BENGASI. Dass er eine Revolution auslösen würde, hat der Mann, der die Revolution ausgelöst hat, selbst am allerwenigsten erwartet: Fathi Tarbel. Für den 17. Februar hatten libysche Blogger und Dissidenten im Ausland zu einem „Tag des Zorns“ aufgerufen, um der Toten zu gedenken, die fünf Jahre zuvor Polizeikugeln zum Opfer gefallen waren. In einer dänischen Zeitung war damals der Prophet Mohammed karikiert worden. Das libysche Regime hatte danach für den 17. Februar 2006 eine Demonstration angeordnet, die sich überraschend gegen Gaddafi richtete. Nach offiziellen Angaben wurden 15 Personen erschossen. Wahrscheinlich waren es doppelt so viele. Das liegt fünf Jahre zurück.
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nzwischen hat im westlichen Nachbarland Tunesien Mitte Januar dieses Jahres die Jasmin-Revolution gesiegt, in Ägypten, beim Nachbarn im Osten, wurde Hosni Mubarak gestürzt. Und so nahm die libysche Polizei am 15. Februar, zwei Tage vor dem „Tag des Zorns“, vorsichtshalber Fathi Tarbel in Haft. Prophylaktisch. Aber wegen seiner Verhaftung gingen die Menschen in Bengasi zwei Tage früher als gerufen auf die Straße. Deshalb brachen Unruhen aus, die zur „libyschen Revolution“ führten.
Heute sitzt Fathi Tarbel im Nationalen Übergangsrat, der provisorischen Regierung in Bengasi, die 30 Mitglieder zählt, von denen aber namentlich nur acht bekannt sind. „Die Namen der übrigen werden aus Sicherheitsgründen geheimgehalten“, sagt Tarbel. Wo das Gremium tagt, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Aber es debattiert oft bis tief in die Nacht hinein. Tarbel hat einen Interviewtermin in der Lobby eines Hotels um Mitternacht angeboten, kommt gegen ein Uhr früh und redet bis halbdrei. Er ist ein zurückhaltender Mann. Dass er Charisma hat, kann man nicht behaupten. Beim Gespräch starrt er meistens auf die Tischplatte. Doch dann lacht er immer wieder überraschend herzlich und laut auf.
Reden kann Tarbel. Er ist Anwalt. Seine Karriere begann 2008. Damals setzte er sich für die Angehörigen eines Massakers ein, das bereits zwölf Jahre zurücklag. Am 29. Juni 1996 hatte Gaddafi nach einer Revolte in einem Gefängnis bei Tripolis 1270 Häftlinge erschießen lassen. Viele von ihnen stammten aus Bengasi. Der Anwalt selbst verlor einen Bruder, einen Schwager, einen Cousin und fünf enge Freunde.
Fathi Tarbel, geboren 1972 in Bengasi, stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater verkaufte im Sommer Eis und im Winter Sandwichs. „Sechs Monate nach seinem Tod wurden meine zwei Brüder festgenommen“, berichtet er, „ich war gerade sechzehn Jahre alt und nun Familienoberhaupt.“ Die Brüder kamen nach Tripolis ins Gefängnis. Auch er selbst war von 1998 bis 2000 wegen enger Kontakte zu Dissidenten im Ausland, die er nie hatte, in Haft.
Im Jahr 2008 organisierte Tarbel – er war ein Jahr zuvor gerade Rechtsanwalt geworden – die Familienangehörigen der Opfer der Gefängnisunruhen von 1996. Bald standen sie jeden Sonnabend vor dem Gerichtsgebäude im Zentrum der Hauptstadt und hielten Fotos ihrer erschossenen Ehemänner und Söhne in den Händen. Ihren Mut bezahlten einige mit Gefängnis, viele mit Verlust des Arbeitsplatzes, alle mit Schikanen. Oft richteten sich diese gegen ganze Familien.
Nach und nach kam die Wahrheit über das Massaker trotzdem ans Licht: Die Häftlinge – vor allem Islamisten, einige von ihnen Befürworter eines bewaffneten Dschihad, andere eher moderat, aber auch Kommunisten und Linksradikale – hatten bessere Gefängnisbedingungen und mehr Besuchsmöglichkeiten gefordert, einen Aufstand organisiert und einen Polizisten, der besonders berüchtigt für grausame Folterung war, zur Geisel genommen und schließlich getötet. Gaddafi gab den Forderungen nach. Die Häftlinge kehrten in ihre Zellen zurück. Zwei Tage später wurden sie erschossen: 1270 Tote an einem einzigen Tag.
Inzwischen hat das Regime die Morde eingestanden. Die Regierung willigte vor zwei Jahren ein, für jeden Toten 200000 Dinar zu bezahlen, umgerechnet 120000 Euro. „Ich vertrat 211 Familien von Bengasi“, sagt Tarbel, „etwa 60 Prozent nahmen das Angebot an.“ Der Rechtsanwalt selbst wies es zurück. „Ich will wissen, wer meinen Bruder, meinen Schwager, meinen Cousin, meine Freunde erschossen hat, wer die falschen Sterbeurkunden ausgestellt, wer uns belogen hat.“ Viele Frauen hofften über viele Jahre, dass Gaddafi ihre Männer, ihre Söhne begnadigen würde. Umsonst, berichtet Tarbel. Dann bricht er in Schluchzen aus. „Die Tochter meines Bruders war gerade zwei Wochen alt, als sie ihn abholten, sie konnte nie Papa zu ihm sagen.“
Fünfmal saß Tarbel im Gefängnis. Als er am 15. Februar dieses Jahres wieder abgeholt wurde, versammelten sich die Angehörigen der Opfer des Massakers von 1996 vor dem Gebäudes des „Volkskomitees“, der lokalen Regierung, und skandierten Parolen gegen das Regime. Immer mehr Jugendliche schlossen sich ihnen an. Die Polizei setzte Tränengas ein. Schließlich ließ sie den Rechtsanwalt frei. Doch die Unruhen waren nicht mehr zu stoppen. Bald schoss die Polizei mit scharfer Munition. Auch das half nicht mehr. Soldaten von Gaddafis Armee liefen zu den Aufständischen über. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Gaddafis Spezialtruppen mussten ihre Kaserne in Bengasi räumen. Die Revolution war in einen Krieg gemündet.
Das „Volkskomitee“ löste sich im Nichts auf. Und aus dem Nichts bildete sich der Nationale Übergangsrat, der von Mustafa Abdul Dschalil geführt wird, dem früheren Innenminister, der das Regierungskabinett in Tripolis erst sechs Tage nach dem Beginn der Unruhen verlassen hatte. Tarbel, der Rechtsanwalt und frischgebackene Politiker, ist in der provisorischen Regierung für die Jugend zuständig. Der Rechtsanwalt hat hohen Respekt vor dieser Jugend, die mit Todesmut in einem Teil Libyens die Freiheit erkämpft hat. Er woill nun weiterkämpfen, bis Gaddafi geht.
Und dann? „Danach werde ich heiraten und Kinder machen“, sagt Fathi Tarbel. Es ist der Wunsch nach einem ganz normalen Leben in Freiheit und Würde.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 09.04.2011