ANKLÄGERIN
Böse Zungen sprechen von einer Flucht. Das ist gewiss übertrieben. Wahr aber ist, dass die Schweizer Bundesanwältin Carla Del Ponte als Jägerin von Mafiosi und Geldwäschern weltweit zwar einen guten Ruf genießt, ihre Reputation in der Heimat hingegen ziemlich ramponiert ist. Jedenfalls scheint man in der Schweiz nicht sonderlich unglücklich darüber zu sein, dass sie nun nach Den Haag zieht. Am heutigen Mittwoch wird sie als Chefanklägerin des von den Vereinten Nationen eingerichteten Internationalen Strafgerichts für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien und Ruanda die Nachfolge von Louise Arbour antreten. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Carla Del Ponte zum ersten Mal bekannt, als die Pizza-Connection der italienischen Mafia im Schweizer Kanton Tessin vor Gericht verhandelt wurde. Die forsche Untersuchungsrichterin wurde bald danach Staatsanwältin. In dieser Funktion arbeitete sie eng mit dem italienischen Ermittlungsrichter Giovanni Falcone zusammen, der von der Mafia 1992 ermordet wurde. Del Ponte entkam 1989 einem Attentat im Hause Falcones nur knapp. Während Schweizer Minister in Bern bis heute keinen Begleitschutz brauchen, konnte sich die Staatsanwältin schon damals nicht ohne Leibwächter bewegen.
Einen großen Karrieresprung machte Del Ponte 1994. Sie wurde Bundesanwältin, oberste Anklägerin der Eidgenossenschaft. Als solche ermittelte sie auch gegen russische Mafiosi und gegen Raul Salinas, den Bruder des damaligen mexikanischen Präsidenten, und dessen Ehefrau, denen sie vorwarf, Drogengelder in der Schweiz gewaschen zu haben. Da steckte sie aber auch eine ihrer ersten Niederlagen ein: Mit der Beschlagnahmung von 100 Millionen Dollar, die auf Schweizer Konten des mexikanischen Ehepaars lagerten, habe sie ihre Befugnisse überschritten, rügte das Bundesgericht.
Im Übrigen mussten unverhältnismäßig viele der von ihr eingeleiteten Verfahren mangels Stichhaltigkeit oder wegen Formfehlern wieder eingestellt werden. Als sie einmal aber ein wirklich großes Tier der Mafia hinter Gitter gebracht hatte, Sergej Michailow, den Führer der Solnzewo-Bande, war es gewiss nicht ihre Schuld, dass der wieder freikam. Die russischen Behörden gaben entscheidendes Beweismaterial nicht frei.
Mag sein, dass Del Pontes hartnäckiger Kampf gegen die Geldwäsche einigen Bankiers auf die Nerven ging. Auch als sie mit der Klüngelwirtschaft in der eigenen Behörde aufräumte, verschaffte sie sich gewiss nicht nur Freunde. Am meisten Feinde verschaffte sie sich aber wohl mit dem Abhören von Telefonen in den Redaktionen von mindestens drei Zeitungen. Damit wollte sie die Quellen von Indiskretionen aus ihrem Amt überführen. „In der Schweiz wird sie als oberste Anklägerin vorab in Erinnerung bleiben, weil sie aus Mücken Elefanten machte, aus Presseleuten Verdächtige und aus Hausdurchsuchungen gutes Dorftheater“, resümierte die liberale „Weltwoche“.
Zwischen ihrer Ernennung zur Chefanklägerin in Den Haag am 11. August und ihrem Amtsantritt purzelten ihr noch zwei dicke Brocken ins Haus: Der Fall der Tessiner Firma Mabetex, die Boris Jelzin und seinen Töchtern Kreditkarten geschenkt und den Finanzchef des Präsidenten mit einer Million Dollar bestochen haben soll, und der Fall Bellasi, jenes Agenten, der eine geheime Waffenansammlung anlegte, um angeblich im Auftrag des Nachrichtendienstchefs eine geheime Armee auszurüsten.
Mit der 52 Jahre alten Tessinerin kommt nun in jedem Fall eine erfahrene Staatsanwältin an die Spitze des Tribunals. Sie übernimmt 778 Mitarbeiter, ein Jahresbudget von knapp 100 Millionen Dollar, 91 öffentliche Anklagen, eine unbekannte Anzahl geheim gehaltener Anklagen und 25 Häftlinge. Erst acht Angeklagte wurden in Den Haag verurteilt. Einer davon rechtskräftig.
Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 15.09.1999