„Besser ist es hundert Freunde zu haben als hundert Rubel“, sagt ein altes russisches Sprichwort. Das gilt erst recht, wenn man so viel Feinde hat wie Dododjon Atovulloev. Als russische Polizisten den tadschikischen Journalisten vor einem Jahr bei einem Zwischenhalt auf dem Flughafen in Moskau festnahmen, um ihn in seine Heimat, wo ihm die Todesstrafe drohte, abzuschieben, alarmierten seine Freunde die Weltöffentlichkeit. Der damalige Moskauer Studioleiter der ARD, Thomas Roth, schaltete Freimut Duve, den Medienverantwortlichen der OSZE, ein, dieser rief Joschka Fischer an, und auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac machte Druck, bis Atovulloev nach sieben Tagen frei kam. Er flog sofort nach Deutschland zurück, wo er bereits seit einem Monat im Exil lebte, als Gast der „Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“. Das war im Juli 2001.
Nun hat die tadschikische Staatsanwaltschaft die Anklage wegen versuchten Umsturzes, Beleidigung des Staatsoberhaupts und Unruhestiftung überraschend zurückgezogen. Doch Atovulloev, der noch immer in der Hansestadt wohnt, hat Angst vor einer Rückkehr in seine Heimat. Immerhin wurden im zentralasiatischen Land in den vergangenen zehn Jahren über 60 Journalisten ermordet. „In Tadschikistan herrscht ein Kartell aus ehemaligen Kommunisten, einfachen Kriminellen und Generälen der früheren islamischen Opposition“, sagt der gefährdete Publizist, „und es gibt viele, die mit mir eine Rechnung offen haben.“ Die Regierung will ihn nun also nicht mehr behelligen. Aber was heisst schon Sicherheit in einem Land, in dem vier Minister bei einem Frühstück wenige Kilometer ausserhalb der Hauptstadt Duschanbe von Spezialeinheiten des Innenministers umzingelt wurden, weil sie in dessen „Territorium“ eingedrungen waren? Wo hört der Machtbereich der Regierung auf und beginnt jener der Warlords, Drogenhändler und Waffenschieber?
Dododjon Atovulloev ist ein schmächtiger Mann, 47 Jahre alt, freundlich, ruhig und gelassen. Die Lachfalten geben seinem Ausdruck etwas Verschmitztes. Man kann sich schon vorstellen, dass so einer die Herrscher Tadschikistans zur Weißglut bringt. Schon 1987, zu sowjetischen Zeiten also, hatte der Journalist einen Streik organisiert, als aufgrund seiner bissigen Artikel nicht er selbst, sondern sein Chefredakteur entlassen wurde. Der Protest kostete ihn selbstverständlich die Arbeitsstelle. Drei Jahre später, als Tadschikistan unabhängig wurde, gründete Atovulloev seine eigene Wochenzeitung, die „Tscharogi Ruz“ („Tageslicht“). Sie war schon bald das auflagenstärkste Blatt des Landes, zahlte die höchsten Gehälter, engagierte die besten Journalisten und wurde schnell ungeheuer populär. Doch 1992 brach ein Bürgerkrieg aus, der fünf Jahre dauern sollte. Mit Hilfe der russischen Armee, die noch heute in der Nähe seines Präsidentenpalasts stationiert ist, kam schon bald nach Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen Emomali Rachmonow, bis dahin Leiter einer Kolchose, an die Macht – und mit ihm eine Clique von Mafiosi und Verbrechern. Die Redaktion von „Tscharogi Ruz“ wurde verwüstet, und die Redakteure, bedroht von Todesschwadronen, gingen einer nach dem andern ins Exil.
Auch Dododjon Atovulloev setzte sich ab. Über Kasachstan nach Moskau, wo er nun seine „Tscharogi Ruz“ als Exilzeitschrift herausgab. Erbarmungslos geißelte er Nummer für Nummer die Verbrechen der tadschikischen Machthaber, ihre Verwicklung ins Drogengeschäft und ihre Kollusion mit islamistischen Freischärlern, die von Tadschikistan aus ins benachbarte Kirgistan einfielen. Doch nach Wladimir Putins Machtübernahme wurde es für freie Journalisten auch in Moskau immer ungemütlicher. Und als Atovulleov von Konfidenten aus Rachmonows Umfeld die Nachricht erhielt, dass die tadschikische Regierung sich an die russische Mafia gewandt habe, um ihn zu eliminieren, versteckte er sich einige Monate lang, floh aber schon bald – zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern – nach Deutschland.
Drei Nummern seiner Zeitschrift hat der unbeugsame Journalist nun schon in Hamburg redigiert. Über Internet erhält er Beiträge von Journalisten aus Tadschikistan und den andern zentralasiatischen Republiken. Gedruckt wird „Tscharogi Ruz“ weiterhin in Moskau, wo eine große exiltadschikische Gemeinde lebt und einen Teil der Auflage noch immer in die Heimat schmuggelt, obwohl die Zeitschrift inzwischen auch über www.charogiruz.ru im Internet abrufbar ist. Gerne würde „Dodo“, wie ihn seine Freunde nennen, in seine Heimat zurückkehren. Doch er hat Angst vor Killerkommandos. „In Tadschikistan regiert eine Allianz von Kommunisten und Islamisten. Die demokratischen Kräfte sind ausradiert. Es gibt nur noch eine einzige kritische Stimme: meine Zeitung.“ Atovulleov weiss, dass er in seiner Heimat hohes Ansehen genießt. Viele haben großen Respekt vor seiner Zivilcourage. Er ist prominent. Und das mag auch ein gewisser Schutz sein. Vielleicht hat er sich deshalb im November 1999 sogar in die Höhle des Löwen gewagt.
Damals ließ ihm Präsident Rachmonow ausrichten, er wünsche ihn zu sprechen. Der Journalist flog nach Duschanbe. Vier Stunden habe das Gespräch gedauert, berichtet er, der Präsident habe ihm ein Ministeramt angeboten, wenn er vom Journalismus lasse. „Dodo“ getraute sich nicht, offen abzusagen, sondern meinte vorsichtig, er wolle noch einmal eine Nacht darüber schlafen. Danach traf er sich auf Bitte des Präsidenten mit Ghaffar Mirzauf, dem General der Präsidialgarde, den er in seiner Zeitung der Korruption, des Machtmissbrauchs und der Verwicklung in Mord und Plünderung bezichtigt hatte. „Ich habe das Leben des Generals ein Jahr lang recherchiert“, sagt Atovulloev, „und nun sass er vor mir, schrie mich an, haute ständig mit der Faust auf den Tisch und behauptete, wegen meines Artikels könnten seine Kinder in der Schule sich nicht mehr blicken lassen. Und dann fauchte er: ‚Wenn du nicht Gast des Präsidenten wärst, würde ich dich auf der Stelle erschiessen. Aber pass auf, mein Arm reicht bis nach Moskau. Wenn du weiter über mich schreibst, wirst du sterben, und natürlich werde ich an deinem Grab weinen.‘“
Dododjon Atovulloev schlief die ganze Nacht nichts und liess sich vorsichtshalber von Freunden um fünf Uhr früh zum Flughafen begleiten, wo er, entgegen seinen ursprünglichen Plänen, die erste Maschine bestieg, die nach Moskau flog. In der nächsten Ausgabe von „Tscharogi Ruz“ deckte er die Verwicklungen des Präsidenten in den Drogenhandel auf.
Das war vor drei Jahren. „Wenn Rahmonow den freien Vertrieb meiner Zeitung erlaubt“, meint Atovulloev zum Abschied, „kann ich mir vorstellen, zurückzukehren. Schliesslich will ich nicht Minister werden, sondern Journalist bleiben – ohne Maulkorb.“
Thomas Schmid, „Frankfurter Rundschau“, 16.07.2002
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