Die neue makedonische Frage

Eine überbesetzte Pförtnerloge, kahle Wände, leere Korridore, ab und zu jemand mit einem Ordner unter dem Arm. Ansonsten gespenstische Stille. Am früheren Sitz des Zentralkomitees der einst allmächtigen Partei scheint noch der alte kommunistische Geist zu wehen. Doch im zweiten Stockwerk herrscht rege Geschäftigkeit. Hier hat Dimitr Belcev sein Büro.

Der Staatssekretär im Außenministerium der Republik Makedonien, zuständig für außenwirtschaftliche Fragen, hat sich vor einer Stunde von seinem deutschen Amtskollegen Helmut Schäfer verabschiedet. Danach hat er den Handelsattaché der Botschaft Sloweniens, des wichtigsten Abnehmers makedonischen Weines, getroffen und ist eigentlich schon auf dem Flug nach Ankara. Der parteilose Politiker hat langjährige Erfahrung im Export-Import-Geschäft. In diesen Zeiten, wo es dem jungen Staat darum geht, das wirtschaftliche Überleben zu improvisieren, ist er der richtige Mann am richtigen Ort. Nachdem Griechenland am 16. Februar eine Handelssperre gegen Makedonien verfügt hat, droht der südlichsten Republik des ehemaligen Jugoslawien der wirtschaftliche Kollaps.

In Skopje schienen ruhigere Zeiten anzubrechen, als die UNO- Vollversammlung im April vergangenen Jahres Makedonien per Akklamation in ihre Reihen aufnahm. Das zwar unter dem seltsamen Namen „Frühere Jugoslawische Republik Makedonien“ und ohne Flagge, aber immerhin war der Staat nun international anerkannt. Die Epoche war endgültig besiegelt, in der der Landstrich namens Makedonien Zankapfel der Kleinstaaten und Spielball der Großmächte war. Insofern schien die leidige „makedonische Frage“ endlich gelöst.

Doch wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, läßt sich schlecht in Frieden leben. Griechenland ist aus zwei Gründen böse: wegen des Namens „Makedonien“ und wegen der sechzehnstrahligen goldenen „Sonne von Vergina“, die als offizielles Staatsemblem gewählt wurde. Bei Vergina in Nordgriechenland wurde 1976 in der mutmaßlichen Grabkammer Philipps II. – Vater Alexanders des Großen, Herrscher über ein Makedonisches Reich im vierten Jahrhundert vor Christi Geburt, also tausend Jahre vor der slawischen Einwanderung in den Balkan – das Corpus delicti als Verzierung einer goldenen Truhe gefunden.

Beides – Name und Sonne – hält die griechische Regierung für den Beweis für Gebietsansprüche des Nachbarlandes. So hat sie, ohne neuen konkreten Anlaß und weitere Begründung, vor drei Wochen ein Handelsembargo gegen Makedonien verhängt. Makedonien bezieht den allergrößten Teil seiner Importe – vor allem das gesamte Rohöl – über den Hafen in Thessaloniki. Sollte sich Griechenland dem Druck der übrigen elf EU- Staaten nach Öffnung seiner Grenze für den Handel und Güterverkehr nicht beugen, drohen der makedonischen Wirtschaft serbische Verhältnisse. Wirtschaftlich sieht es ohnehin schlecht aus. Noch liegt der monatliche Durchschnittslohn in Skopje knapp über 200 Mark. Soviel verdient man in Belgrad in einem Jahr. Zusätzlich besteht die Gefahr, daß sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise die ethnischen Spannungen zwischen makedonischer Mehrheit und albanischer Minderheit in offenen Konflikten entladen.

„Schon vor dem 16. Februar gab es faktisch ein Embargo“, sagt Belcev, „schon lange dürfen Personen mit makedonischem Paß und Autos mit makedonischen Kennzeichen nicht mehr nach Griechenland rein – doch wie soll man Handel treiben, wenn man den Partner nicht treffen kann?“ Die Mimik des ehemaligen Geschäftsmanns verrät, daß er solches Gebaren kindisch findet. Die Konsequenzen ärgern ihn aber doch: „Natürlich ist das Öl das Blut jeder Wirtschaft, aber wir haben auch vorgesorgt, wir haben ja unsere Erfahrungen gemacht.“

Vor anderthalb Jahren hatten die Griechen schon einmal den Hahn zugedreht. 82 Tage lang. Damals war der Benzinpreis auf über zwei Mark pro Liter gestiegen. Heute beträgt er eine Mark dreißig. Wie lange die Vorräte reichen, will Belcev nicht verraten. Mirce Jovanovski, Wirtschaftsredakteur bei Nova Makedonia, spricht von drei Monaten.

52.000 Tonnen von Makedonien bereits bezahltes Rohöl sind zur Zeit im griechischen Hafen von Thessaloniki blockiert. Alternative Anlieferungswege zur einzigen makedonischen Raffinerie gibt es praktisch keine. Die Strecke vom bulgarischen Schwarzmeerhafen Varna ist viermal länger – vor allem aber führt die Eisenbahnlinie durch Serbien, das weiterhin dem Wirtschaftsembargo der UNO unterliegt. Vom albanischen Adriahafen Durräs führt überhaupt keine Eisenbahn nach Makedonien. „Wer aber transportiert schon Rohöl über die Straße?“ fragt Belcev. Er liefert die Antwort gleich mit: niemand. Die Handelsblockade trifft alle Güter – mit Ausnahme von Lebensmitteln und humanitären Lieferungen. So lagern in Thessaloniki auch 500 Tonnen Eisensilicium, 320 Tonnen Eisenchrom und drei Güterwagen voll Eisennickel, die für Makedonien bestimmt sind, und in dem griechischen Hafen werden demnächst 10.000 Tonnen Zink aus Bolivien und Chile sowie 11.000 Tonnen Koks vor allem aus Polen und Rußland einlaufen. Andererseits kann Makedonien seinen Lieferverpflichtungen nicht mehr nachkommen.

Der Export von 12.000 Tonnen vornehmlich für Rußland bestimmten Stahlprodukten ist blockiert. Die große Stahlfabrik bei Skopje hat schon die Hälfte der Beschäftigten entlassen. Die anderen sorgen dafür, daß die Kapazitäten der Anlagen wenigstens zu zehn Prozent ausgelastet werden.

Nicht viel besser sieht es im Chemiesektor aus. In Thessaloniki liegen 18.000 Tonnen Phosphate fest. Sie stammen aus Israel, aber auch aus Jordanien, Syrien und Chile. Die Zletovo-Fabrik von Titov Veles benötigt sie dringend zur Kunstdüngerherstellung. Käme die Produktion ernsthaft in Verzug, hätte das für die Landwirtschaft einschneidende Folgen.

Früher exportierte die makedonische Industrie 60 Prozent ihrer Produkte (im Stahlsektor sogar 75 Prozent) in die anderen jugoslawischen Republiken. Für den Binnenstaat, der nach dem Norden nicht liefern darf und nach dem Süden nicht mehr liefern kann, bahnt sich eine Katastrophe an. Zwar wird jetzt fleißig an einer West- Ost-Autobahn quer durch Gebirgszüge vom albanischen Durräs über Skopje und Sofia nach Istanbul gebaut, „doch die natürliche Verbindung“, sagt Belcev, „ist eben die Nord-Süd-Achse“. Die Topologie gibt ihm recht.

In dieser angespannten Situation ist auch Miroljub Sukarov nicht zu beneiden. Er ist Leiter der im vergangenen Oktober gegründeten „Agentur für die Transformation von Unternehmen mit gesellschaftlichem Kapital“. Eine makedonische Version der Treuhandanstalt. Sein Job ist es, weite Teile der Industrie und des Dienstleistungssektors zu privatisieren. Insgesamt sind das 1.468 Betriebe.

Die gesetzlichen Bedingungen für dieses Vorhaben sind ausgesprochen gut. Wer ein mittelgroßes Unternehmen übernehmen will, bezahlt 20 Prozent des geschätzten Werts und erhält sofort alle Kontrollrechte. Die restlichen Anteile, die ihm 51 Prozent sichern, muß er dann innerhalb von fünf Jahren aufkaufen. Bei Großunternehmen liegt der Ankaufpreis sogar bei nur 10 Prozent. Ausländer sind Inländern gleichgestellt. „Wir haben schon eine ganze Reihe von Interessenten aus Deutschland, Österreich, Dänemark, Japan, Südkorea, den USA, der Türkei und der Schweiz“, verrät Sukarov, „doch unter diesen Umständen halten die sich erst mal zurück.“ Wer will schon auf so unsicherem Gelände investieren?

Es geht sowieso alles viel zu langsam. An die 400 Betriebe – Schlüsselindustrien, Ausbeutung natürlicher Ressourcen, bestimmte Dienstleistungen – dürfen leider, so meint er, nach der bestehenden Gesetzgebung vorläufig nicht privatisiert werden. Ljubco Georgievski, Präsident der „Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation“ (IMRO), der stärksten Partei des Landes, die allerdings in der Opposition ist, fordert eine ungehemmte Privatisierung. Der 30jährige Dichter war im November 1990 mit 27 Jahren Vizepräsident des Landes geworden und hatte dieses Amt ein halbes Jahr später niedergelegt. Er hält alle staatlichen Institutionen für kommunistisch durchseucht. Deshalb stagniere alles.

Doch die Stärke der IMRO liegt nicht in ihrer wirtschaftlichen Programmatik, sondern in ihrer Klarheit. Sie ist klar antikommunistisch. Das läßt sich von der Regierungspartei des Präsidenten Kiro Gligorov, eines gewendeten Reformkommunisten, gewiß nicht sagen. Die IMRO ist von Anfang an klar für ein unabhängiges Makedonien eingetreten. Da hielt Gligorov noch die Option einer demokratisierten jugoslawischen Föderation offen. Für die IMRO ist eindeutig, daß Makedonien der Staat der Makedonier ist und daß Makedonisch die einzige Amtssprache, auch für die fast 30 Prozent Albaner, zu sein hat.

Den ihm oft unterstellten makedonischen Irredentismus aber weist Georgievski ebenso klar zurück. Gebietsansprüche habe man keine – weder gegenüber den Pirin-Makedoniern in Bulgarien noch gegenüber den Ägais-Makedoniern in Griechenland. Bleibt der Zankapfel des Sorgerechts, das Makedonien in seiner neuen Verfassung für die Makedonier in den Nachbarstaaten in Anspruch nimmt. Sowohl Bulgarien, das zwar Makedonien als Staat anerkannt hat, als auch Griechenland leugnen die Existenz einer makedonischen Nation und sprechen von Westbulgaren beziehungsweise von slawophonen Griechen. „Insofern verstehe ich nicht, weshalb sich die Griechen da so aufregen“, folgert Georgievski bauernschlau, „wenn es dort keine Makedonier gibt, brauchen sie ja auch keine Angst vor einer Einmischung zu haben.“ Auf internationalen Druck hin hat Makedonien zudem in einem Verfassungszusatz, der selbst von der IMRO gutgeheißen wurde, klargestellt, daß es sich bei der Wahrnehmung des Sorgerechts nicht in die souveränen Rechte und inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen werde.

Bei der „Sonne von Vergina“, dem offiziellen Staatsemblem, ließe sich vielleicht noch ein Kompromiß erzielen. Wie sich Makedonien aber von seinem Namen verabschieden soll, ist schwer vorstellbar. „Slawo-Makedonien“ jedenfalls, wie mitunter vorgeschlagen, würde die albanischen Makedonier, die ja nicht slawisch sind, ausgrenzen. Und schließlich ist schon der vorläufig akzeptierte UNO- Kompromiß „Frühere Jugoslawische Republik Makedonien“ eine Zumutung. Zwar gibt es in Skopje noch den Marschall-Tito-Platz und sogar einen Boulevard der Jugoslawischen Volksarmee, doch bei vielen Makedoniern ruft der Name Jugoslawien schlechte Erinnerungen wach. Wer möchte es dem jüngsten Staat der Weltgemeinschaft also verdenken, daß er den umständlichen Zusatz in seinem Namen so schnell wie möglich loswerden will? Mit Hypotheken aus der kommunistischen Zeit ist er ohnehin mehr als genug belastet.

Thomas Schmid, DIE TAGESZEITUNG, 11.03.1994