HAMBURG. Am 26. März setzte sich Pantelis Pantelouris an den Computer und schrieb einen Brief. „In der für mein Land schwierigsten Phase seiner jüngeren Geschichte wollte ich eigentlich nicht ‚desertieren'“, teilt er seinen lieben Kolleginnen, Kollegen und Freunden mit, aber er müsse „den Anweisungen aus Brüssel folgen und zur Verschlankung des griechischen öffentlichen Dienstes beitragen“. Er werde zu denen gehören, die Berlin verlassen, aber die Stadt immer in ihrem Herzen tragen. Das mag sich pathetisch anhören. Doch es ist keine Floskel. Berlin war Pantelouris‘ erster Zufluchtsort, als in seiner Heimat die Militärdiktatur herrschte, die Oppositionelle in Lager sperren und foltern ließ. Tausende wurden damals ermordet.
Fast drei Jahrzehnte war Pantelouris als Diplomat in Deutschland akkreditiert, zuletzt als Botschaftsrat und Leiter des Presse- und Informationsbüros der Griechischen Vertretung in Berlin. Die beiden letzten Jahre, sagt er, seien die stressreichsten seines Lebens gewesen. Jahrelang habe sich kaum ein Journalist für Griechenland interessiert. Seit Beginn der Krise aber hatte er täglich Dutzende Anfragen zu beantworten. „Die Kenntnisse über Griechenland waren oft sehr sehr bescheiden. Das hat mich überrascht, und dieses Ausmaß an aggressiver und zum Teil beleidigender Berichterstattung hatte ich nicht erwartet.“ Da wurde von den „faulen Griechen“ gesprochen, von Busfahrern des öffentlichen Verkehrs, die 3500 Euro verdienen würden, den Griechen wurde unterstellt, sie gingen alle mit 53 Jahren in Rente. Es kostete Pantelis Pantelouris viel Arbeit und viele Nerven, die unsinnigen Behauptungen mit Lohnlisten und Statistiken zu widerlegen. Es habe aber auch etliche seriöse Journalisten gegeben, räumt er ein, die redlich bemüht gewesen seien, die Probleme Griechenlands zu verstehen.
Im Zuge der Krise wurde das Personal der Botschaft reduziert. So arbeitete Pantelouris zumeist sieben Tage die Woche, oft bis 22 Uhr abends und länger. Gleichzeitig verringerte sich sein Einkommen um 40 Prozent, weil das Gehalt gekürzt wurde und die Auslandszulage nun versteuert werden musste. Seit zwei Monaten ist er in Rente. Die Auslandszulage ist jetzt ganz weggefallen, und die Pension soll nur etwas mehr als die Hälfte des Grundgehalts betragen. Möglicherweise wird sie aber schon bald weiter gekürzt. Und wann sie ausgezahlt wird, ist ungewiss. Viele Pensionäre, die im öffentlichen Dienst gearbeitet haben, warten sei neun Monaten auf die Überweisungen.
Von rebellischer Natur
Kein anderer Berufsdiplomat hat wohl so lange in Deutschland seinen Dienst versehen wie Pantelouris. Gerne wäre der 66-Jährige noch geblieben. Er wollte erst im Dezember in Pension gehen. Doch nun wurde er Opfer der den Griechen aufgezwungenen Sparpolitik. Bald wird er in Hamburg, wo seine deutsche Ehefrau wohnt, die letzten Sachen in den Kombi packen. Nächste Woche fahren sie dann nach Venedig, um sich nach Patras einzuschiffen. Möbel und Bücher lagern bereits in einem Depot in Athen. Sie werden sich in Oxilithos auf der Insel Euböa niederlassen, im Dorf seiner Mutter.
Zum Gespräch in einem Hamburger Café an einem der Hafenarme mit Blick auf die Speicherstadt erscheint Pantelouris in Anzug und Krawatte, in gestreiftem Hemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten. Das rot-weiße Einstecktuch in der Brusttasche gibt dem Sakko eine elegante Note. Das schüttere Haar ist sorgfältig nach hinten gekämmt, der Bart akkurat gestutzt. Pantelouris spricht mit leiser Stimme, langsam und unaufgeregt von seinem aufregenden Leben, in dem sich ein halbes Jahrhundert griechischer Geschichte spiegelt – oder ein ganzes, wenn man hinzurechnet, was er über seine Familie erzählt.
„Mein Vater wurde 1886 auf Zypern geboren, war also Brite“, beginnt Pantelouris seine Lebensgeschichte. Die Mittelmeerinsel war bis 1960 eine britische Kronkolonie, und ihre Bewohner – ob Griechen oder Türken – besaßen nur die britische Staatsangehörigkeit. „Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam er nach Oxilithos, weil in Griechenland Lehrermangel herrschte“, sagt Pantelouris, „und so wurde er, der Brite, der Ausländer, dessen Muttersprache griechisch war, als Dorfschullehrer eingestellt.“ Nebenbei habe er sich an der Universität von Athen zum Gymnasiallehrer für Alt- und Neugriechisch ausbilden lassen. Später studierte er auch Jura und Theologie. Er war Herausgeber, Besitzer und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften. Und er war Gewerkschafter, Linker und Republikaner. Im konservativen Königreich war er damit abgestempelt. Als Strafe für die falsche Gesinnung versetzte man ihn oft auf die entlegensten Inseln.
Auch seine drei Kinder aus erster Ehe, Pantelis Pantelouris‘ Halbgeschwister, alle britische Staatsbürger, waren von rebellischer Natur. Eleni, die im britischen Generalkonsulat in Athen arbeitete, aber auch in der Jugendorganisation der griechischen Widerstandsbewegung aktiv war, wurde während der deutschen Besetzung von der Gestapo als Spionin verhaftet und ins Konzentrationslager Chaidari bei Athen überstellt, kam aber einen Tag vor dem angesetzten Hinrichtungstermin frei.
Elenis jüngerer Brüder Platon unternahm nach dem Einmarsch der Deutschen im besetzten Athen die erste Widerstandsaktion: Er streute mit einer Gruppe von Studenten Nägel vor das Gebäude, in dem die Wehrmacht ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Die Reifen mehrerer deutscher Motorräder platzten. So wie er floh schließlich auch sein älterer Bruder Evagoras vor den Nazis. Der eine schlug sich nach Kairo durch, der andere nach Argentinien. In London trafen sich die beiden wieder – vermittelt über den Suchdienst des Roten Kreuzes. Beide waren unerwünschte Ausländer und durften bis 1974 nicht mehr einreisen. Ihren Vater, der in Griechenland geblieben war, ließen die Griechen – obwohl er einen britischen Pass hatte – nicht ausreisen. Er starb 1965. Seine Söhne aus erster Ehe hat er nie wiedergesehen.
„Mein Vater wollte mich von der Politik fernhalten“, erzählt Pantelouris, der 1945 in Athen als drittes Kind von dessen zweiter Frau geboren wurde. „Nach dem Schicksal meiner drei Halbgeschwister war das durchaus verständlich. Obwohl die Deutschen viel Unglück über seine Familie gebracht hatten, schickte er mich auf die Deutsche Schule in Athen.“ Die Erinnerung an den Terror der Nazis war noch frisch. „Aber mein Vater hatte Goethe, Schiller und Hölderlin gelesen“, sagt Pantelouris. Die Deutschen waren für ihn auch das Volk der Dichter und Denker.
Zu Pantelouris‘ frühesten Kindheitserinnerungen gehören die Razzien. In Griechenland tobte 1946 bis 1949 ein Bürgerkrieg zwischen den Truppen der linken Volksfront und der von Briten und Amerikanern unterstützten Regierungsarmee. „Immer wieder durchsuchten Polizisten unser Haus“, sagt Pantelouris, „mein Vater zeigte seinen britischen Pass. Das hat ihn etwas geschützt.“ Im Urlaub auf Zypern beteiligte sich der junge Pantelis, noch keine zehn Jahre alt, am Widerstand der Griechen gegen die britischen Kolonialherren. „Mein Cousin gehörte zu den Führern der Partisanen, und auf deren Geheiß warf ich antibritische Flugblätter über die Mauer eines Freiluftkinos auf die Zuschauer hinunter.“
In den Sechzigerjahren fehlte Pantelouris auf kaum einer Demonstration in Athen. Er gehörte der Lambrakis-Jugend an, einer Organisation, die der Komponist Mikis Theodorakis zwei Wochen nach dem tödlichen Attentat auf den populären linken Pazifisten Grigoris Lambrakis 1963 gegründet hatte. Die Hintergründe des Attentats, in das vermutlich die obersten Spitzen von Polizei und Gendarmerie verwickelt waren, wurden nie wirklich aufgeklärt. Der Regisseur Costa Gavras widmete sich der Lambrakis-Affäre später in seinem Politthriller“Z“.
Der Film wurde zum Fanal für den Kampf gegen die Militärjunta, die sich am 21. April 1967 an die Macht geputscht hatte. An jenem Tag nahm Pantelouris, der sein Jurastudium als freischaffender Reporter finanzierte, seinen Fotoapparat und ging auf die Straße. Kaum hatte er die ersten Bilder von Panzern und Soldaten geknipst, wurde er schon festgenommen und ins Telegrafenamt gebracht, das als provisorische Arrestanstalt diente. Doch es gelang ihm, sich unter die Angestellten des Amts zu mischen, die das Gebäude verlassen durften, und er konnte entkommen. Am Abend waren in Athen, Thessaloniki, Piräus und Patras bereits über 10000 Menschen in Haft: Parteipolitiker, Gewerkschafter, Minister, Abgeordnete, Schriftsteller, Schauspieler. Pantelouris hatte man nicht einmal registriert.
Schon bald danach hatte er endlich seine erste feste Stelle – in der Redaktion der Tageszeitung To Ethnos (Das Volk). Als das Blatt 1968 ein Interview mit einem inhaftierten Politiker veröffentlichte, wurde der Chefredakteur festgenommen, die Zeitung geschlossen, und Pantelouris war seinen Posten wieder los. Nachdem er unterschrieben hatte, dass er sich im Ausland nicht politisch betätigen werde, erhielt er schließlich einen Pass und durfte ausreisen. Über London, wo er seine beiden Halbbrüder zum ersten Mal sah, kam er nach Berlin.
„Ende 1970 traf ich in Berlin ein“, sagt Pantelouris. Er kannte in der Stadt niemanden, schlief anfangs in Jugendherbergen und fand schließlich für siebzig Mark ein Zimmerchen bei einer alten Dame am Steglitzer Damm. „Eigentlich passte da nur ein Bett hinein.“ Mit allerlei Jobs hielt er sich über Wasser. In Kreuzberg durfte er sogar als Briefträger arbeiten – jedoch erst, nachdem er den Eid auf das deutsche Grundgesetz abgelegt hatte. Die Erinnerung daran amüsiert ihn noch heute. Daneben schrieb er an seiner Dissertation, und gleichzeitig arbeitete er zunächst für den Sender Freies Berlin (SFB), später auch für die griechischen Dienste der Deutschen Welle und des Bayrischen Rundfunks, damals die meist gehörten Auslandssender in Griechenland.
Für seine Berichte und Analysen hatte sich Pantelouris ein Pseudonym zugelegt. In der Regel recherchierte er von Berlin aus, rief seine Gewährsleute in der Heimat an und informierte danach die Griechen über die Lage in ihrem Land. So interviewte er auch den Juraprofessor Georgios Mangakis, der mit dem bewaffneten Widerstand Verbindung hatte und zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Nach Geheimverhandlungen hatte er in einer Maschine der Bundeswehr ausfliegen dürfen. Ab und zu reiste Pantelouris selbst nach Griechenland, meist mit dem Auftrag des SFB, ein harmloses Thema zu bearbeiten. In Wahrheit ging es ihm immer darum, Informationen über Repression und Widerstand unter der Diktatur zu sammeln – für seine Sendungen und für Amnesty International.
Im August 1973 wurde Pantelouris nach einem Aufenthalt in Athen bei der Ausreise festgenommen. Seine heimliche journalistische Tätigkeit war aufgeflogen, sein Pseudonym enttarnt. Der Staatsanwalt verfügte über viele Informationen über ihn, die meisten stammten vom Leiter der griechischen Militärmission in Berlin. Nach drei Tagen Haft kam Pantelouris im Rahmen einer Generalamnestie frei. Und als sich im November 1973 in Athen die Studenten im Polytechnikum verbarrikadierten und einen Radiosender errichteten, über den sie zum Sturz der Diktatur aufriefen, war er schon wieder in Berlin, rief die Studenten an und stellte Sendungen zusammen, die in ganz Griechenland gehört wurden.
Nur zwei Jahre, dann ist Schluss
Nach dem Sturz der Militärjunta im Sommer 1974 reiste Pantelouris nach Athen, um den neuen Erziehungsminister und späteren Ministerpräsidenten Georgios Rallis zu interviewen. Dieser appellierte an seine patriotischen Gefühle und bat ihn, für das neue Griechenland in den diplomatischen Dienst einzutreten und das Pressebüro des Generalkonsulats in Hamburg zu leiten. Pantelouris zögerte. Seine Frau, die damals in Berlin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung arbeitete, war von der Idee nicht gerade begeistert. „Ich versprach ihr: Nur zwei Jahre, dann ist Schluss“, erinnert sich Pantelouris. Es wurden 35 Jahre – davon 28 in Deutschland, der Rest in Wien und im Ministerium in Athen.
Hamburg, Bonn, Frankfurt, München. Pantelouris ist in Deutschland oft umgezogen – manchmal mit, manchmal ohne Familie. Am 1. September 2007 wurde er nach Berlin versetzt, in die Stadt, die er 30 Jahre zuvor verlassen hatte. Viereinhalb Jahre lang hat er in der deutschen Hauptstadt gearbeitet. Nun also geht es zurück.
In Oxilithos, wo sein britischer Vater Dorfschullehrer war und seine zwei Ehefrauen kennenlernte, besitzt Pantelis Pantelouris schon lange ein Sommerhäuschen. Dort wollte er im nächsten Jahr als Rentner mit seiner Frau fest einziehen. Vor einem Jahr hat er begonnen, ein zweites Stockwerk zu bauen – für die drei Kinder und fünf Enkel, die gewiss öfter mal auf Urlaub kommen werden. Nun ist das Haus zwar noch nicht fertig, aber er ist vorzeitig verrentet. „Wir fahren jetzt hin und wollen die Arbeiten forcieren“, sagt er zum Abschied, „es ist ja nicht leicht mit den griechischen Handwerkern.“ Er stockt ein wenig und ergänzt dann: „Die legen doch die Kelle zur Seite, sobald man wegschaut.“ Der Seufzer löst sich in einem Lächeln auf, könnte heißen: So sind sie nun mal, die Griechen. Aber das sagt der Grieche Pantelis Pantelouris nicht.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 25.05.2012