ARMAND GATTI – Die Loulous singen

Vom deutschen Kernphysiker Werner Heisenberg, der für Hitler einst die Atombombe bauen sollte, hörte Armand Gatti zum erstenmal in den Wäldern der Corrèze. Dort, im Westen des französischen Zentralmassivs, hatte sich der 18jährige Sohn eines anarchistischen Straßenkehrers und einer Hausfrau, beide aus dem Piemont, im Winter 1942 der Résistance gegen die Nazis angeschlossen. Fünf Bücher hatte er mit in den Maquis genommen, eines davon vom dänischen Physiker Niels Bohr, und da kam auch der Heisenberg vor. Gatti geriet schon 1943 in die Fänge der Gestapo, wurde zum Tod verurteilt, dann aufgrund seines jugendlichen Alters begnadigt und in das KZ Neuengamme bei Hamburg deportiert. Dort kam er zum erstenmal in Kontakt mit dem Theater.

„Drei Juden, die wir die drei Rabbiner nannten, zogen mit einem Sketch von Baracke zu Baracke“, erinnert sich der 75jährige, „der erste behauptete, das Lager sei eine ausgezeichnete Sache, der zweite erklärte den verdutzten Zuhörern, es sei eine ausgezeichnete Sache, weil man da nicht sterbe, und der dritte löste das Rätsel: Man komme nämlich schon als Toter an.“ Gatti aber verließ das KZ als Lebender: Er flüchtete aus dem Lager, schlug sich nach Frankreich durch, gelangte von dort nach England, wo er sich zum Fallschirmjäger ausbilden ließ, um auf Seiten der britischen Armee erneut gegen die Nazis in den Krieg zu ziehen.

Das Thema des Widerstands ließ Gatti nicht mehr los sowenig wie die Welt des Theaters. Nun sitzt er da, ganz in schwarz, wie es sich für einen ordentlichen Anarchisten gehört, springt auf, rauft sich die Mähne, schreit, erteilt Regieanweisungen. Wir befinden uns in Genf, in einer verlassenen Fabrik, und Gatti übt mit seiner Gruppe das Stück „Die Ungewißheiten Werner Heisenbergs“ mit dem änigmatischen Untertitel „Blätter eines Entwurfs, um im Sturm die Tränen der Kathedralen aufzufangen und um auf einem Spielfeld Jean Cavaillès adieu zu sagen“. Die Uraufführung fand dieser Tage statt.

Der Physiker Werner Heisenberg, der mit seiner Entdeckung der Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelationen den Schlüssel zur epistemologischen Deutung der Quantenmechanik und zu ihrer Vereinigung mit Einsteins Relativitätstheorie lieferte, war unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Cheftheoretiker des deutschen Atomprojekts. Zwar stand er im Kontakt zu Männern, die dem Widerstand um Goerdeler, Beck und Stauffenberg angehörten, lehnte aber auf deren Anfrage hin eine Beteiligung an der Verschwörung explizit ab. Aber immerhin überzeugte Heisenberg, dem eine Atombombe in den Händen Hitlers zweifellos eine unerträgliche Vorstellung war, Rüstungsminister Albert Speer, daß die Entwicklung der Waffe etliche Jahre erfordere und die wirtschaftlichen Ressourcen des Reichs übersteige.

Nein, ein Widerständler war Heisenberg wohl nicht, auch wenn er die „Jüdische Physik“ Albert Einsteins gegen die „Deutsche Physik“ Philipp Lenards verteidigte, auch wenn er seinem Mentor Niels Bohr, der zu alliierten Kreisen Kontakt hatte, 1941 im besetzten Dänemark die Existenz eines geheimen deutschen Atombombenprojekts verriet und auch wenn er sich für den von einem deutschen Militärgericht im besetzten Frankreich zum Tod verurteilten französischen Mathematiker und Widerstandskämpfer Jean Cavaillès eing esetzt hat. Doch Gatti geht es weniger um die umstrittene persönliche Geschichte Heisenbergs zwischen Kollaboration und Widerstand als vielmehr um die philosophischen Positionen des Physikers, die dieser vor allem in einem Manuskript 1942 niedergelegt hat, das erst 1989 posthum unter dem Titel „Ordnung der Wirklichkeit“ veröffentlicht wurde.

Es sind denn auch hochkomplexe philosophische Zusammenhänge wie die Folgen der modernen Physik für die Erkenntnistheorie, die Gatti in der Halle einer Genfer Fabrik, die früher physikalische Instrumente erzeugte, seinen Schauspielern zu erklären versucht. Es sind alle „Loulous“, wie Gatti sie zu nennen pflegt. „Loulou“ ist ein Kosewort und bedeutet so viel wie „Streuner“. Früher, in den 60er Jahren, als Gatti zeitweilig das Théâtre National Populaire in Paris leitete, inszenierte er eigene Stücke mit professionellen Schauspielern.

Damals entstand „Das imaginäre Leben des Straßenkehrers Auguste G.“, eine Hommage an seinen Vater, der nach Auseinandersetzungen mit der Polizei anläßlich eines Streiks an seinen Verletzungen gestorben war. Es folgten „Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg“ (über das Überleben der Überlebenden der KZs), „Öffentlicher Gesang vor zwei elektrischen Stühlen“ (über die Hinrichtung der italienischen Emigranten Sacco und Vanzetti in den USA), „Ein Mensch allein“ (über die Unterdrückung im kommunistischen China) und „Chroniken eines provisorischen Planeten“, um nur die wichtigsten Stücke zu nennen.

In Deutschland wurde Gatti erst mit „Die Leidenschaft des General Franco“ bekannt. Das Stück über den spanischen Diktator wurde in Frankreich von De Gaulle auf Intervention Francos hin verboten. Das Drama wurde 1967 in Kassel uraufgeführt. Hunderte spanischer Gastarbeiter waren in die hessische Stadt gereist, um das Verbotene zu sehen und nach Ende der Aufführung begeistert die Bühne zu stürmen. Gatti hatte sein Publikum erreicht. 1969 siedelte er für sechs Jahre nach Berlin um und spielte dort vor allem am Forum Theater. „Berlin war für mich eine ausgesprochen interessante Zeit“, sagt Gatti heute, „ich lernte Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof kennen.“ Auch sie gehören für ihn selbstverständlich zum Widerstand.

Nach mehrjähriger Pause meldete sich Gatti Mitte der 80er Jahre im Theater zurück. Er hatte eine radikale Entscheidung getroffen. Fortan verzichtete er auf Berufsschauspieler.Und so üben nun in der Genfer Fabrikhalle seine Loulous das Heisenberg-Stück: Cathy, die Hausbesetzerin aus Genf; Samir, der Iraker aus Kerbela, dem Zentrum der oppositionellen Schiiten; Sarah mit dem Pinsel in ihrem schwarzen Haar, die singt, als ob sie eine langjährige Ausbildung genossen hätte; Philippe aus dem karibischen Martinique; Carlos, der Bürgermeister einer kolumbianischen Kleinstadt war, bis er vor dem Terror paramilitärischer Banden fliehen mußte; Bastien, der arbeitslose Belgier, der nebenbe i einen Videofilm über die kunterbunte Schauspielertruppe dreht und sich mit der Quantenmechanik herumschlägt; Felix, ein Bantu aus Zentralafrika, der 15 Jahre lang Polizist und noch nie in einem Theater war.

Gatti sieht sich in der Tradition des aufrührerischen Aufklärers: „Es geht um ein Abenteuer des Geistes, nicht um die Herstellung eines Produkts. Zwei Sachen verschwinden: die Schauspieler und die Zuschauer. Sie werden mich fragen: Was bleibt? Ich sage: das Wesentliche.“ Das Wesentliche ist für Gatti, der vor allem Poet ist, das Wort. Das Wort will er jenen zurückgeben, die nie zu Wort kommen, auf die niemand hört. „Der Kampf um das Wort war immer das Fundament meines Abenteuers“, sagt Gatti, dessen Theaterfabrik in Paris den Namen „La parole errante“ „das umherirrende Wort“ trägt, „nicht das Wort als Werkzeug, das erklärt oder kommentiert, nein, das Wort, das den Sinn schafft, ihn befruchtet und begründet, das Wort der Poesie.“ Es sind schwer verständliche und vor allem mehrdeutige Sätze.

Dahinter steckt Absicht. „Die Poesie ist der Ort, wo die Wörter nicht exekutiert werden, sobald sie mehrere Bedeutungen ertragen müssen, sondern wo die Wörter ihren Reichtum aus der Vielzahl von Bedeutungen, die sie haben, erst gewinnen.“ Die Laienschauspieler hören zu, versuchen zu verstehen, fragen nach, und mitten auf der Bühne läuft der schwarze Hund des Regisseurs. Gatti beschwört seine Zuschauer mit eindringlicher Geste, redet von der Funktion des Diskurses und tätowierten Juden. Hinter ihm verkündet ein großer Schriftzug: „Die Realität des Paradoxon oder wenn die Heuchelei die Aufrichtigkeit deportiert.“ Im Chor singen die Loulous: „Die Quantenmechanik ist eine leere Bühne. Ihr muß das Element der Symmetrie hinzugefügt werden.“

Diejenigen, die solche Sätze vielleicht erklären könnten, arbeiten nur wenige Kilometer entfernt von der Fabrikhalle, im CERN, dem europäischen Atomforschungszentrum bei Genf. Gatti hat versucht, die Kernphysiker ins Theater mit einzubeziehen. Von den 18 Wissenschaftlern, die gewillt waren, zum Gelingen des Heisenberg-Stücks beizutragen, sind fast alle abgesprungen. Ihre Rolle sei ihnen nicht klar geworden, sagt der Physiker Michel Beno, Personalchef bei CERN, der bei der Theatergruppe ab und zu auftaucht und eine Nebenrolle einnimmt. „Wissenschaftler sind eine präzise Sprache gewohnt. Selbst Heisenbergs Begriff der Unschärferelation ist für uns Physiker ein scharfer Begriff.“

Mit Gatti, der die Vieldeutigkeit der Worte liebt, habe es da hitzige Debatten gegeben, sagt Beno. Die CERN-Physiker hätten Heisenberg nie wirklich verstanden, behauptet Gatti seinerseits. Aber immerhin haben sich fünf Wissenschaftler des Atomforschungszentrums bereit erklärt, mit den Loulous fünf Kurzfilme eine Mischung von Dokumentation und Fiktion zu produzieren, die zusammen mit einer Ausstellung und kurzen Bühnenstükken auf dem CERN-Gelände gezeigt werden.

Es ist schwer zu sagen, was das Theater, bei dem ein Handlungsablauf nicht erkennbar ist, das auf Provokation und Assoziation setzt, für die Loulous bedeutet. Jedenfalls fühlen sie sich vom alten Widerstandskämpfer und großen Theatermann ernst genommen, herausgefordert. Oft singen sie kryptische Sätze wie „Die Kathedrale möge Apokalypse sein in ihrem Mantel eines irdischen Paradieses“. Gatti erklärt dann, was eine Apokalypse ist und daß sich die Partisanen der Résistance ungestört oft nur in Kathedralen treffen konnten.

Andere Lieder bedürfen weniger Erklärungen, zum Beispiel jenes des jüdischen Dichters Friedrich Gundolf, das die frankophone Gruppe auf deutsch singt und dessen letzte Strophe lautet: „Die Stunde kommt, da man dich braucht/Dann sei du ganz bereit/Und in das Feuer, das verraucht/Wirf dich als letztes Scheit.“ Es sei das Lied der Weißen Rose, der Widerstandsgruppe der Geschwister Hans und Sophie Scholl, beide 1943 hingerichtet, sagt Gatti. Und er liest vor: „Deshalb müssen sich jetzt die verbünden, die noch die weiße Rose kennen, oder die den Klang der Silbersaite vernehmen können.“

Es ist ein Zitat aus Heisenbergs Manuskript von 1942. Neben dem Grab, in dem in einer Ecke des Friedhofs der nordfranzösischen Stadt Arras 1944 Jean Cavaillès verscharrt wurde, blühte nach Aussagen der Schwester des hingerichteten Widerstandskämpfers ein wilder Strauch weißer Rosen. Ein Zufall? Armand Gatti schaut fragend in die Runde, verrührt seine knochigen Hände, was soviel heißt wie: „Da seht ihr es.“ Der Hund bellt. Die Loulous schweigen.

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 10.07.1999