, der stärksten Regierungspartei, ist Marian Lupu, ein gewendeter Kommunist, aber der wirkliche Parteichef, da besteht kein Zweifel, ist Vladimir Plahotniuc. Der Oligarch soll es als Geschäftsführer einer der größten Banken des Landes und als Topmanager des moldauischen Zweigs der rumänischen Erdölgesellschaft Petrom zu einem Vermögen von 300 Millionen Dollar gebracht haben. Viele Moldauer sind enttäuscht, behaupten, die EU unterstütze ein korruptes System und wählen prorussische Parteien.

Die schrillste Kritik an der Korruption kommt von einem politischen Newcomer namens Renato Usatîi, der auf den Wahlplakaten der kleinen Heimatpartei ohne Jackett und mit offenem Hemd auftritt. Die Botschaft: Ich gehöre nicht zur politischen Klasse. Ich bin einer, der anpackt. Der Schlachtruf des 36-Jährigen: „Nu mafia!“ – „Weg mit der Mafia!“ Ustîi hat nicht nur den moldauischen, sondern auch den russischen Pass. Sein Vorbild sei der weißrussische Staatschef Alexander Lukaschenko, sagt er. Der steht im Ruf, der letzte Diktator Europas zu sein. Auch Putin schätze er sehr, beteuert der Jungpolitiker und Businessman, der seine Millionen angeblich mit einem Unternehmen in Russland verdient hat. Viele Moldauer halten Usatîi, der russischsprachigen Medien Moldaus zu einem Philanthtropen aufgebaut wird, schlicht für einen Strohmann Putins.

Der Kreml-Herrscher hat aber längst auch seine eigenen Soldaten im Land. Bloß ist dies im Wahlkampf überhaupt kein Thema. In Transnistrien, einem schmalen Landstreifen zwischen Moldau und der Ukraine, der sich 1991 für unabhängig erklärt hat, sind über tausend russische Soldaten stationiert. Völkerrechtlich gehört Transnistrien weiterhin zu Moldau. Faktisch aber hat die Regierung in Chisinau, die offiziell auf der Wiedereingliederung des Territoriums besteht, keinen Einfluss mehr auf die Sezessionisten, die zwar eine eigene Währung, ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung haben, aber wirtschaftlich vollständig am Tropf Moskaus hängen.

Während im von der Regierung in Chisinau kontrollierten Teil des Landes etwa 75 Prozent der rumänischsprachigen Mehrheit der Moldauer angehören und nur etwa sechs Prozent der russischen Minderheit, ist die Bevölkerung Transnistriens zu etwa je einem Drittel russisch, ukrainisch und moldauisch. Jüngst drohte der russische Vizeministerpräsident Dmitrij Rosigin, der zugleich Moskaus Sonderbeauftragter in Transnistrien ist, dass Russland die in der Region lebenden russischen Bürger notfalls verteidigen werde. Im Frühling dieses Jahres wurden die russischen Truppen in Transnistrien in Alarmbereitschaft versetzt, Manöver abgehalten. Transnistrien ist ein wichtiger Joker im Machtspiel Putins um Einfluss in Osteuropa.

Wenn die Transnistrier mitwählen würden, was sie dürfen, aber in ihrer übergroßen Mehrheit unterlassen werden, wäre es vermutlich mit der proeuropäischen Mehrheit in Moldau dahin. „Deshalb hat die Regierung in Chisinau kein Interesse, dass ihre in Transnistrien lebenden Bürger wählen gehen“, vermutet der Analyst Botan und spottet: „Wäre Putin klug, würde er auf einer Wiedervereinigung Moldaus bestehen.“

Aber Putin hat noch einen zweiten Joker, wenn er den Europa-Kurs Moldaus torpedieren und das Land destabilisieren will: die Gagausen.  Sie leben im Süden Moldaus. Und wie Transnistrien spaltete sich im Lauf des Zerfalls der Sowjetunion zeitweilig auch Gagausien von Moldau ab. Seit 1994 aber leben sie in einer autonomen Region und anerkennen die Regierung in Chisinau. Die Gagausen sind ein Turkvolk, aber gehören wie die allermeisten Moldauer der orthodoxen Kirche an. Zuhause sprechen sie in der Regel gagausisch, eine dem Türkischen eng verwandte Sprache, in der Öffentlichkeit eher russisch. Moldauisch, die Staatssprache, beherrschen die meisten nur rudimentär.

Hauptstadt der Gagausen ist Comrat, eine Kleinstadt, die nichts Aufsehenerregendes zu bieten hat. Der Regierungssitz ist ein hässlicher Betonklotz, vor dem ein steinerner Mann mit Schirmmütze und Aktentasche unter dem Arm steht. Es ist Lenin. Vorwärts schreitend. Mihail Formuzal, der 55-jährige Regierungschef Gagausiens oder Baskan, wie man auf gagausisch sagt, ist eine elegante Erscheinung. Er bereitet den Kaffee selbst zu, den er dem Gast anbietet – türkischen Kaffee aus dem Kupferkännchen.

Formuzal schätzt die „europäischen Werte“, wie er sagt. Sein Sohn studiert im hessischen Gießen, seine Tochter hat den Master in Genf gemacht. Er schimpft auf die Korruption in Chisinau, auf die Vetternwirtschaft in der Hauptstadt. In Gagausien hingegen herrsche Ordnung, würden die Menschenrechte respektiert, hätten sich die Exporte in den letzten acht Jahren – so lange regiert er die Region – sich verdoppelt.

Trotz aller Hochachtung vor den „europäischen Werten“ sieht Formuzal  die Zukunft Gagausiens im Osten. „Die Bevölkerung will von einer Integration in die EU nichts hören, unsere Leute wollen nicht nach Europa“, sagt Formuzal. Was die Gagausen wollen, wurde im vergangenen Februar bei einem Referendum erfragt, dessen Durchführung das Verfassungsgericht in Chisinau zwar verbot, was den Baskan aber nicht weiter kümmerte. 70 Prozent beteiligten sich. Von ihnen sprachen sich 98 Prozent für engere Beziehungen zu Putins Eurasischer Zollunion aus, 97 Prozent waren gegen engere Beziehungen zur EU, und 99 Prozent sprachen sich für die Unabhängigkeit aus, falls Moldau seine Souveränität verliere, womit eine Vereinigung mit Rumänien gemeint war. Die ist zwar längst außer Diskussion, aber ruft bei den Gagausen noch immer Ängste hervor.

Man mag die Zahlen im Einzelnen anzweifeln. Fest steht jedoch, dass eine überwiegende Mehrheit der Gagausen ihr Heil im Osten sieht. „Die Lösung ist nicht auf dem westlichen Markt, sondern auf dem östlichen“, sagt Formuzal, „50 Prozent der gagausischen Arbeitskräfte arbeiten in Russland. Unsere Wirtschaft ruht auf ihren Schultern. Und 10 Prozent arbeiten in der Türkei. Das sind für uns beides traditionelle Absatzmärkte.“

Für das russische Embargo für Fleisch aus Moskau hat der Baskan durchaus Verständnis. Auch für ihn ist es eine Frage der Hygiene. „Für einige europäische Länder ist Moldau eine Mülltonne. Da kommt schlechte holländische Wurst an, wird mit dem Stempel ‚Made in Moldova’ versehen und dann nach Russland reexportiert.“ In Gagausien wird ein Großteil des moldauischen Weines produziert. Auch die Gagausen litten unter dem Embargo der Russen – bis sich Formuzal nach Moskau aufmachte. Fünft große gagausische Weingüter dürfen nun weiterhin nach Russland exportieren. „Wir garantieren, dass russische Experten rund um die Uhr unsere Weinkeller inspizieren können“, sagt der Baskan, „und wir garantieren, dass wir nur unsere eigenen Weine reexportieren. Wenn die Russen in die Modernisierung unserer Weinwirtschaft investieren wollen, werden sie fünf Jahre lang von Steuern befreit.“

Befürchtet Formuzal denn nicht, zur Schachfigur in Putins Poker um die Erweiterung der russischen Einflusssphäre zu werden? Teilt er die Ängste Angela Merkels nicht, die jüngst davor gewarnt hat, dass Putin nach der Ukraine auch nach Moldau ausgreifen könnte. „Es gibt tausend Arten, einen Bären aus seiner Höhle zu locken“, sagt Formuzal, „aber wie man ihn wieder in seine Höhle zurück bringt, weiß niemand. Die Europäer haben den Bären aus der Höhle gelockt. Der Köder, aber das sagt der Baskan nicht, war der von den er EU angebotene Assoziationsvertrag.

©Berliner Zeitung

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 26.11.2014 (oben unredigierte, ungekürzte Version)