Eine solche Geschichte kann jeder erfinden. Wladmir Diminet ahnt den Zweifel. Etwas verlegen krempelt er den dicken Wollpullover hoch und zeigt die zwanzig Zentimeter lange Narbe über der linken Hüfte. Es stimmt also. Der 22-jährige Mann hat sich eine Niere herausoperieren lassen. Wie mindestens dreizehn weitere gesunde Menschen im Ort. Wahrscheinlich sind es viel mehr. Die Rede ist von fünfzig. Die Leute in Mingir, einem Dorf mit rund 4000 Einwohnern, etwa hundert Kilometer südwestlich von Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens, sprechen nicht gerne über das, was geschehen ist – und wohl weiter geschieht, wenn nicht hier, dann in andern Dörfern im ärmsten Land Europas.
Mingir liegt in einer fruchtbaren Landschaft. Rebstöcke, Tabakplantagen und Weizenfelder ziehen sich über sanft geschwungene Hügel hin. Moldawien war einst die reichste aller Sowjetrepubliken. Hier wurde der Wein angebaut, mit dem sich die Nomenklatura in Moskau versorgte. Und selbst im fernen Sibirien schwärmte man vom moldawischen Cognac. Damals, so sagen die Leute im Rückblick, flossen Milch und Honig. Heute erreicht der unabhängige Staat, der zwischen Rumänien und der Ukraine eingeklemmt ist, ein Bruttosozialprodukt, das knapp 35 Prozent desjenigen von 1990 beträgt.
PLUMPSKLO IM BRETTERVERSCHLAG
Entsprechend sieht Mingir aus: heruntergekommen. Jedes Gefährt zieht eine grosse Staubwolke hinter sich her. Vom Kulturzentrum bröckelt der Putz, auch das Dorfkino ist seit Jahren verwaist, und auf dem Platz vor dem Gemeindehaus wuchert das Unkraut. Nur die Kirche scheint eine Ausnahme zu machen. Vor drei Jahren wurde sie renoviert. Jetzt liegen etwa zwei Dutzend selbst gebackene Brote, einige Eier und ein grosser Plastikeimer voller Rotwein vor der Ikonenwand. Es ist der Nikolaus-Tag, der Tag des Dorfheiligen, und die Armen haben für die noch Ärmeren gespendet.
Wladmir Diminet wohnt am Rand des Dorfes. Er öffnet das hohe Holztor und gibt den Blick auf das ärmliche Anwesen frei. Links ein Koben, aus dem zwei Schweine grunzen, ein Kaninchenstall und ein halbes Dutzend Hühner, rechts das Häuschen. Drei Zimmer: in der Mitte die Küche mit einem kleinen Beistellherd, auf der einen Seite davon Wladmirs Schlafraum, zwei auf drei Meter, auf der andern das nicht viel grössere Schlafzimmer des Vaters. Hinter dem Haus ein Garten, in dem ein Plumpsklo mit vier Holzwänden steht, und dahinter ein kleiner Rebberg. Fliessendes Wasser gibt es nicht. Man geht zu einem der Dutzend Ziehbrunnen im Dorf.
Die Mutter ist vor acht Jahren gestorben, die Schwester legal in die Ukraine ausgewandert, der Bruder illegal nach Deutschland. So lebt Wladmir nun mit seinem Vater allein. Arbeit hat er keine und Geld auch nicht. Sein Vater, sechzig Jahre alt, erhält eine monatliche Pension von 120 Lei, was gerade mal 14 Schweizer Franken entspricht. Da ist man froh um
jedes Ei, das die Hühner legen, und um jedes weitere Kaninchen. Einmal im Jahr wird ein Schwein geschlachtet. Der Wein reicht gerade für den eigenen Bedarf, wie auch der scharfe Schnaps und die wenigen Kirschen.
ZEHN JAHRESGEHÄLTER FÜR EINE NIERE
Vor drei Jahren hat Wladmir über einen Freund erfahren, dass eine Frau aus dem Dorf Arbeit vermittle. Er suchte die 24-jährige Mariana Boizeonu auf. Sie versprach ihm einen Job in einer türkischen Fabrik. Stockend berichtet der schmächtige, in sich gekehrte Mann, wie alles seinen Anfang nahm: «Sie besorgte mir einen Pass und kaufte mir ein Busbillett. Wir fuhren zusammen mit einer andern Frau von hier, die in derselben Fabrik arbeiten wollte, über Rumänien und Bulgarien in die Türkei. Dort kamen wir in einem Hotel unter. Nach drei Tagen traf eine Moldawierin ein.» Es war die inzwischen von Interpol gesuchte Nine Scobioala. Aber das erfuhr Wlad-mir erst später. «Sie sagte uns, die Fabrik sei leider Pleite gegangen. Wir überlegten, was wir tun könnten. Geld hatten wir ja nicht. Schliesslich gab uns die Frau den Tipp, eine Niere zu verkaufen. Dafür gebe es 3000 Dollar. Sie könne die Sache vermitteln.»
3000 Dollar – dafür arbeitet in Moldawien ein Arzt bei einem monatlichen Salär von 25 Dollar zehn Jahre lang und ein Lehrer sogar dreizehn. Wladmir überlegte nicht lange. Er wurde zu einer Privatklinik geführt. Wie der Chirurg hiess, der ihn operierte, hat er nie erfahren. Schriftliche Unterlagen besitzt er keine. Aber höchstwahrscheinlich war es Yusuf Sönmez, der in der türkischen Presse zum «Dr. Frankenstein» avancierte und der laut einem BBC-Report eine Reihe von Männern aus Mingir um eine Niere erleichtert hat. Sönmez, der einzige privat arbeitende Nierenspezialist der Türkei, wurde in den letzten fünf Jahren schon sechsmal wegen Verdachts illegaler Transplantationen festgenommen, zuletzt am 14. März dieses Jahres. Da stiess die Polizei bei einer Razzia in seiner Privatklinik in Istanbul auf zwei Moldawier, denen eine Niere entnommen, und auf zwei Israelis, denen eine Niere eingesetzt worden war. Doch kam Sönmez wieder auf freien Fuss, da er ein Dokument vorlegte, auf dem die Moldawier mit ihrer Unterschrift bestätigten, ihre Niere freiwillig zu spenden. Ein Verkauf der Organe konnte nicht nachgewiesen werden. So einfach war das.
Noch fünf Tage behielt man Wladmir nach der Operation in der Klinik, dann brachte man ihn in eine Privatwohnung, wo er weitere elf Tage blieb und wo man ihm schliesslich die versprochenen 3000 Dollar aushändigte. Danach fuhr er mit dem Bus wieder nach Mingir zurück. Dort traf er bald die Frau wieder, die mit ihm in die Türkei gefahren war, um in der Fabrik zu arbeiten. Sie war nach Georgien gebracht worden und ebenfalls mit nur einer Niere zurückgekehrt.
Heute ist Wladmir so arm wie zuvor. 400 Dollar hat er seiner Schwester geschenkt, die in der Ukraine lebt; 600 Dollar gab er seinem Bruder, der das Geld brauchte, um die Schlepper zu bezahlen, die ihn nach Deutschland ge-schleust hatten. Dann kaufte er sich noch einen Fernsehapparat. Kurz danach schon kamen drei maskierte Männer, schlugen ihn zusammen, raubten ihm den Fernseher und knöpften ihm auch das übrig gebliebene Geld ab. Es waren Leute aus dem Dorf, die offenbar wussten, dass er in der Türkei eine Niere verkauft hatte und dass es bei ihm etwas zu holen gab. Einen erkannte Wladmir sogar. Aber den Namen mochte er der Polizei im Dorf nicht verraten. Doch in Chisinau erstattete er Anzeige gegen ihn. Zu Ermittlungen kam es nie.
DIE MÄNNER LASSEN SICH BECIRCEN
Auch Mariana Boizeonu, die mindestens ein Dutzend Männer aus dem Dorf mit dem Versprechen auf Arbeit in die Türkei gelockt hatte, um sie dort an Nine Scobioala weiterzureichen, wird offenbar nicht ernsthaft gesucht. Sie wohnt in einem armseligen Häuschen aus gestampftem Lehm. Erst nach mehrmaligem Klopfen öffnet sich die Tür. Heraus tritt ihr Vater, ein misstrauischer Bauer mit mürrischem Gesicht. «Wir möchten gerne Mariana sprechen.» – «Sie ist nicht hier.» – «Ist sie denn schon länger weg?» – «Seit heute früh.» – «Wann kommt sie wieder?» – «In zwei Wochen.» – «Wenn sie in die Hauptstadt gefahren ist, könnten wir sie ja vielleicht dort treffen…» – «Ich weiss nicht, wo sie ist.» Kaum anzunehmen, dass er es nicht weiss. Versteckt sie sich im Haus? Der Mann gibt uns unmissverständlich zu verstehen, dass wir verschwinden sollen. Auch die Nachbarn sind nicht gesprächiger. «Es ist besser, wenn Sie hier verschwinden», meint einer und greift zu einem Holzknüppel.
KRANK UND VERBITTERT
Nein, Wladmir Diminet würde es nicht noch einmal tun. Er fühlt sich schwächer als vorher, hat Probleme mit der andern Niere bekommen. Er musste sogar ins Krankenhaus der Bezirkshauptstadt, verliess es aber schon nach einer Woche wieder, weil er die 250 Lei, umgerechnet 30 Franken, für die Medikamente nicht aufbringen konnte. Sein Hauptproblem aber: «Mit nur einer Niere werde ich in Mingir doch nie eine Frau finden, so einen wie mich will doch niemand.» Und dabei ist er erst 22 Jahre alt. So lebt er zurückgezogen, verbittert, fühlt sich als Wrack und hofft, dass sein Bruder sich eines Tages erkenntlich zeigt und ihm Geld aus Deutschland zukommen lässt, damit er nachkommen kann. In Moldawien sieht er für sich keine Zukunft.
Adrian Tanase kennt die Geschichten aus Mingir. Der Chef des Dialyse- und Nierentransplantationszentrums des staatlichen Spitals von Chisinau musste auf Anordnung der Polizei bereits fünf junge Männer untersuchen, die sich im Ausland eine Niere hatten herausoperieren lassen. Er geht davon aus, dass es in Moldawien noch mehr Dörfer wie Mingir gibt, wo die Menschen bereit sind, eine ihrer Nieren zu verkaufen. Doch über diesen Skandal mag er nicht reden. «Das ist ein soziales Problem», sagt er, «ich bin Arzt, bitte schauen Sie sich den Dialyseraum an.» Tanase hat 91 Patienten, die an der künstlichen Niere hängen, zum grössten Teil sind es alte Apparate aus sowjetischen Zeiten. Nur bei jedem Dritten kommt eine Transplantation überhaupt in Frage. Doch die Wartezeit beträgt zwei bis drei Jahre. 250 Nieren hat der Arzt seit 1982 schon transplantiert. Früher oft 20 bis 25 pro Jahr. Jetzt sind es viel weniger geworden. In diesem Jahr waren es erst zwei. Es fehlt an Geld für die Medikamente und für die Reanimationsausstattung. Auch Nieren von lebenden Personen hat Tanase schon des Öftern transplantiert. Doch dürfen in Moldawien – anders als in der Schweiz, wo jeder jedem spenden darf – nur Verwandte ersten Grades ihr Organ hergeben. Das strenge Gesetz soll dem Organhandel einen Riegel vorschieben.
300 KINDER VERSCHWUNDEN
Solange es jedoch an verfügbaren Nieren mangelt, werden zahlungskräftige Patienten immer skrupellose Ärzte finden, die aus dem dunklen Geschäft des Organhandels Profite erzielen, von denen Menschen wie Wladmir Diminet nur träumen können. Schon vor anderthalb Jahren warnte die Weltgesundheitsorganisation, dass der Verkauf von Nieren aus Moldawien sich zu einem regelrechten Geschäftszweig zu entwickeln drohe. Sicher ist, dass der Organhandel weltweit längst zu einem lukrativen Geschäft geworden ist. Über die Ausmasse, die er in Moldawien angenommen hat, kann man nur spekulieren. Aber in Chisinau hegen auch durchaus seriöse Personen schrecklichen Verdacht.
Zum Beispiel Ala Mandacanu. Die Vizepräsidentin der kleinen Sozialliberalen Partei, die bereits 1990, zu sowjetischen Zeiten, eine unabhängige Frauenliga gegründet hat, ist
eine selbstbewusste Politikerin mit Charme. Ihre erste Intervention als Parlamentarierin betraf den Schutz von Minderjährigen. Das war 1994. An die 300 Kinder waren verschwunden. Opfer eines kriminellen Adoptionshandels oder von Organhändlern? Sie sind nie wieder aufgetaucht. Aber Beweise für ihren bösen Verdacht hat Mandacanu keine.
Menschen verkaufen ihre gesunden Nieren, vielleicht sogar ihre eigenen Kinder. Wo sind die Schranken? Wie tief kann ein Mensch sinken? Im vergangenen Jahr wurden in Chisinau zwei Obdachlose festgenommen, die vor einer Metzgerei 15 Kilo Menschenfleisch zum Verkauf anboten – als Hundefleisch, wie das Innenministerium mitteilte –, zu weniger als vier Franken das Kilo. Es waren amputierte Körperteile, die eine Krebsklinik in eine Mülltonne geworfen hatte, anstatt sie vorschriftsgemäss zu entsorgen. Sicher ein Einzelfall, der sich nicht allein durch die Verelendung von Menschen erklärt, aber doch auch für die Erosion moralischer Hemmschwellen steht.
DIE POLIZEI SCHAUT ZU
Am deutlichsten zeigen sich die wirtschaftlich bedingten sozialen Verwerfungen in der enormen Ausweitung von Prostitution und Frauenhandel. Ala Mandacanu, die sich seit 1996 mit dem Problem befasst, schätzt, dass jährlich etwa 100000 Frauen das nur knapp vier Millionen Einwohner zählende Moldawien verlassen und vorwiegend in Bosnien, Mazedonien, im Kosovo, aber auch in Italien, Griechenland oder auf Zypern in der Prostitution enden. Viele rechnen bei ihrer illegalen Ausreise wohl damit, dass sie als Sexarbeiterinnen ihr Geld verdienen werden. Wie gross aber der Anteil jener ist, die ahnungslos brutalen Händlerringen ins Netz gehen, weiss niemand. Ala Mandacanu ist wie viele hier überzeugt, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den lukrativen Handel verstrickt sind. Doch Beweise hat sie keine.
Eugen Rusu ist laut seiner Visitenkarte in der Generalstaatsanwaltschaft Leiter der Abteilung für Ökologie und Minderjährige. Eine etwas seltsame Kombination, aber er ist auch zuständig für Frauenhandel. Den gebe es in Moldawien seit fünf oder sechs Jahren, sagt er, ein Gesetz, das ihn verbietet aber erst seit dem vergangenen August. Der neue Artikel 113, Absatz 2 des Strafgesetzbuches sieht für den illegalen Menschenhandel, verbunden mit sexueller Ausbeutung, Freiheitsentzug bis zu 25 Jahren vor. Doch bis heute sitzt in Moldawien kein einziger Mann wegen Frauenhandels im Knast, wie Rusu zugeben muss. Es gab nur zwei Prozesse, die beide eingestellt wurden. Im Innenministerium gebe es zwar eine Abteilung für organisierte Kriminalität. Doch von den 28 Planstellen seien dort erst drei besetzt. «Die Polizei ist an solchen Dingen nicht sonderlich interessiert», sagt Rusu ohne Umschweife, «sie macht ihren Job schlecht.»
Es gibt in Moldawien Dutzende von Agenturen, die Arbeit im Ausland vermitteln. Die allermeisten haben keine Lizenz und riskieren deshalb eine Strafe von 180 Lei (21 Franken). Doch wer Klienten bewusst täuscht, kann wegen Betrugs – je nach Schwere des Delikts – immerhin zu zwei bis 15 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Im Jahr 2000 gab es über 209 Betrugsverfahren, aber nicht ein einziges im Zusammenhang mit Frauenhandel. In der moldawischen Presse erscheinen täglich Anzeigen, mit denen Arbeitswillige für die Prostitution geködert werden. Vor allem junge Frauen vom Land mit niedrigem Schulabschluss fallen ihnen zum Opfer. Aber nicht nur. Irina Ponomoriowa wusste natürlich, was womöglich gemeint ist, wenn eine gut bezahlte Stelle im Ausland als Kellnerin, Putzhilfe oder Babysitterin angeboten wird. Aber als die diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin im letzten Januar las, dass ein Betrieb in Slowenien eine Managerin mit Hochschulabschluss suchte, wählte sie sofort die angegebene Nummer an.
Irina Ponomoriowa ist in der nordostsibirischen Hafenstadt Magadan geboren. 1988 zog sie nach Moldawien um, das damals noch im selben Staat, der Sowjetunion, lag. Die Russin mit moldawischem Pass erzählt: «Wir waren vier Frauen, alle mit Wirtschaftsdiplom, ich war mit 32 Jahren die jüngste, die älteste war 38.» Ein Alter, dachte sie, das für Frauenhändler nicht mehr interessant sei. Weit gefehlt. Am 20. Januar brachte ein Mann die vier Arbeitsuchenden ganz legal im Taxi über die Grenze nach Rumänien. In Iasi bestiegen sie den Zug nach Temesvar, der Hauptstadt der rumänischen Provinz Banat. Um sechs Uhr früh überquerten sie – diesmal illegal, aber die schlecht bezahlten Zöllner machten offenbar keine Probleme – die Grenze nach Serbien. In Belgrad kamen die vier Frauen in einem Apartment an der Juri-Gagarin-Strasse unter. «Dort befahl man uns, die Brust freizumachen», erzählt Irina Ponomoriowa, «und als wir uns darauf keinen Reim machen konnten, meinte unser Begleiter schroff: ‹Tut bloss nicht so, als ob ihr noch nicht geschnallt habt, weshalb ihr hier seid.› Wir waren zwölf Tage in Belgrad, ohne Telefon, eingeschlossen.» Schliesslich tauchte ein Rumäne namens Romika auf, der ihnen sagte, er werde sie am kommenden Tag nach Mazedonien bringen. Mag sein, dass Irina ihre Trinkfestigkeit in den sibirischen Wintern erworben hat. Jedenfalls soff sie ihren neuen Bewacher unter den Tisch. Bei der zweiten Flasche Wodka fiel ihm das Kinn auf die Brust, und sie sprang um fünf Uhr früh aus dem ersten Stock ins Freie. Sie rannte zur Polizei. Dort wurde sie stundenlang verhört, musste sich vor Männern ausziehen und von Männern abtasten lassen, bevor die Polizisten schliesslich – neun Stunden nach ihrem Sprung in die Freiheit – mit ihr zur Juri-Gagarin-Strasse gingen. «Da war die Wohnung natürlich längst leer.» Die andern Frauen hätten leicht ebenfalls fliehen können. Doch sie zogen ein unsicheres Schicksal in Mazedonien dem sicheren Elend in Moldawien vor.
DAS ELEND DER WAISEN
Man kann das Elend in Zahlen fassen. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist etwa halb so hoch wie in Albanien. Im westlichen Nachbarland Rumänien ist die Kaufkraft viermal höher. 600000 Moldawier sind – zu über 99 Prozent illegal – ins Ausland ausgewandert und verhindern mit den Geldern, die sie an ihre zurückgebliebenen Angehörigen überweisen, eine Hungerkatastrophe. Man kann das Elend aber auch sehen – am deutlichsten in den Waisenhäusern. Zum Beispiel in Tiraspol.
Tiraspol ist die Hauptstadt Transnistri- ens, des schmalen Landstreifens jenseits des Dnjestr, der sich im September 1991 von Moldawien lossagte, als sich dieses nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion für unabhängig erklärte. Moldawien erhob damals das Rumänische, die Muttersprache von zwei Dritteln der Moldawier, zur alleinigen Staatssprache und überlegte sich zeitweise sogar den Zusammenschluss mit Rumänien. Das führte zu Spannungen mit der «Transnistrischen Moldawischen Republik» mit ihren 700000 Einwohnern, die zu zwei Dritteln russischer und ukrainischer Muttersprache sind. 1992 kam es zu einem kurzen Krieg, bei dem über tausend Menschen starben. Der abtrünnige Landesteil wird zwar weltweit von keinem einzigen Staat anerkannt, doch hat er seine eigene Währung, seine eigene Armee, sein eigenes Parlament und seinen eigenen Präsidenten.
Ausländern wird an der Grenze ein Visum für drei Stunden ausgestellt. Eine Reise nach Transnistrien ist eine Reise in die Vergangenheit. Vor dem Präsidentenpalast erhebt sich eine gigantische Leninstatue. Und auch vor dem Obersten Sowjet thront eine Büste des Gründers der Sowjetunion. Der Verkehr fliesst spärlich, das Leben ist geruhsam, alles scheint seinen kommunistischen Gang zu gehen. Doch es kann auch eine Reise in eine schreckliche Gegenwart sein. Stanislaw Petrow ist Direktor eines Heimes für geistig behinderte Kinder. Sie leiden an angeborener oder im frühesten Kindesalter erworbener Intelligenzschwäche oder Oligophrenie, wie es die Wissenschaft freundlicher ausdrückt. Der schwerste Grad, der aber hier am häufigsten vorkommt, ist die Idiotie. Die meisten Kinder sind verhaltensgestört, haben Stoffwechselanomalien und sind auch physisch verkrüppelt. Einige zappeln unkontrolliert, andere stieren schweigend und apathisch vor sich hin. «Die meisten sind Kinder von Alkoholikern», sagt Petrow, «was der Staat gibt, reicht nicht einmal für die Nahrung, geschweige denn für Medikamente.» Dann legt er einen kleinen Jungen, der sich unter die Decke verkrochen hat, frei. Zum Vorschein kommen Beinchen, wie man sie von Bildern über die Dürrekatastrophen in Afrika her kennt.
Wenige Häuserblocks weiter steht ein Waisenhaus. Es gibt weder warmes Wasser noch eine Heizung. Neunzig Prozent der Kinder wurden von ihren Eltern verlassen. «Viele wissen nicht mehr, wie sie ihre Kinder durchbringen können», sagt Galina Derewjanco, die Direktorin, «viele geben sie einfach hier ab, weil sie sich illegal ins Ausland durchschlagen wollen.» Bis April versorgten die Apotheker ohne Grenzen noch einen grossen Teil der über 20000 Kinder, die in staatlichen Waisenhäusern, Heimen und Internaten beidseits des Dnjestr leben. Doch im Januar wurden der Hilfsorganisation die Gelder der Europäischen Union gestrichen. Noch kommen die «Apotheker», die achtzig Prozent der Pulvermilch, der Babynahrung und der Medikamente geliefert haben, im Waisenhaus vorbei, aber nun mit leeren Taschen. Derewjanco, die seit 25 Jahren das Haus leitet, weiss zum ersten Mal nicht mehr, wie es weitergehen soll.
DIE MOLDAWIER HABEN KEINE CHANCE
Auf dem Rückweg nach Chisinau wieder Zollkontrolle. Das Visum ist längst abgelaufen. Acht Stunden Verspätung. Das kostet sechs Dollar. Oder – für beide Seiten vorteilhaft – vier Dollar ohne Quittung. Auf der moldawischen Seite gibt es keine Grenzkontrolle. Das hiesse ja, die Existenz Transnistriens und damit den Verlust eines Teils des eigenen Territoriums anzuerkennen. Doch es sieht nicht danach aus, als ob Moldawien den Streifen jenseits des Dnjestr sich bald wieder einverleiben könnte. Selbst wenn die russischen Truppen zum Jahresende, wie vereinbart, bis auf ein kleines Kontingent abziehen sollten, wird Igor Smirnow, der gewählte Präsident Transnistriens, seinen eigenen Staat nicht aufgeben wollen. Hier kämpft schliesslich jeder um seine Pfründen. Aber auch Moldawien wird vom
Anspruch auf das gesamte Territorium der vormaligen Sowjetrepublik nicht abrücken, zumal es mit Transnistrien sechzig Prozent seiner Gesamtindustrie verloren hat.
Der Verlust der Industriegebiete jenseits des Dnjestr hat zur Verarmung Moldawiens wesentlich beigetragen. Nachdem im vergangenen Jahr in Chisinau die Kommunisten die Parlamentswahlen gewannen und nun auch den Präsidenten stellen, ist alles noch schwieriger geworden. Der Internationale Währungs- fonds und die Weltbank haben sämtliche Finanzhilfen eingestellt, weil in der Tabak- und Weinindustrie die Privatisierung stockt, die staatliche Kontrolle der Preise in vielen Bereichen nicht aufgehoben ist und Moldawien,
das die wirtschaftliche Annäherung an Moskau sucht, einen Vertrag mit dem russischen
Gaskonzern Gazprom abgeschlossen hat, der Klauseln seines Vertrags mit den internationalen Finanzinstituten widerspricht.
Es wird also noch enger werden in Moldawien. Zudem wird die Ukraine noch in diesem Juli die Passpflicht für Moldawier einführen. Das bedeutet ein Einreiseverbot für alle, die sich das durchschnittliche Monatsgehalt, das ein solches Dokument kostet, nicht zusammensparen können. Und schon befürchten in Chisinau viele, dass der westliche Nachbar Rumänien, mit dem Moldawien geschichtlich so viel verbindet, die Visumspflicht einführt, um den Anforderungen der erweiterten Europäischen Union zu genügen. Europa schottet sich ab, und Moldawien bleibt aussen vor. Für Nieren und Sexsklavinnen allerdings gibt es keine Grenzen.
Thomas Schmid, „Die Weltwoche“ 13.06.2002